Udo di Fabio: "Coronabilanz"
Verlag C. H. Beck 2021
218 Seiten, 24,95 Euro
"Corona hat unsere Demokratie nicht aus den Angeln gehoben"
14:43 Minuten
Keine Lektüre für Wutbürger ist Udo di Fabios "Coronabilanz". Der Verfassungsrechtler attestiert darin liberalen Demokratien wie Deutschland ein gelungenes Krisenmanagement. Auch der Föderalismus habe sich als lernfähig erwiesen, sagt di Fabio.
Christian Rabhansl: Wer trifft in der Pandemie eigentlich die Entscheidungen – Virologen oder die Bundesregierung? Haben die Parlamente genug zu sagen gehabt oder ist vielleicht die Demokratie gefährdet? Der frühere Bundesverfassungsrichter Udo di Fabio hat ein Buch zu solchen Fragen geschrieben und zu noch viel mehr. Der Titel ist "Coronabilanz" und der erste Satz lautet: Dieses Buch ist keine Abrechnung mit der Coronapolitik, es ist keine Lektüre für Wutbürger.
Macht es Ihnen als Verfassungsrechtler denn gar keine Sorgen, wie rasch und wie einfach Freiheiten beschränkt worden sind und Grundrechte?
Udo di Fabio: Ich habe zu Beginn der Pandemie schon mal ironisch gesagt – eine gefährliche Form – , wenn man einen Staatsstreich planen würde, dann wäre so eine pandemische Herausforderung ein wunderbarer Vorwand und eine Gelegenheit. Aber das habe ich nicht ernst gemeint.
"Da haben sich Musterreaktionen herausgebildet"
Ich glaube, wir haben es mit einer überraschenden Herausforderung zu tun gehabt. Selbst wenn man virologische Attacken immer wieder in Rechnung stellen muss, war es insgesamt im weltweiten Format einer Pandemie und in den Auswirkungen ein überraschendes Ereignis. Unsere westlichen Gesellschaften, im Grunde genommen die ganze Welt, sind kalt erwischt worden.
Da haben sich Musterreaktionen herausgebildet, um das Infektionsgeschehen zu verlangsamen oder zu unterbrechen, die für uns und eigentlich weltweit neu waren. Der flächendeckende Lockdown, wie das China uns vorgemacht hat, dass so etwas bei uns Platz greift und so lange, Monate hindurch, wenn auch in unterschiedlichem Maße durchgehalten wird, das ist sehr überraschend gewesen.
Aber ich komme zu dem Befund, dass das unsere Verfassungsordnung nicht aus den Angeln gehoben hat, sondern dass insgesamt sich sogar die Modelle liberaler Demokratie bewährt haben.
Rabhansl: Wie stehen Sie zu der Kritik, die Parlamente seien entmachtet worden oder hätten sich vielleicht sogar selber entmachtet?
di Fabio: Ich teile diese Kritik nicht. Ich weiß, dass auch von mir sehr anerkannte Juristen diese Kritik formulieren, aber ich gehöre nicht dazu. Denn wir müssen sehen: Der Deutsche Bundestag hat fünfmal das Bundesinfektionsschutzgesetz im Verlauf der Pandemie verändert. Er hat gesetzliche Ermächtigungsgrundlagen für den Lockdown präzisiert und konkretisiert. Es hat Regierungserklärungen der Kanzlerin gegeben. Es hat sogar eine Entschuldigung der Kanzlerin gegeben für die sogenannten Osterbeschlüsse 2021. Es hat eine ganze Reihe von parlamentarischen Anfragen gegeben, der Bundestag war dabei.
Dass in einer solchen Stunde der Krise auch die Stunde der Exekutive geschlagen hat, das ist geradezu ein geflügeltes Wort im Kreise von Verfassungs- und Verwaltungsrechtlern, weil man ja situativ reagieren muss, aber immer auf einer gesetzlichen Grundlage. Wenn die nicht ausreicht, musste sie angepasst werden. In den Ländern wurde ein Gesetz vollzogen, wurden im Grunde genommen Coronaverordnungen auf der Grundlage eines Bundesgesetzes formuliert, teilweise unter einer neuartigen Beteiligung der Parlamente, die vorher gar nicht vorgesehen war.
