Vereinte Nationen

"Die UN-Charta ist noch so aktuell wie vor 70 Jahren"

Die Generalversammlung der UNO in New York, aufgenommen am 07.06.2012
Die Generalversammlung der UNO in New York © afp / Timothy A. Clary
Moderation: Liane von Billerbeck |
Heute vor 70 Jahren trat die Charta der Vereinten Nationen in Kraft. Ex-Diplomat Gunter Pleuger betont die Bedeutung der Organisation im Zuge der Globalisierung und fordert eine Reform des Sicherheitsrates.
Liane von Billerbeck: Was verbindet Chruschtschows Schuh, die Blauhelme und den Sicherheitsrat? Alle drei gehören zu den Vereinten Nationen, zur UNO. Heute vor 70 Jahren trat die Charta der Vereinten Nationen in Kraft. Sie war ja ein Kind, geboren aus den blutigen Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges. Die UNO, heute ein Zusammenschluss von 193 Staaten, sollte den Weltfrieden sichern, dafür sorgen, dass das Völkerrecht eingehalten wird, die Menschenrechte geschützt werden und die internationale Zusammenarbeit klappt.
Wie zeitgemäß und vor allem wie schlagkräftig die UNO heute noch ist, das wollten wir von Gunter Pleuger wissen, mit dem ich gestern gesprochen habe. Der Diplomat war von 2002 bis 2006 Ständiger Vertreter der Bundesrepublik bei der UNO und amtierte auch im Februar 2003/2004, zu Zeiten des Irak-Krieges, als Deutschland den Vorsitz im Weltsicherheitsrat inne hatte. Inzwischen ist er Präsident der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt/Oder und von dort zugeschaltet. Herr Pleuger, ich grüße Sie!
Gunter Pleuger: Guten Tag, Frau von Billerbeck!
von Billerbeck: 70 Jahre, nachdem die UN-Charta in Kraft trat, ist die UNO nur noch ein schöner alter Traum, der viel kostet und politisch wenig bringt?
Globale Organisation für globale Lösungen
Pleuger: Das glaube ich gar nicht. Ganz im Gegenteil: Wir brauchen die UNO heute, im Zuge der Globalisierung, noch sehr viel mehr als vor 70 Jahren. Sehen Sie, es gibt viele globale Probleme, die kein einzelner Staat mehr, sei er auch noch so mächtig, allein lösen kann. Dazu brauchen wir eine globale Organisation für globale Lösungen. Und die einzige Organisation, die wir dafür haben, sind die Vereinten Nationen. Und die gilt es zu stärken, und vor allen Dingen dadurch zu stärken, dass den Mitgliedsstaaten gesagt wird, die UNO kann nur das leisten, was ihr Mitgliedsstaaten wollt. Denn die UNO ist eine große internationale Konferenz, in der mit Mehrheit entschieden wird. Und wenn die Mehrheit dafür ist, ein Problem anzugehen und zu lösen, dann ist das der UNO auch möglich.
von Billerbeck: Aber gerade diese Rolle, eine internationale Ordnungsmacht zu sein in der globalisierten Welt, die wird doch immer schwieriger, wenn wir uns angucken, welche Kräfte da eigentlich aktiv sind. Das sind ja sehr asymmetrische Auseinandersetzungen, die wir da gerade erleben, es sind ja nicht nur Staaten da im Spiel.
Pleuger: Das ist richtig. Auf der anderen Seite wird die UNO häufig nur in Gestalt der Generalversammlung und des Sicherheitsrats gesehen. Die UNO besteht aber außerdem auch noch aus über 150 Sonderorganisationen, die in allen Konflikten, die in vielen Lebensbereichen, in vielen internationalen Problemen eine sehr wichtige Rolle spielen.In jeder Krise gibt es hungernde Menschen – das Welternährungsprogramm greift hier ein. In jeder Krise werden Kinder getötet und misshandelt – dafür ist das Kinderhilfswerk da. Und die Sonderorganisationen, diese 150 Sonderorganisationen, sind essenziell praktisch bei jeder Konfliktlösung aller Art.
von Billerbeck: Ein Ziel der UNO, da haben Sie sicher recht, aber ein Ziel der UNO war ja vor allem die Einhaltung des Völkerrechts. Und wenn wir uns jetzt angucken, wie die realpolitischen Verhältnisse in der Welt derzeit sind, dann klingt das fast illusorisch, das zu erhoffen, dass dieses Völkerrecht eingehalten wird.
Die Charta der Vereinten Nationen ist Völkerrecht
Pleuger: Also erstens mal muss man sagen: Die Charta der Vereinten Nationen ist Völkerrecht. Und wenn Sie diese Charta heute nach 70 Jahren lesen, so ist sie noch so aktuell wie bei der Gründung der Vereinten Nationen. Insbesondere Artikel 2 der Charta statuiert erstens mal ein Gewaltverbot, von dem es nur zwei Ausnahmen gibt, nämlich die Selbstverteidigung und einen Beschluss des Sicherheitsrats zur Intervention in einem Konflikt. Es ist natürlich richtig, dass die Generalversammlung Konfliktlösung nur sehr begrenzt machen kann, weil sie keinerlei verbindliche Wirkung in ihren Entscheidungen gegenüber allen Mitgliedsstaaten aussprechen kann. Das kann nur der Sicherheitsrat.
