Peter Müller ist seit 2011 Richter am Bundesverfassungsgericht. Er gehört dort zum achtköpfigen Zweiten Senat, der insbesondere zuständig ist für Kompetenzstreitigkeiten zwischen Bund und Ländern sowie der Verfassungsorgane untereinander und für EU-Recht. Bevor Müller Verfassungsrichter wurde, war das CDU-Mitglied zwölf Jahre lang Ministerpräsident des Saarlandes. Politisch engagierte sich Müller ab 1971 zunächst in der Jungen Union (JU). Deren Landes- und Bundesvorstand gehörte er jahrelang an. 1990 wurde er erstmals in den Landtag des Saarlands gewählt und übernahm dort 1994 den Vorsitz der CDU-Landtagsfraktion. 1999 gelang der CDU mit Müller als Spitzenkandidat die Ablösung der SPD-Regierung. Das Amt des Ministerpräsidenten hatte er bis 2011 inne.
"Wir haben keinen politischen Gestaltungsehrgeiz"
Natürlich haben Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Einfluss auf die Politik. Aber Karlsruhe entscheide nicht, was politisch richtig ist, sondern was dem Grundgesetz entspricht, meint der Verfassungshüter und Ex-CDU-Politiker Peter Müller.
Das Bundesverfassungsgericht habe immer wieder über "Fragen hoher politischer Brisanz" zu entscheiden. Aber der Maßstab sei dabei nicht die politische Zweckmäßigkeit eines Gesetzes oder einer Anordnung der Politik. Den Verfassungsrichtern ginge es allein darum zu prüfen, ob die "Leitplanken der Verfassung" beim politischen Handeln eingehalten würden. Das Gericht verstehe sich als Bewahrer der Rechte von Minderheiten und Einzelnen. Im Zweifel eben auch gegen politische Mehrheiten.
"Vertrauen ist unser allerwichtigstes Kapital"
Da das Bundesverfassungsgericht nicht über Sanktionsmöglichkeiten verfügt, um die Vollstreckung seiner Urteile und Beschlüsse zu bewirken, sei das große in die Verfassungshüter gesetzte Vertrauen – auch und gerade der Bevölkerung – Karlsruhes größtes Kapital. "Darauf gründet die Stärke des Gerichts", sagt Peter Müller.
Bisher seien Karlsruher Urteile und Beschlüsse immer akzeptiert und umgesetzt worden. Es sei legitim, dass "Entscheidungen des Gerichts kritisiert werden, aber ihre Verbindlichkeit darf nicht infrage gestellt werden." Den Vorwurf, dass die Verfassungsrichter teilweise als Über-Politiker agierten, weist der ehemalige CDU-Spitzenpolitiker zurück.
Man sage der Politik nicht, was sie zu tun habe. "Wir sind diejenigen, die die Verfassung schützen, und nicht diejenigen, vor denen die Verfassung geschützt werden muss."
Grundrechte generationenübergreifend im Blick
Peter Müller rechtfertigt die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, der Politik vorgegeben zu haben, ambitionierter Klimaschutzziele zu beschließen. Man habe nicht vorgegeben, was der Gesetzgeber zu tun habe. Man habe nur verlangt, dass "Grundrechte auch generationenübergreifend in den Blick" genommen werden müssten. Es dürfte "nicht die Freiheit der künftigen Generationen durch jetziges politisches Handeln" verwirkt werden.
Die Verfassungsrichter hätten es aber "der Politik überlassen, die daraus notwendigen Konsequenzen zu ziehen." Es läge in der Natur der Sache, dass Gerichtsentscheidungen von der Politik gelegentlich instrumentalisiert und "genutzt und ausgenutzt werden." Wenn das dann dazu führe, "dass Vorgaben der Verfassung, die nicht beachtet worden sind, ihre Beachtung finden", könne man damit leben.
Bei Coronamaßnahmen prallen Grundrechte aufeinander
Mit Bezug auf die beim Verfassungsgericht von vielen Seiten beanstandeten Coronamaßnahmen, wie etwa der Bundesnotbremse mit ihren Beschränkungen, sieht Peter Müller, dass man eine Situation der "Kollision von Grundrechten" habe.
