Zukunft in rechtlichem Neuland
Wie fest ist der Grund der Verfassungen freiheitlich, demokratischer Staaten in Europa heute wirklich? Sie gelten zwar als unumstößlich, aber nicht nur in Polen wird aktuell über Anpassungen gestritten. Die Zeiten für die "Kulturleistung" Verfassung sind gerade nicht leicht.
Vor 25 Jahren veröffentlichte der ehemalige Verfassungsrichter Dieter Grimm eine Sammlung von Essays und Aufsätzen unter dem Titel "Die Zukunft der Verfassung". Die Fragen, denen sich Grimm darin widmete, betrafen wachsende Erwartungen an den Sozialstaat, Reformen der föderalen Ordnung des Bundesstaates sowie die Bedeutung der Grundrechte. Es ging darum, wie die Verfassung in der Zukunft des gerade wiedervereinigten Deutschlands aussehen könnte. Keine Frage aber war: Die Verfassung als Prinzip zur guten Ordnung von Staaten hatte eine Zukunft.
Sorge statt Zukunftsgewissheit
2012 veröffentlichte Grimm einen zweiten Teil seines Buches, wieder unter dem Titel "Die Zukunft der Verfassung". In die hier veröffentlichten Beiträge hatte sich ein unüberhörbarer Zweifel eingeschlichen. Aus der Zukunftsgewissheit war eine besorgte Frage geworden: Hat die Verfassung überhaupt eine Zukunft? Jetzt nämlich nahm Grimm die zunehmenden Verflechtungen nationaler Verfassungen mit den sie überwölbenden Ordnungen auf europäischer und internationaler Ebene in den Blick. Die Sorge, die den Staatsrechtslehrer umtrieb war, dass Verfassungen als eine über 200 Jahre gewachsene Errungenschaft, die Staaten geordnet, Rechte von Bürgern formuliert und Grundsätze der Gewaltenteilung etabliert hatten, in einer globalen Weltordnung immer weiter erodieren würden.
Grimm bemüht sich bis heute, das Bewusstsein für Verfassungen als historische Kulturleistung zu schärfen. Zugleich aber zweifelt er daran, dass sich das auf den Nationalstaat bezogene Ordnungsprinzip einfach auf die neuen, transnationalen Gebilde des späten 20. und 21. Jahrhunderts – etwa die Europäische Union - übertragen lasse.
Sicherung der Staatsordnung
Ein anderer ehemaliger Verfassungsrichter spitzte die Sorge um den Bestand der verfassungsrechtlich geformten Staatsordnung dieser Tage noch weiter zu. Udo Di Fabio schmiedete aus einem traditionellen Verfassungsverständnis jene juristische Waffe, mit der der bayerische Ministerpräsident Horst Seehofer vor dem Bundesverfassungsgericht gegen die Flüchtlingspolitik der Bundesregierung zu Felde ziehen wollte. Die Fähigkeit, seine geografischen Grenzen zu sichern, gilt danach als existentielle Daseinsvoraussetzung eines Staates. Entsprechend stellte Di Fabio den unkontrollierten Zustrom von Menschen nicht nur als Herausforderung, sondern als Existenzbedrohung für den Staat schlechthin dar.
Die Klagedrohung aber wurde gerade in diesen Tagen wieder zurückgezogen. Mit guten Gründen: Die Idee eines Staates, der sich vor allem über Staatsgrenzen und sein Staatsvolk definiere, sei "19. Jahrhundert", hatte Andreas Vosskuhle, der Präsident des Bundesverfassungsgerichts – angesprochen auf das Di Fabio Gutachten – Anfang des Jahres erklärt. Das Bundesverfassungsgericht gilt insbesondere wegen der von Vosskuhle mitgeprägten Europa-Rechtsprechung seinerseits als Bollwerk gegen die schleichende Auflösung nationalstaatlicher Verfassungsordnungen in einem immer enger zusammenwachsenden Europa.
Das Demokratieprinzip als Kern
Aus Karlsruher Sicht aber sind es vor allem die Gestaltungsrechte der Parlamente – und damit das Demokratieprinzip – die den unantastbaren Kern der nationalen Verfassungsordnungen definieren. Den nationalen Parlamenten müssten wesentliche Bestimmungsrechte erhalten bleiben, beharren die Karlsruher Richter immer wieder, wenn es um die Übertragung von Kompetenzen auf die europäischen Institutionen geht. Zugleich aber ordnet sich auch das Bundesverfassungsgericht in einen – wie Vosskuhle es formuliert – europäischen Gerichtsverbund ein, in der man in einer Kooperation mit anderen Verfassungsgerichten und dem Europäischen Gerichtshof in Luxemburg an der Fortschreibung einer europäischen Verfassungsordnung arbeitet.
Europa sprengt hergebrachte Grenzen
Wenn es um Recht und die Macht von Gerichten geht, sind wir es gewohnt, in klar definierten Hierarchien und Geltungsbereichen zu denken: Der Landrichter sticht den Amtsrichter, der Bundesgerichtshof das Oberlandesgericht. Im Verhältnis zwischen Bundesverfassungsgericht und Europäischen Gerichtshof aber ist das anders: Man weist sich gegenseitig Fälle und Rechtsfragen zu, steht mehr in einem fortwährenden Dialog als in einem klassischen Über- und Unterordnungsverhältnis. Eine geradezu provozierende Herausforderung für das Denken in den klassischen Kategorien des Verfassungsrechts.
Auch insoweit sprengt Europa hergebrachte Grenzen. Die Zukunft der Verfassung liegt in einem politischen und rechtlichen Neuland. Seine Konturen sind noch in Bewegung. Der rechtlich formulierte Ordnungsrahmen von Nationalstaaten wird in jedem Fall nur noch einen Teil der vielgestaltigen Verfassungen beschreiben, in denen sich die Menschen im Zeitalter der Globalisierung zusammentun und organisieren.