Von einer Entmachtung der Parlamente kann man nicht sprechen, aber man muss die Kritik ein Stück weit verstehen. Die Exekutive war lange auf der Bühne des Politischen fast allein zu Hause, und die Parlamente hatten dabei doch nur eine, sagen wir mal, sekundäre Rolle.
"Der Föderalismus ist lernfähig"
Rabhansl: Jetzt haben Sie schon diese verschiedenen Ebenen angesprochen, Bundesebene, dann gab es die Länderebene, es kam auch noch die Kommunen – und teilweise war die Irritation groß, dass an verschiedenen Orten teils völlig unterschiedliche Regeln gegolten haben. Wenn Sie sagen, die Demokratie hat sich bewährt, hat sich auch der Föderalismus bewährt oder war das eher ein Zeichen dafür, dass das nicht besonders gut läuft?
di Fabio: Es ist immer einfach, am Föderalismus Kritik zu üben, weil er halt so vielfältig ist und weil er zu unterschiedlichen Ergebnissen führt. Würde es aber in einem Föderalstaat so sein, dass in allen 16 Ländern das Gleiche passiert, dann bräuchten wir ihn nicht.
Zentralstaaten wie Frankreich haben in dem einen oder anderen Fall in der Krise besser reagiert, in anderen Fällen aber auch schlechter als wir. In der Summe kann ich nicht erkennen, dass ein Zentralsystem wie in Frankreich wirklich überlegen wäre. Dass in Schleswig-Holstein andere Regeln gegolten haben als in München oder im Ruhrgebiet, das ist ja zum Teil aus der Sache heraus verständlich. In Ballungsräumen hatten wir es mit anderen Herausforderungen zu tun als in ländlichen, nur spärlich besiedelten Räumen. Und das ist ja auch eigentlich die Rechtfertigung für den Föderalismus, vor Ort sachnah zu entscheiden. Das ist in vielen Fällen auch geschehen.
Dass das Anfang 2021 dann plötzlich anders wurde, hat nach meiner Beobachtung auch viel mit dem beginnenden Bundestagswahlkampf zu tun. Plötzlich wollten sich Politiker, die sich vorher abgesprochen haben, wenn auch nicht immer einvernehmlich, aber die sich vorher besprochen haben von der Sache her, plötzlich wollten sie sich profilieren. Das ist auch normal in der Demokratie, aber da hat der Bund ja dann geradezu zentralstaatlich mit seiner Gesetzgebungskompetenz, mit der Bundesnotbremse den Verwaltungsvollzug an sich gezogen. Also auch da haben wir gesehen, der Föderalismus ist nicht so starr, wie wir manchmal denken, sondern er ist auch lernfähig.
Populistische Politik ist kein guter Krisenmanager
Rabhansl: Jetzt haben Sie den föderalen Staat Bundesrepublik mit zentralistisch geregelten Staaten verglichen. In Ihrem Buch machen Sie noch einen anderen Vergleich auf, nämlich den zwischen einem Land wie Deutschland, das eher kooperativ international agiert, und Ländern, die Sie national-retardierende Demokratien nennen, die USA zum Beispiel oder Großbritannien. Wie hat sich denn dieses Prinzip dieses Take Back Control oder America First aus Ihrer Sicht bewährt im Vergleich zu einem eher kooperativen Herangehen, wie es Deutschland betreibt?
di Fabio: Die USA würde ich nicht als national-retardierendes Land bezeichnen, das war nur eine Beschreibung für Donald Trump. Dem kann man so etwas vorwerfen, das würde ich jetzt der Biden-Administration nicht vorwerfen. Aber es ist in der Tat so, es gab eine Renationalisierung, eine gewisse Bewegung, und die gibt es immer noch, teilweise verbunden mit populistischen Affekten, wie man das unter Bolsonaro in Brasilien sehr deutlich sehen kann.
Und diese populistischen Reaktionsmuster haben sich in der Krise ganz ersichtlich nicht bewährt. Die USA unter Donald Trump haben eine ungewöhnlich hohe Zahl an Todesfällen hervorgebracht, in Brasilien sieht es noch schlechter aus.
