Verena Stefan: "Ein Riss im Stoff des Lebens"
Aus dem Englischen übersetzt von Anke Caroline Burger
Nagel und Kimche, Zürich 2021
240 Seiten, 22 Euro
Lose Fäden, neu verwebt
05:31 Minuten
Ihr Erstling "Häutungen" erschien 1975 und avancierte zum feministischen Kultbuch. Danach wurde es stiller um Verena Stefan, sie starb 2017. Nun ist ihr letztes Buch auf Deutsch erschienen. Es ist ein Geschenk - an uns alle.
Der Chirurg zerrt den entzündeten Port aus der Schulter der Patientin und verschwindet grußlos. Verwundet und nackt liegt sie da. Es dauert eine Ewigkeit, bis jemand ihr einen Krankenhauskittel reicht, damit sie ihre Blöße bedecken kann.
Bescheidene Zurückhaltung
"Ein Riss im Stoff des Lebens" heißt das letzte Buch von Verena Stefan. Schon der Titel zeugt von der bescheidenen Zurückhaltung dieser Autorin, denn mit einem Riss ist es nicht getan. Wer an metastasierendem Brustkrebs leidet und wie Verena Stefan nicht zu den Eifrigsten gehört, wenn die Medizin noch eine Bestrahlung, Chemotherapie oder Operation vorzuschlagen hat, ist damit konfrontiert, dass der Stoff des Lebens – der Körper, das soziale Netz, das Gefühl der Integrität und der Macht über das eigene Leben, die vertrauten Innenwelten – an zahllosen Stellen gleichzeitig reißt.
Schatten auf Röntgenbildern, Knoten im Gehirn, Lähmung der Schluckmuskulatur, unkontrollierbare Extremitäten, Alternativmedizin, die manchmal hilft und oft nicht, Schulmedizin, die auch nicht mehr leistet, verblassende Freundschaften, Träume, die für immer unerreichbar bleiben.
Doch das Buch wäre kaum erträglich, wenn Verena Stefan nicht über die erstaunliche Fähigkeit verfügte, all die abgerissenen, losen und schon fast verlorenen Fäden immer wieder aufzunehmen und mit stoisch-sanfter Hartnäckigkeit neuen Lebensstoff zu weben.
Denkmal für einen Garten
Sie tut es in der zärtlichen Liebe zu ihrer Frau, auch wenn die vor dem Krankenhausschrecken immer wieder flieht. Sie tut es in der Leidenschaft für ihre Arbeit. So krank kann diese Autorin gar nicht sein, dass sie nicht zehn, zwölf Stunden am Tag schreibt. Sie tut es in ihrer Hingabe an die Poesie. Immer wieder zitiert sie Gedichte, atmet sie ein und aus.
Und natürlich tut sie es in der Liebe zur Natur, ihrem Garten, dem sie in ihrer leisen, tastenden, assoziativen und trotzdem von einer unbeirrbaren Kraft durchzogenen - und hervorragend ins Deutsche übertragenen - Sprache ein Denkmal setzt:
"Mit Garten meine ich Wetter, Bäume, den vergänglichen Genuss großer Schönheit … mit Garten meine ich Begegnungen. Lise hat ein Tier am Rand unseres Graslands erspäht … mit Garten meine ich Energie. Mit Energie meine ich, wie gut mir die Erde tut in meinem von der Bestrahlung gedämpften, steroidschwindligen Erschöpfungszustand … mit Garten meine ich den Genuss des Sommerlichts. Mit Licht meine ich, dass wir uns aufwärts in den riesigen Himmel fallen lassen und im unablässigen Strom des Lichts mitschwimmen."
Tränen im Krankenhaus
Nach dem schmerzhaften Eingriff weint die Patientin und fühlt sich zu schwach, den langen Weg zurück auf ihre Station zu Fuß zu gehen, zumal sie im Rollstuhl hergeschoben wurde und den Rückweg nicht kennt. Könnte ihr bitte jemand helfen?
Schwestern und Pfleger winken ab, eine Sekretärin wedelt sie genervt aus dem Zimmer. Schließlich greift die Patientin ihren Rollstuhl als Gehhilfe und stolpert, sich durchfragend, zurück. Man kann die Menschen, die keine Zeit für Verena Stefan hatten, nur bedauern. Dieser beeindruckenden Frau zu begegnen, ist ein Geschenk.