Und der Sicherheitsrat wiederum ist natürlich durch seine Struktur, die noch die von 1945 ist und nicht die des 21. Jahrhunderts, oft in seiner Entscheidungsfähigkeit gehindert. Das hat einmal damit zu tun, dass die fünf ständigen Mitglieder gegen Entscheidungen des Sicherheitsrats ein Vetorecht haben, und zum anderen damit, dass die UNO auch nicht über eigene Ressourcen verfügt, um im Falle einer notwendigen Konfliktlösung schnell und effizient handeln zu können.
Es ist richtig, der Sicherheitsrat muss reformiert werden, damit er legitimer und effektiver wird. Darüber wird in den Vereinten Nationen seit 1991 beraten. Zweimal ist eine Lösung gescheitert, aus unterschiedlichen Gründen. Gegenwärtig wird auch weiter über die Reform des Sicherheitsrats diskutiert. Jeder weiß, wie die aussehen muss, nämlich eine bessere Repräsentanz der großen Regionen, um dem Sicherheitsrat mehr Legitimität zu geben. Denn in einem Gremium mit begrenzter Mitgliedschaft entsteht Legitimität dadurch, dass alle, die nicht drin sind, sich aber angemessen repräsentiert fühlen.
Und zum anderen muss sichergestellt werden, dass die wenigen Staaten in der UNO, die über die notwendigen Ressourcen verfügen, um Konflikte zu lösen und der UNO die notwendigen Mittel nicht nur finanzieller, sondern auch Sachmittel, Soldaten, Beamte und Helfer zur Verfügung stellen, dass diese Staaten auch an der Entscheidungsbildung im Sicherheitsrat partizipieren können. Denn sonst geht es zu Hause schlecht. Man kann einem Parlament nur sehr schwer erklären, warum man sich an einer Aktion beteiligen soll, an deren Entstehung, Umsetzung oder Beratung man überhaupt nicht beteiligt war.
von Billerbeck: Herr Pleuger, wenn Sie an die Jahrzehnte zurückdenken, die es die UNO gibt – und Sie kennen sich ja gut aus in dieser internationalen Organisation, der internationalen Organisation –, wo war die UNO besonders erfolgreich, und wo hat sie komplett versagt?
Erfolgreiche Dekolonisierungsdebatte
Pleuger: Die UNO war in vielen Dingen erfolgreich. Lassen Sie mich ein eklatantes Beispiel nehmen, und zwar die Dekolonisierungsdebatte, die sich hingezogen hat so von den frühen 60er-Jahren bis in die 80er-Jahre. Diese Debatte hat zur Folge gehabt, dass die Ausübung militärischer und politischer Gewalt zur Aufrechterhaltung nicht nur von Kolonialherrschaft, sondern überhaupt nicht demokratisch legitimierter Herrschaft zurückgedrängt wurde und die Ausübung solcher Gewalt illegitim erachtet wurde. Das wiederum hat natürlich auch Folgen für das allgemeine Rechtsbewusstsein gehabt. Und ich bin überzeugt, dass die Entscheidung von Gorbatschow, im Zuge der Demokratisierung Europas und des Zusammenbruchs der Sowjetunion keine Gewalt anzuwenden, sehr stark mit beeinflusst worden ist durch diesen Wandel der politischen Psychologie, der sich in der UNO vollzogen hat.
von Billerbeck: Das waren die positiven Beispiele. Und wo hat die UNO eklatant versagt?
Versagen der UN beim Völkermord in Ruanda
Pleuger: In vielen Bereichen. Sie hat am eklatantesten versagt natürlich beim Völkermord in Ruanda. Und anstatt dort mit den Mitteln der Intervention kräftig hinein zu gehen, hat man die wenigen Blauhelme, die dort waren, noch zurückgezogen, was natürlich aus der Sicht des Generalsekretärs verständlich war, weil er für das Leben dieser wenigen Menschen verantwortlich war und diese wenigen den Völkermord nicht hätten aufhalten können. Das hat aber zur Folge gehabt, dass in der großen Reformdiskussion von 2005, die Kofi Annan einberufen hatte, neue Instrumente geschaffen worden sind, die so etwas in Zukunft wenn nicht unmöglich, so doch leichter bekämpfbar machen.
von Billerbeck: Gunter Pleuger war das, 2002 bis 2006 Ständiger Vertreter Deutschlands bei den Vereinten Nationen, 70 Jahre, nachdem die UN-Charta in Kraft getreten ist. Ich danke Ihnen! Gunter Pleuger ist heute Universitätspräsident der Viadrina in Frankfurt/Oder und war dort im RBB-Studio. Ich habe das Interview mit ihm vor der Sendung aufgezeichnet.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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