Daraus lerne ich zunächst einmal, dass sich die liberalen Demokratien im Grunde genommen besser geschlagen haben, auch die, die weltoffen schauen, die kooperativ orientiert sind. Auch im Vergleich zu den Autokratien oder Diktaturen dieser Welt, da hat man ja zuerst den Eindruck gehabt, mein Gott, die können das, wenn die einen Lockdown machen, dann steht in Wuhan für drei Monate alles still.
Noch zu früh für eine endgültige Pandemie-Bilanz
Aber man kann noch nicht ganz bilanzieren, im Grunde genommen ist meine Bilanz auch eine Zwischenbilanz, weil ja die Pandemie noch nicht zu Ende ist und die eigentliche Gewichtung und Wertung wahrscheinlich erst in zwei, drei Jahren möglich ist.
Ich glaube, dass wir mit der schnellen Entwicklung eines überaus leistungsfähigen Impfstoffs – mit "wir" meine ich den Westen, meine ich Europa und die USA – schon den richtigen Weg eingeschlagen haben, während man dort, wo man die Null-Covid-Strategie verfolgt hat, natürlich von der Herdenimmunität immer noch entfernt ist und mit dem Wiederaufflackern der Infektionen zu kämpfen hat.
Wer da am Schluss in der Bilanz wirklich am besten rauskommt, was die Zahl der Opfer angeht, die Zahl der Menschenleben, um die es ja primär geht, aber auch was wirtschaftliche Folgekosten angeht, das wird man erst später bilanzieren können.
Es gibt nicht "die Wissenschaft"
Rabhansl: Wenn wir noch mal auf die Entscheidungen in Deutschland gucken, war es ja ganz augenfällig zu beobachten, wie sich die Politik in ihren Entscheidungsprozessen verändert hat, weil plötzlich die Wissenschaft eine derartig große Rolle gespielt hat.
Das ist ja eine Gratwanderung: Natürlich brauchen das Parlament und die Regierung wissenschaftliche Beratung. Gleichzeitig darf sie sich auch nicht dahinter verstecken und dann einfach durchwinken, was ihr so empfohlen wird. Was ist Ihr Eindruck, wie diese Gratwanderung gelungen ist?
di Fabio: Das ist ein ganz spannendes Thema, weil wir ja auch im Hinblick auf die globale Erwärmung die Rolle der Wissenschaft sehr politisch fokussiert diskutieren. Die Frage, inwieweit man nicht nur auf die Wissenschaft hören, sondern ihr womöglich politisch folgen soll, ist ja eine der umstrittenen Forderungen. Muss die Politik nicht immer komplexe Abwägungs- und Gestaltungsentscheidungen treffen und muss sich dabei von der Wissenschaft zwar beraten lassen, aber dann nicht im Sinne einer Eins-zu-eins-Umsetzung?
Das ist eine spannende Frage – und das wurde auch in der Coronapandemie deutlich, wenn manche den Eindruck hatten, da ist die Kanzlerin, die sowieso in einer Kanzlerdemokratie trotz Föderalität eine gewisse zentrale Position innehat. Dann hat sie ihren Chefberater Drosten von der Charité neben sich und die beiden machen das jetzt, und andere Wissenschaftler mit womöglich abweichenden Einschätzungen kommen da nicht zu Wort. Das hat manche Wissenschaftskritik, auch im populistischen Raum, bei Querdenkern wachsen lassen.
Ich glaube, dahinter schlummert ein zentrales Problem unserer modernen Zivilisation. Wir sind epistemische Gesellschaften, das heißt, wir brauchen die wissenschaftliche Basis, um rational entscheiden zu können. Aber jeder, der in der Wissenschaft arbeitet, weiß, wie unvollständig unser Wissen ist, wie umstritten mitunter die Einschätzungen sind. Jede Wissenschaft kennt den Meinungsstreit. Nicht nur Juristen, sondern auch Physiker, Biowissenschaftler, Virologen und Mediziner streiten und sie können nicht auf alles eine Antwort geben. Aber dennoch, dafür haben wir ja ein Institut geschaffen wie das Robert Koch-Institut, eine wissenschaftliche Bundesoberbehörde, die das Wissen zumindest sammelt.
