Queeren Juden eine Heimat geben
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Der Verein "Keshet" will queeren Menschen jüdischen Glaubens eine Plattform bieten. Ihr Ziel ist es, sich mit Gleichgesinnten zu vernetzen. Denn viele hätten ihre Glaubensstätte verlassen, weil sie dort keinen Ort für sich sehen.
Ein Queer-Shabbat in einer deutschen Synagoge. Über Hundert Leute sind kürzlich der Einladung von "Keshet" in die liberale Synagoge in der Berliner Oranienburger Straße gefolgt. Bislang hat queeres Judentum im an sich reichen jüdischen Gemeindeleben wenig Widerhall gefunden. "Keshet" will das ändern. Es geht um Sichtbarkeit, sagt Dalia Grinfeld, die Präsidentin der Jüdischen Studierendenunion, die sich nun auch im Vorstand von "Keshet" engagiert:
Grinfeld: "Man muss ein Verständnis schaffen: Was heißt das, queeres jüdisches Leben? Wie kann das aussehen? Welche Formate gibt es und wie können wir als jüdische Gemeinden inklusiv sein für solche Lebensformen, für solche Lebensrealitäten und Familien? Und dafür einen Platz zu schaffen, dass sich queere Juden nicht entscheiden müssen zwischen ihrer jüdischen Identität und ihrer queeren Identität, dass man eben jüdisch und queer sein kann. Dafür sind auch die jüdischen Institutionen verantwortlich zu sagen, ja das geht, ihr seid genauso Teil der Gemeinde."
Keine Beratungsangebote für queere Juden
Was beklagt wird, ist eine Leerstelle und ein Tabu. Leo Shapiro hat "Keshet" mit ins Leben gerufen und ist jetzt der stellvertretende Vorsitzende des Vereins. Er lehrt Medienrecht an der Hochschule für Technik und Wirtschaft in Berlin. Es gebe, so kritisiert er, zahlreiche Angebote des Zentralrats für alle möglichen Zielgruppen: Jugendliche, Alleinerziehende, Senioren. Das alles sei selbstverständlich im Blick. Nur queeres Judentum nicht. Informationen oder Beratungsangebote suche man vergebens.
Shapiro: "Es gibt tatsächlich von institutioneller Seite keinerlei Angebot für queere Juden. In den Synagogen stellt man fest, dass Rabbiner, wenn nicht ausdrücklich, dann aber jedenfalls immer implizit queere Lebensmodelle für nicht gut heißen und auch teilweise ausdrücklich diskriminieren, weil sie immer wieder betonen, dass der heteronormative Lebensentwurf der einzig richtige sei."
Doch wie erklärt sich das? Ist queeres Judentum tatsächlich ein Tabu in den Gemeinden, wie "Keshet" sagt? Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, ist anderer Meinung:
"Also ich habe diesen Bedarf persönlich tatsächlich nicht wahrgenommen. Ich habe das Gefühl, dass es auch anderen so ging. Jetzt muss man aber auch etwas dazusagen: Vielleicht, die spezielle Fragestellung, Sorgen und Nöte ist ein Thema. Queere Juden waren aber doch bislang nicht von jüdischen Gemeinden in irgendeiner Weise ausgeschlossen! Sie konnten und können doch selbstverständlich an Gottesdiensten ganz unterschiedlicher Denominationen teilnehmen."
Fehlerhaftes Problembewusstsein in jüdischen Gemeinden
Die Erfahrungen von Betroffenen sprechen eine andere Sprache. Queere Jüdinnen und Juden sehen sich in den Gemeinden mit einem fehlenden Problembewusstsein konfrontiert. Eine gesonderte Wahrnehmung ihrer Sichtweisen findet größtenteils nicht statt.
David hat viele Jahre in einer Berliner Yeshiva studiert. Er war verheiratet und ist Vater eines Kindes. Doch irgendwann kam alles ins Rutschen. David bekannte sich zu seiner Homosexualität. Es begann einer langer, schwieriger Weg für ihn und seine Familie. Heute lebt David mit einem Mann zusammen. Die orthodoxe Gemeinschaft zeigt sich seither für ihn verschlossen.
David: "Ich halte es für naiv, so wie ich mich darüber aufregen würde, wenn mir jemand erzählt, es gebe keinen Antisemitismus in Deutschland. Genauso naiv ist die Aussage, es gibt keine Diskriminierung von lesbischen, schwulen, bi, transgender oder was auch immer in jüdischen Gemeinden."
David heißt eigentlich anders. Doch seine Stimme und seinen Namen möchte er aus Rücksicht auf seine Familie nicht im Rundfunk preisgeben.
David: "Wenn ich in einer schwulen Beziehung lebe, verheiratet bin mit einem Mann, kann ich in keine dieser Synagogen gehen, weil das für Gesprächsstoff sorgt. Selbst wenn man versucht, zur Ruhe zu kommen, ins Gebet zu finden, diesen wirklich wunderschönen Ritus zu genießen, hast du keine Chance, weil du merkst, dass du Blicke auf dich ziehst, weil es Reaktionen gibt. Reaktionen, die ein Mensch, der heterosexuell ist, sich aber nicht an die jüdischen Gesetze hält, nicht bekommen wird."