Es gelte genau abzuwägen: "Freiheitsrechte, Versammlungsfreiheit, Religionsfreiheit, allgemeine Handlungsfreiheit" stünden auf der einen Seite. Die "Grundrechte auf Schutz der Gesundheit, Schutz des Lebens, auch des Allgemeinguts der Funktionsfähigkeit der Gesundheitssysteme" auf der anderen Seite.
Da gelte es sehr genau abzuwägen. "Bevor wir den Gesetzgeber vorläufig korrigieren und anschließend dann möglicherweise feststellen müssen, dass das verfassungsmäßig alles in Ordnung war, was die Politik getan hat", müssten "ziemlich komplexe und schwierige Fragen" genau geprüft werden.
Mit Blick auf die Kritik, dass die Verfassungsrichter fast alle Eilverfahren in der Sache zurückgewiesen haben, betont Müller: Da dürfe das Gericht nichts "übers Knie brechen". Er schließt nicht aus, dass im Hauptverfahren einige Sachverhalte im Nachhinein als nicht verfassungsgemäß bewertet werden könnten.
Keine bedingungslose Kompetenzübertragung auf die EU
Karlsruhe bekenne sich ausdrücklich zur europäischen Integration und der damit einhergehenden Übertragung nationaler Kompetenzen auf Brüssel. Aber das Grundgesetz konditioniere diesen Prozess der europäischen Integration. Aufgabe der Verfassungshüter sei es zu prüfen, "ob diese Bedingungen eingehalten werden." Europa dürfe sich nicht "schleichend zu einem Bundesstaat entwickeln".
Müller, der Mitglied im für Europarecht zuständigen achtköpfigen Zweiten Senat des Bundesverfassungsgerichts ist, weist in diesem Zusammenhang Kritik an der Karlsruher Entscheidung zu den Ankäufen von Staatsanleihen der EZB uneingeschränkt zurück.
Das Gericht hatte – abweichend von der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs – geurteilt, dass die Anleihen-Aufkäufe der Europäischen Zentralbank in Teilen verfassungswidrig seien. Weder sei, aus seiner Sicht, damit ein Präzedenzfall dafür geschaffen worden, dass nationales Recht über europäisches gehe. Noch sehe er, dass sich andere Länder – wie etwa Polen und Ungarn – auf diese Entscheidung der Karlsruher Richter berufen könnten.
Anders als Polen habe man von den europäischen Institutionen "ein Mehr an rechtlicher Kontrolle eingefordert und nicht das Freistellen von rechtlicher Kontrolle". Dafür, dass die EU-Kommission wegen des Karlsruher Urteils zu den Anleihe-Aufkäufen der EZB ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland eingeleitet habe, sehe er keinen "sachlichen Grund."
Vom Ministerpräsidenten direkt zum Verfassungsrichter
Zu der Debatte, die seinen fast übergangslosen Wechsel vor zehn Jahren aus der aktiven Politik zum Verfassungsgericht seinerzeit ausgelöst hatte, betont Müller, dass dies eine "legitime Debatte" sei, die man "offen führen" müsse.
Die erheblichen Bedenken, als das CDU-Mitglied nur kurze Zeit, nachdem er das Amt des saarländischen Ministerpräsidenten abgegeben hatte, zum Verfassungsrichter gewählt wurde, hätten sich während seiner Zeit in Karlsruhe nicht bestätigt.
Auch die damit verbundene Sorge, dass das Gericht in seiner Unabhängigkeit Schaden nehmen könnte, seien seitdem nicht erneuert worden. Es sei "eine Grundsatzentscheidung", ob dem Bundesverfassungsgericht Personen angehörten, die die Politik kennen, die in der Politik tätig waren. "Oder will man das nicht."
Er halte es in dieser Frage mit dem Grundsatz: "Die Dosis macht das Gift. Der eine oder andere, der Politik kennt, der weiß, wie Gesetzgebung geht, der selbst daran teilgenommen hat, der weiß, wie Regierung stattfindet, der ist sicherlich auch jemand, der wichtige Impulse in die Beratungen mit einbringen kann."
(AnRi)