Verfassungsstreit mit Polen

Das europäische Recht hat ein Legitimitätsproblem

Ein Kommentar von Ulrike Guérot |
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Beim Umbau seines Justizsystem stellt Polen nationales vor EU-Recht. Die Entrüstung im restlichen Europa ist groß. Doch dessen Durchsetzungskraft erodiert, sagt die Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot. Daher sei es Zeit für ein grundlegendes Wagnis.
Es war eine gezielte politische Provokation und sie ist gelungen – in Form eines Urteils des polnisches Verfassungsgerichtshofs, der im Streit mit dem Europäischen Gerichtshof nationalem polnischem Recht Vorrang vor EU-Recht eingeräumt hat, und das auch noch auf dem heiklen Gebiet der polnischen Justizreform.
Erwartbar die allgemeine europäische Entrüstung, die parteienübergreifende Zurückweisung des Urteils in Brüssel und der Ruf nach finanziellen Sanktionen. Kein EU-Land könne sich selbst aus dem EU-Rechtsrahmen herausnehmen! Oder das Land müsse die EU verlassen. Ob denn die polnische Regierung den Polexit wolle?
Sicherlich nicht! Die Fleischtöpfe der EU sind viel zu attraktiv, als dass ein Land wie Polen ihnen den Rücken kehren wollte. Rund 36 Milliarden an Transfers und Kreditlinien sind durch das europäische Rettungspaket 2020 nach Warschau geflossen. Die PiS will ihre großzügige Sozialpolitik vor den nächsten Wahlen damit finanzieren.
Auch die polnischen Bürger:innen, die zu Tausenden auf der Straße waren, wollen keinen Polexit. Vor allem die polnischen Frauen oder die LGTB-Community wissen sehr genau, welche Freiheitsrechte sie der EU verdanken.

"Get back control!" schreien überall die Populisten

Das Problem ist, dass sich EU-Recht und seine Durchsetzung zunehmend als porös erweisen. Die Unabhängigkeit des Justizwesens oder der Medien in Polen – aber auch in Ungarn – stehen seit Jahren im Fokus der Debatte um die Einhaltung der EU-Rechtsstaatlichkeit. Hinzugekommen in Polen ist ein Grenzkonflikt an der polnisch-belarussischen Grenze.
Grenzschließung, Souveränität, Schutz des eigenen Territoriums vor Flüchtlingen: Dies ist populistische Rhetorik. Die afghanischen Flüchtlinge symbolisieren den möglichen Kontrollverlust im eigenen Land. Das hat schon beim Brexit gut funktioniert, "get back control" war auch das Motto von UKIP.
Es gibt noch mehr Politikfelder, in den die Polen quer zu europäischen Absichten stehen. Auch bei der Verpflichtung zur Stilllegung von Kohlekraftwerken durch die EU könnte nationale Souveränität wieder zum Thema werden.
"Get back control": Es geht um souveräne Rechtssetzung und nationale Handlungsoptionen in Politikfeldern, in denen es besonders weh tut, sich an EU-Recht und EU-Vorgaben zu halten: unabhängige Medien und Gerichte, Asylrecht, Klimavorgaben, Abtreibungsrecht.

Auch andere Länder wenden sich gegen EU-Recht

Damit wiederum steht Polen bei weitem nicht allein. Der Vorrang europäischer Rechtsprechung ist derzeit auch mit Blick auf das Nordirlandabkommen im Rahmen des Brexit-Vertrags unter Beschuss, und es ist fraglich, ob Boris Johnson hier den EuGH als letzte Instanz akzeptieren wird.
Auch das Vertragsverletzungsverfahren, dem sich die Bundesregierung derzeit ausgesetzt sieht, weil das Bundesverfassungsgericht mit Blick auf die Anleihekäufe der EZB ein Urteil des EuGH zurückgewiesen hat, ist wenn auch nicht vergleichbar, so doch nicht hilfreich. Zumindest signalisiert es, dass sich offenbar jedes Land gerne einmal gegen höchstrichterliche Beschlussfassungen aus Europa wendet, und zwar da, wo der europäische Schuh am meisten drückt.

Die EU ist faktisch nicht souverän

Es geht also grundsätzlich um die Frage, wer in Europa entscheidet und wie das demokratisch legitimiert wird. Es geht darum, dass die EU tatsächlich nicht souverän ist, so dass sie eine Missachtung ihres Rechts zwar sanktionieren, aber letztlich nicht ändern kann. Es geht darum, dass nationale Souveränität und EU-Recht seit Jahrzehnten in einem Spanungsverhältnis stehen, dass Rechtsraum und politischer Raum in Europa nicht kongruent sind und europäisches Recht nicht nur ein Souveränitäts-, sondern vor allem ein Legitimitätsproblem hat.
Wenn Polexit, Dexit, Öxit, Frexit oder die langsame Erosion des europäischen Rechts weder Zukunft noch Lösung sind, dann wird es Zeit, nicht länger nur die Populisten an den Pranger zu stellen, sondern eine grundlegende Vertragsreform der EU zu wagen.

Ulrike Guérot ist Professorin für Europapolitik an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität in Bonn und Co-Direktorin des CERC (Centre Ernst Robert Curtius), einem interdisziplinären europäischen Forschungsinstitut. Zugleich ist sie Gründerin des European Democracy Labs in Berlin. Im Herbst 2019 wurde sie mit dem Paul-Watzlawick-Ehrenring sowie dem Salzburger Landespreis für Zukunftsforschung ausgezeichnet. 2020 erschien ihr Buch "Nichts wird so bleiben wie es war?" (Molden).

Ulrike Guérot im Porträt
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