Subtile Ablehnung von Gemeindemitgliedern
Leo Shapiro hat sich erst spät zu seiner Homosexualität bekannt. Shapiro: "Als ich mich geoutet habe, habe ich festgestellt: Ich kenne keine queeren Juden. Obwohl ich sehr stark vernetzt war in der Gemeinde. Ich habe dann später auf anderen Wegen queere Juden kennengelernt, die allesamt die gleiche Geschichte berichtet haben, dass sie sich in den Gemeinden nicht repräsentiert gefühlt haben und deswegen die Gemeinde verlassen haben, sich gegenüber den Eltern nicht geoutet haben."
Josef Schuster sieht das anders. Anstatt auf die Argumente einzugehen, nimmt er die Betroffenen in die Verantwortung.
Schuster: "Ich glaube, man sollte, egal welche sexuelle Orientierung man hat, man sollte sich doch einfach mal auch selbstkritisch fragen, bin ich wirklich abgelehnt worden oder habe ich vielleicht eine Ablehnung verspürt, die gar keine Ablehnung war? Das ist eine Situation, die ich immer wieder sehe. Dass es Gemeinden geben kann, wo eine Ablehnung erfolgt ist, das kann ich nicht ausschließen. Wo Menschen sind, menschelt's. Aber ich glaube, sie sollten den Weg zurück versuchen. Und vielleicht gerade mit einem Zusammenschluss wie "Keshet" sollte sowas auch erleichtert möglich sein. Ich sehe insoweit keine Diskriminierung, dass queere Juden in allen Gemeinden entsprechende Rechte und Pflichte haben."
Doch die Ablehnung kann sehr subtil wirken, sodass sie nicht-queeren Gemeindemitgliedern eventuell gar nicht auffällt. Die Leute grüßen einen nicht mehr, wechseln die Straßenseite. Ein gemeinsamer Sederabend? Undenkbar.
Offener Diskurs in den USA
In den USA oder Großbritannien wird das Thema Homosexualität seit einigen Jahren auch in der Orthodoxie offener diskutiert. In Deutschland bestimmen starke religiöse Vorbehalte hingegen weiterhin den Ton. Von orthodoxen Rabbinern wird auch heute offen gesagt: Wer homosexuell ist, muss mit dieser Bürde leben und versuchen, es zu unterdrücken. Denn der männliche Samen darf nach strenger Auslegung des jüdischen Gesetzes nicht "verschüttet" werden, das heißt, er muss der Zeugung dienen.
Schuster: "Wir kennen auch in Deutschland Rabbiner, die sich offen zu Homosexualität bekennen. Ich habe das Gefühl, sie haben da diesbezüglich keine Probleme. Wir kennen auch andere, also ich persönlich, auch andere Funktionsträger in jüdischen Gemeinden, Geschäftsführer, die ebenfalls zu ihrer Homosexualität stehen und ich glaube, auch damit eigentlich kein Problem haben. Also die Frage, die sich mir stellt, ist, liegt es an den Gemeinden oder liegt es mitunter auch, nicht generell, aber mitunter auch an der Sichtweise Betroffener?"
Leo Shapiro erzählt von einem schwulen Rabbiner, der in Deutschland studiert hat und jetzt im Ausland arbeitet, weil er hier keine Gemeinde gefunden hat. Von einem Bewerber auf eine Geschäftsführerstelle, der in letzter Minute doch abgelehnt wurde. Von einem Mann, der aufgrund seiner Homosexualität beim Minjan in einer orthodoxen Synagoge nicht mitgezählt wurde.
Mit Veranstaltungen aufklären
Die Eltern von Leo Shapiro kommen, wie ein Großteil der heutigen Gemeindemitglieder, aus der ehemaligen Sowjetunion. Sie bilden eine Gemeinschaft mit starker jüdischer Identität, nur seien die wenigstens orthodox oder hielten sich streng an die Halacha.
Shapiro: "Gleichwohl herrscht ein extremer Konformitätsdruck in der Gemeinde, weil ganz allgemein erwartet wird, dass man gegengeschlechtlich heiratet und früh eine Familie gründet, und da der Lebensentwurf von Queersein einfach nicht existiert."
Für viele dieser aus der Sowjetunion stammenden Elterngeneration sei das Thema Homosexualität negativ besetzt. Es ist auch ein kulturelles Problem. Ohnehin sind viele jüdische Gemeinden in Deutschland sehr konservativ. Genau hier will "Keshet" ansetzen und auf eine Veränderung hinarbeiten. In erster Linie durch Aufklärung und Bildungsangebote, insbesondere schon in der Jugendarbeit. Und das gezielt in der Zusammenarbeit mit den jüdischen Institutionen etwa auf Veranstaltungen des Zentralrats oder der Zentralwohlfahrtsstelle.
Überwältigende Reaktionen
Josef Schuster sieht die jüdische Gemeinschaft mit ihrer Haltung zu LGBTQ-Themen jedoch nicht in einer Sonderrolle.
Schuster: "Ich sehe keine größeren oder auch keine kleineren Vorbehalte innerhalb der jüdischen Gemeinschaft im Vergleich zur Gesamtgesellschaft. Insoweit, selbstverständlich dient die Gründung eines solchen Zusammenschlusses wie "Keshet" auch dazu, jetzt Vorurteile abzubauen und drum begrüße ich das auch."
Wie der Zentralrat "Keshet" unterstützen wird, ob im Rahmen einer Mikroförderung oder projektbezogen, ist derzeit noch offen. Die ersten Reaktionen auf die "Keshet"-Gründung waren überwältigend, sagt Leo Shapiro. Eine Flut an E-Mails, über 1000 Facebook Likes, eine volle Synagoge beim Queer-Shabbat. Viele hätten gesagt, dass sie sehnsüchtig auf eine solche Interessenvertretung gewartet hätten.