Politik ist kein Vollzugsorgan der Wissenschaft
Rabhansl: Aber trotzdem dürfen die ja nicht die politischen Entscheidungen treffen, die Entscheidung wird dann ja in der Demokratie von einer von der Mehrheit bestimmten Regierung oder einem Parlament bestimmt. Kann das am Ende dazu führen, dass die Mehrheit eine Entscheidung trifft, die zwar sachlich falsch ist, aber dann im Sinne der Demokratie eben doch richtig?
di Fabio: Wenn wir Demokratie ernst nehmen, muss man auch hinnehmen, dass die Politik eine Entscheidung trifft, die bei Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern Kopfschütteln auslöst. Es kann nicht sein, dass die Politik eins zu eins nur das nachvollzieht, was wissenschaftliche Beratungsgremien vorgeben. Das ist das eine, es gibt keine Determination des Politischen durch wissenschaftliche Erkenntnis auf der einen Seite.
Auf der anderen Seite wäre eine Demokratie keine rationale Demokratie mehr, wenn sie dem wissenschaftlichen Rat nicht insofern Gehör schenken würde, dass sie ihn bei ihrer Entscheidung berücksichtigt und die klügsten Lösungswege sucht. Das ist in der Pandemie ein ganzes Stück weit geschehen, im positiven Sinne.
Man sollte sich davor hüten zu sagen, Politik darf nur dem wissenschaftlichen Rat folgen. Denn das sind im Grunde genommen alt-konservative Vorstellungen. Das ist eine alte Kritik an der Demokratie, wie können denn diese Volksvertreter da eigentlich, die haben doch gar nicht das Expertenwissen, wie können die eigentlich die großen Gemeinwohlbelange entscheiden? Wir glauben daran, dass das ein Repräsentationsorgan des Volkes ist, das im Diskurs, im Streit und unter Rückgriff auf wissenschaftliche und verwaltungsmäßige Ressourcen dann vielleicht doch die richtige Entscheidung trifft – zumindest auf längere Sicht.
Corona-Management kein Vorbild für die Klimakrise
Rabhansl: Genau dieses Problem haben wir jetzt ja auch bei der Klimakrise, bei der Klimaerwärmung. Auch dazu gibt es in Ihrem Buch ein Kapitel – zu der Frage, ob das Corona-Management vielleicht ein Vorbild für den Klimanotstand sein kann. Gibt es etwas, das wir als Gesellschaft aus der Pandemie für die Klimakrise lernen können?
di Fabio: Man kann aus der Erfahrung mit der Pandemie sicherlich lernen, dass unsere Gesellschaft für politische Impulse, für Regulierungen, für Begrenzungen tatsächlich stärker empfänglich ist, als wir das vielleicht vorher geglaubt haben. Hätte man ein Lockdown-Szenario theoretisch im Jahre 2019 durchgespielt, bin ich sicher, dass Einwände gekommen wären, das geht überhaupt nicht in einer offenen Gesellschaft, das machen die Leute gar nicht mit, das verträgt die Wirtschaft nicht, sie wird kollabieren, das verträgt das Finanzsystem nicht. Insofern war die Coronakrise ein überraschender Härtetest auch für die Geduld von Menschen, die ja zum Teil um ihre Existenz gebracht worden sind. Das hat die Gesellschaft ein ganzes Stück weit gut durchgehalten – erstaunlicherweise.
Aber daraus zu schlussfolgern, wir könnten mit derselben Robustheit auch einen Wandel des Lebensstils, des gesamten gesellschaftlichen Stoffwechselprozesses auf die Art und Weise herbeiregulieren, das wäre, glaube ich, ein Irrtum. Denn in dem Umgang mit dieser globalen Erwärmung haben wir es mit einem globalen Jahrhundertproblem zu tun und nicht mit einer zeitlich beschränkten pandemischen Herausforderung, auch wenn sie noch so global und groß sein mag. Wir müssen hier langfristig umsteuern, mit langem Atem.
Und da geht es eben mehr um Effizienzargumente, also auch um die Frage, wie wir denn auch dabei unsere Wettbewerbsfähigkeit erhalten, unsere Freiheit und unseren Wohlstand als Gesellschaft und dennoch oder gerade deswegen die Transformationsziele erreichen, die wir uns gesetzt haben.
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