Eine Biathletin, die Barrieren einreißen will
Weltmeisterin und Paralympics-Siegerin: Verena Bentele hat zahlreiche Hürden überwunden. Mittlerweile setzt sie sich als Bundesbeauftragte für die Belange behinderter Menschen ein.
Zwölffache Goldmedaillengewinnerin bei paralympischen Spielen, Literaturwissenschaftlerin, erste blinde Person auf dem Mount Meru – das sind nur einige Stationen im Leben von Verena Bentele, bevor die heute 36-Jährige im Jahr 2014 die nächste Herausforderung anging. Seitdem ist die ehemalige Profi-Biathletin und Langläuferin die Beauftragte der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen und die erste, die ebenfalls ein Handicap hat. Mit Misserfolgen, die im zähen Politikbetrieb unvermeidlich sind, könne sie vielleicht auch wegen ihrer sportlichen Erfahrungen umgehen. Ihre Blindheit jedenfalls sehe sie eher als Antrieb denn als Einschränkung:
"Was mich manchmal hemmt, ist natürlich, dass ich manche Dinge nicht allein machen kann, wie ich das gerne würde. Wenn ich zum Beispiel morgens in München oder Berlin irgendwohin möchte, nehme ich die öffentlichen Verkehrsmittel oder ich lasse mich fahren, und kann eben nicht das Fahrrad nehmen. Das wäre natürlich für mich viel schöner als jemand, der im Frühling und Sommer gerne draußen ist. Hier scheint die Sonne und ich gehe runter in den Untergrund. Das finde ich nicht so schön, aber an sich würde ich schon sagen, dass mich manche Grenzen motivieren."
In ihrem Amt setzt sich Bentele, die von Geburt an blind ist, für eine barrierefreie Öffentlichkeit ein, von Brailleschrift auf Joghurtbechern über Steuerformulare in einfacher Sprache bis hin zu Gebärdendolmetschern in Ämtern oder bei politischen Veranstaltungen.
Eltern gaben ihr immer viel Vertrauen
Das Vertrauen, auch unwahrscheinlich erscheinende Herausforderungen meistern zu können, habe sie schon als Kind erfahren. Ihre Eltern, Biobauern aus Schwaben, die beide sehen können, hätten sie und ihren ebenfalls blinden Bruder ebenso behandelt wie den ältesten Sohn, der ohne Behinderung zur Welt kam:
"Das Schöne ist, dass meine Eltern immer sehr offen damit umgegangen sind und vor allem auch offensiv uns Dinge erlaubt haben, die auch unser älterer Bruder durfte. Sie haben nicht immer gesagt 'das ist nichts für euch', sondern haben uns immer auch Dinge ausprobieren lassen. Naja, und wenn wir dann mal Blödsinn gemacht haben und zu dritt auf dem Tandem den Berg runter gefahren sind, der sehr steil ist, und unten die Kurve nicht gekriegt haben, dann haben unsere Eltern schon geschimpft, aber auch gesagt 'dann lernt ihr's halt auch, dass man das besser nicht machen sollte', und das fand ich superklasse, dass meine Eltern mir da so ein Vertrauen gegeben haben, Dinge auszuprobieren, und nicht ständig das Feedback ‚das ist für dich zu schwierig‘. Das wissen wir heute: Wenn Kinder immer hören 'du hast kein Talent für Musik, für Sport, für Mathe', dann werden wir das auch nie entwickeln, das Talent."
"Kontrolle ist gut, Vertrauen ist besser" heißt deshalb das Buch, das sie vor einiger Zeit veröffentlicht hat. Auch wie sich verloren gegangenes Vertrauen zurückgewinnen lasse, sei ein wichtiges Thema.
Ein schwerer Sturz und die Folgen
Das musste Verena Bentele auch selbst erfahren, als sie im Jahr 2009 während eines Rennens einen Abhang hinabstürzte und sich schwer verletzte, weil ihr Begleitläufer – eigentlich derjenige, der ihr durch Kommandos "die Strecke in Worte verwandeln" sollte – versehentlich eine falsche Ansage gemacht hatte:
"Als ich wieder einigermaßen fit war und wieder Sport machen konnte, habe ich schon gemerkt, dass in meinem Körper die Angst sehr tief drin saß, und ich vor allem ganz langsam anfangen muss, mich an Geschwindigkeit zu gewöhnen, und mich auch wieder daran zu gewöhnen, ohne eine Verbindung, also beispielsweise ein Seil, das zwischen uns ist, oder irgendeine physische Verbindung, wirklich nur über die Stimme dem Begleitläufer zu folgen. Das war für mich am Anfang schon viel damit für mich verbunden, über meine Ängste zu sprechen, also dem neuen Begleitläufer zu sagen, dass ich Angst habe, dass wir erstmal langsam anfangen müssen und ich nicht direkt wieder die alte Verena bin von vor einem Jahr, die den Berg schnell herunterfährt ohne sich Gedanken zu machen."
Nach der Profisport-Karriere und einem Germanistikstudium absolvierte Verena Bentele außerdem eine Ausbildung zum Coach und spricht in Vorträgen über die Rolle von Vertrauen – im Sport, im Job, im Leben. Denn ein solches Vertrauen brauche sie nur auf den ersten Blick dringender als andere.
"Inklusion noch deutlich mehr als Chance sehen"
Das Amt als Behindertenbeauftragte der Bundesregierung wird Verena Bentele demnächst aufgeben. Im Mai steht sie zur Wahl als Präsidentin des Sozialverbands VdK – allerdings nicht, weil sie die Nase voll hat von der Politik:
"Ich habe mich einfach dazu entschlossen, vielleicht ein bisschen noch mal eine andere Perspektive einzunehmen. Ich wechsle auch gar nicht so richtig aus der Politik, sondern im VdK ist Sozialpolitik eigentlich das wichtigste Thema und ich kann mich da sozialpolitisch noch mal ein bisschen breiter aufstellen, also kann neben Teilhabepolitik für Menschen mit Behinderungen, mich genauso um Renten-, Gesundheits- und Pflegepolitik kümmern. Ich habe das ganz große Ziel, dass wir Inklusion in der Gesellschaft wirklich noch deutlich mehr als Chance sehen. Das Problem haben wir immer wieder: Inklusion ist ein schwieriger, für viele Menschen mit Angst und Vorurteilen besetzter Begriff, und da muss man echt gegen arbeiten, die Chancen von einer Gesellschaft mehr zu sehen, in der jeder Mensch mit seinen Möglichkeiten, Talenten und Fähigkeiten sich einbringen kann."
Ganz ohne Sport geht es aber auch in einer 60-Stunden-Woche zwischen ihrer Wahlheimat München und der Hauptstadtpolitik nicht. Gerade kommt Verena Bentele vom Trainingslager auf Mallorca zurück: Im Sommer möchte sie beim längsten Radmarathon Europas die über 500 Kilometer zwischen Oslo und Trondheim in weniger als 20 Stunden schaffen.