Verfechterin der Aufklärung
Als türkisch-kurdisch-deutsche Anwältin hat Seyran Ates die Dringlichkeit eines radikalen Wandels islamischer "Sexualmoral" immer wieder bestätigt bekommen, als politische Publizistin fordert sie ihn seit Jahren in jedem öffentlichen Forum ein. Nun hat sie eine Streitschrift zu dem Thema veröffentlicht.
Worum es geht, steht klar und schnörkellos auf dem Cover: Der Islam braucht eine sexuelle Revolution, und dies ist eine Streitschrift. Den Streit muss man hierzulande nicht mehr vom Zaun brechen. Er schwelt bereits, institutionalisiert, medial verstärkt, aber vor allem informell, an Tee-, Kaffee- und Stammtischen, unter Frauen und Männern, und nicht zuletzt dank Seyran Ates selbst. Als türkisch-kurdisch-deutsche Anwältin hat sie die Dringlichkeit eines radikalen Wandels islamischer "Sexualmoral" immer wieder bestätigt bekommen, als politische Publizistin fordert sie ihn seit Jahren in jedem öffentlichen Forum ein.
"Zwangsverheiratung", "Ehrenmord", "Kopftuchzwang", Mädchen, die nicht an Sport und Ausflügen teilnehmen dürfen, Frauen, die das Haus nur in männlicher Begleitung verlassen dürfen, Männer, die fremden Frauen, und Frauen, die fremden Männern nicht in die Augen sehen dürfen - warum klebt all das heute wie dicke, blutrote Pinselstriche auf dem Bild, das "wir Westler" von "den Muslimen" haben? Weil es auch Realität muslimischen Lebens in unserer Gesellschaft ist, sagt Seyran Ates. Und weil es ein fataler Fehler war, darüber hochmütig oder romantisierend hinwegzugehen, so als seien "wir Westler" weit davon entfernt. 1968, die neue Frauenbewegung, öffentliche Schwule und Lesben, Sexualkundeunterricht, Oswalt Kolle, Dr. Sommer sind gerade mal gut eine Generation alt. Wir hatten eine sexuelle Revolution, und wir hatten sie nötig. Diese Erfahrung, sagt Seyran Ates, gehört "instandbesetzt" und für muslimisches Leben bewohnbar gemacht.
Was dem Islam weltweit fehlt, so (nicht nur) ihre Argumentation, ist eine Epoche der Aufklärung, wie sie das Christentum in Europa durchgemacht hat. Sie war der entscheidende Modernisierungsschub. Die Trennung von Kirche und Staat, das universelle Menschenrecht auf Freiheit, Gleichheit und die Entfaltung des Individuums bilden das kulturelle Fundament moderner Gesellschaften.
Warum aber "nur" eine sexuelle Revolution? Weil der Knackpunkt immer und überall das Verhältnis der Geschlechter ist - angelsächsisch gesagt: sex und gender. Und weil der Kern der falschen islamischen Sexualmoral ein "Jungfrauenwahn" ist. Das gleichnamige Kapitel ist das stärkste im Buch. Wie in allen anderen Kapiteln auch verknüpft sie hier eigenes Erleben, Interviews mit Musliminnen aus aller Welt und Diskurse aus Religion, Sozio-Psychologie, Politik und Kultur am dichtesten, und diese Mischung erdet die Streitschrift und macht sie plausibel. Am intakten Jungfernhäutchen hängt alles - vom "Wert" der Frau, zu der es gehört, bis zur Ehre der ganzen Familie. So verstandene "Reinheit" macht aus Sex zwangsläufig Schmutz, Unglück, Gewalt.
Um es ebenso klar und schnörkellos zu sagen: Nichts an diesem neuen Buch von Seyran Ates ist neu oder originell - aber alles daran und darin ist wichtig, sogar dringend nötig. Denn dieser Streit muss raus aus dem untergründigen Schwelen und Grummeln, er muss endlich toben. Mit der Selbstbestimmung aller Frauen steht und fällt die innere Friedlichkeit und Freiheit jeder Gesellschaft. Die hiesige Frauenbewegung ging damals auf die Straße mit dem Slogan "Mein Bauch gehört mir!" Wenn diese Streitschrift nur ein bisschen so zündet wie seinerzeit Betty Friedans "Weiblichkeitswahn", dann hören wir bald bei Demos vielleicht: "Mein Hymen gehört mir!"
