Empathie, die despotisch wird
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In Verena Güntners Roman "Power" geht es um das Mädchen Kerze, das den Hund einer Nachbarin sucht. Kerze sei empathisch, aber werde auch zu einer "kleinen Despotin", sagt Autorin Verena Güntner. Das Buch steht auf der Shortlist des Leipziger Buchpreises.
Verena Güntner kreiert in ihrem Roman "Power" eine recht eigenwillige Welt. Es geht um ein Mädchen, das einer Bewohnerin ihres kleinen Dorfs, Frau Hitschke, verspricht, den weggelaufenen Schoßhund – er heißt "Power" – zu suchen. Das Mädchen ist gerade noch ein Kind und lebt allein mit seiner Mutter in diesem Dorf. Sie nennt sich Kerze und ist sehr selbstbewusst. Schließlich schließen sich ihrer Suche andere Kinder an. Sie verhalten sich dabei selbst wie Hunde, laufen auf allen vieren, bellen.
Mit diesem Roman ist Verena Güntner für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert. Die Termine, die sie derzeit wahrnehme, seien für sie "so ein Rantasten" an den Blick von außen auf das Buch, sagt Verena Güntner, die auch als Schauspielerin arbeitet. Als sie die Nachricht der Nominierung bekam, sei sie noch sehr der Innenwelt der Figuren verhaftet gewesen. "Über Jahre war ich ja mit diesem Buch ganz allein." Jetzt gehe es darum, aus dieser "hermetischen Arbeitszeit" rauszukommen.
Zentrales Thema: Verschwinden
Kerze sagt Dinge wie: "Das Leben ist eine ernste Sache, und ich hoffe, dass du das im Blick hast, Mama." Sie gibt anderen Anweisungen – und die führen das aus. "Sie ist dem Dorf so eine Art Instanz, so eine Dorfweise", erläutert Güntner. "Da haben sich so ein bisschen die Rollen umgekehrt." So etwas könne beispielsweise auch zwischen Kindern und Eltern passieren, was dann für Kinder oft problematisch sei. "Wenn 'die Großen', wie sie ja auch in diesem Roman von den Kindern genannt werden, nicht das Gegenüber sind, das sie sein müssten für die Kinder." Ob auch bei Kerze so ein Rollentausch stattfinde, bleibe ein Stück weit im Dunkeln.
Ein zentrales Thema dieses Buchs ist das Verschwinden. Der Hund ist verschwunden, auch der Mann von Frau Hitschke ist schon verschwunden. Bei Kindern sei die Angst vor dem Verschwinden, besonders der Eltern, oft sehr präsent. Angst sei aber etwas, das Kerze nicht duldet, sagt Güntner. "Sie sagt, man muss sich hingeben." Man dürfe sich nicht von Angst leiten lassen.
In der Empathie brutal
Kerze sei eine Figur mit Brüchen. Sie sei sehr bestimmt in dem, was sie macht, so Güntner. Sie habe sich vorgenommen, den Hund zu finden. Und darauf lasse sie sich ganz ein, "mit allem, was sie hat". Diese Entschiedenheit ziehe die anderen Kinder magisch an. An ihr könnten sie sich festhalten. Man könne sagen, Kerzes Strategie sei Empathie. In ihrem entschiedenen Vorgehen sei sie in gewisser Weise aber auch brutal. Sie nehme auch in Kauf, dass diese Suche sie und die Kinder sehr viel kosten wird, sagt Güntner.
"Sie sagt ja auch, dass ist das, was sie ausmacht, dass sie immer ihre Versprechen hält. Das macht sie auch zu einer kleinen Despotin." Aber sie habe auch andere Seiten. Sie sei zum Beispiel fast die einzige im Dorf, die sich um Frau Hitschke, die Besitzerin von "Power" kümmere. Oder um eine andere alte Person im Dorf. "Sie kommt vom Mitgefühl, aber lehnt so etwas wie Mitleid ab. Sie kommt dann ins Handeln." Das mache sie aus – und zugleich teilweise auch zu einer "problematischen Figur, weil sie eben nicht lieb ist oder angenehm".
(abr)