Besprochen von Pieke Biermann
Seyran Ates: Der Islam braucht eine sexuelle Revolution. Eine Streitschrift.
Ullstein Buch Verlage, Berlin 2009
224 Seiten, 19,90 Euro
"Zwangsverheiratung", "Ehrenmord", "Kopftuchzwang", Mädchen, die nicht an Sport und Ausflügen teilnehmen dürfen, Frauen, die das Haus nur in männlicher Begleitung verlassen dürfen, Männer, die fremden Frauen, und Frauen, die fremden Männern nicht in die Augen sehen dürfen - warum klebt all das heute wie dicke, blutrote Pinselstriche auf dem Bild, das "wir Westler" von "den Muslimen" haben? Weil es auch Realität muslimischen Lebens in unserer Gesellschaft ist, sagt Seyran Ates. Und weil es ein fataler Fehler war, darüber hochmütig oder romantisierend hinwegzugehen, so als seien "wir Westler" weit davon entfernt. 1968, die neue Frauenbewegung, öffentliche Schwule und Lesben, Sexualkundeunterricht, Oswalt Kolle, Dr. Sommer sind gerade mal gut eine Generation alt. Wir hatten eine sexuelle Revolution, und wir hatten sie nötig. Diese Erfahrung, sagt Seyran Ates, gehört "instandbesetzt" und für muslimisches Leben bewohnbar gemacht.
Was dem Islam weltweit fehlt, so (nicht nur) ihre Argumentation, ist eine Epoche der Aufklärung, wie sie das Christentum in Europa durchgemacht hat. Sie war der entscheidende Modernisierungsschub. Die Trennung von Kirche und Staat, das universelle Menschenrecht auf Freiheit, Gleichheit und die Entfaltung des Individuums bilden das kulturelle Fundament moderner Gesellschaften.
Warum aber "nur" eine sexuelle Revolution? Weil der Knackpunkt immer und überall das Verhältnis der Geschlechter ist - angelsächsisch gesagt: sex und gender. Und weil der Kern der falschen islamischen Sexualmoral ein "Jungfrauenwahn" ist. Das gleichnamige Kapitel ist das stärkste im Buch. Wie in allen anderen Kapiteln auch verknüpft sie hier eigenes Erleben, Interviews mit Musliminnen aus aller Welt und Diskurse aus Religion, Sozio-Psychologie, Politik und Kultur am dichtesten, und diese Mischung erdet die Streitschrift und macht sie plausibel. Am intakten Jungfernhäutchen hängt alles - vom "Wert" der Frau, zu der es gehört, bis zur Ehre der ganzen Familie. So verstandene "Reinheit" macht aus Sex zwangsläufig Schmutz, Unglück, Gewalt.
Um es ebenso klar und schnörkellos zu sagen: Nichts an diesem neuen Buch von Seyran Ates ist neu oder originell - aber alles daran und darin ist wichtig, sogar dringend nötig. Denn dieser Streit muss raus aus dem untergründigen Schwelen und Grummeln, er muss endlich toben. Mit der Selbstbestimmung aller Frauen steht und fällt die innere Friedlichkeit und Freiheit jeder Gesellschaft. Die hiesige Frauenbewegung ging damals auf die Straße mit dem Slogan "Mein Bauch gehört mir!" Wenn diese Streitschrift nur ein bisschen so zündet wie seinerzeit Betty Friedans "Weiblichkeitswahn", dann hören wir bald bei Demos vielleicht: "Mein Hymen gehört mir!"
Besprochen von Pieke Biermann
Seyran Ates: Der Islam braucht eine sexuelle Revolution. Eine Streitschrift.
Ullstein Buch Verlage, Berlin 2009
224 Seiten, 19,90 Euro