"Ich war sehr überrascht von diesem Verbot"

Der Bestsellerautor Tom Rob Smith ist aus allen Wolken gefallen als er erfuhr, dass die Verfilmung seines Romans "Kind 44" in Russland nicht in die Kinos darf. Angeblich sei die Stalin-Zeit in der Sowjetunion zu negativ wiedergegeben worden.
Susanne Burg: Der Roman "Kind 44" ist 2008 erschienen, wurde zu einem internationalen Bestseller und ist in 32 Sprachen übersetzt worden. Haben Sie selbst irgendwann gedacht: Klar, es ist nur noch eine Frage der Zeit, wann daraus ein Film wird?
Tom Rob Smith: Also, mittlerweile ist das Buch sogar in 34 Sprachen übersetzt worden. Und ich hatte damals, als ich anfing, noch überhaupt keine Verträge abgeschlossen, keine Deals gemacht, keinen Agenten gehabt, nicht einmal Verleger gehabt. Und die Wahrheit ist sogar, die Filmrechte sind auf Basis des Manuskripts gekauft worden, also noch nicht mal der definitiven Buchform. Also, sie haben sich da wirklich nur auf den Text konzentriert, als sie die Filmrechte gekauft haben.
Burg: Interessant. Dann vergingen ja noch viele Jahre, bis letztendlich Ridley Scott bei Ihnen anklopfte und sagte, er wolle den Film produzieren. Wie war das?
Smith: Nun, es war ja so, dass eigentlich da gar nicht so ein großer Zeitunterschied bestand. Das waren vielleicht gerade mal zwei Monate, als die Filmrechte letztendlich gekauft worden sind. Weil, das Buch wurde erst einmal angeboten, und als es sich dann verkauft hatte in Großbritannien und in den USA, in dieser Zeit bekam ich da schon diesen Anruf. Und das war natürlich vollkommen surreal. Als ich in einem Park in Nordlondon spazieren ging, plötzlich klingelt mein Handy und die persönliche Assistentin von Ridley Scott fragt mich, ob ich denn bereit wäre, einen Telefonanruf von Ridley Scott anzunehmen. Und der ist einer meiner wirklich Lieblingsregisseure, jemand, den ich wirklich sehr, sehr verehre. Und das war schon eine verrückte Situation.
Burg: Ihr Roman ist atmosphärisch unglaublich dicht, die Handlungsstränge sind komplex, Sie erzählen viel russische Geschichte mit. Im Roman schreiben Sie in der dritten Person, aus der Perspektive der Figur, die gerade im Mittelpunkt steht, und können auf diese Art und Weise natürlich auch viele Gedanken der Personen mitliefern. Hatten Sie Sorge, dass etwas im Film davon verloren gehen würde?
In der Verfilmung auf die Schlüsselfiguren verkürzt
Smith: Ja, Sie haben natürlich vollkommen recht, das Buch besteht aus 130.000 Wörtern, es gibt unglaublich viele Figuren, Charaktere, und die auch noch jeweils aus ihrem eigenen Standpunkt heraus die Geschichte erzählen. Und in einem Buch ist es relativ einfach, das zu machen, da kann man auch leicht wechseln, da ist es auch möglich, innerhalb nur weniger Seiten einen Charakter, eine Figur zu etablieren, zu entwickeln, ohne den Leser damit zu überfordern. Das ist natürlich in einem Film alles sehr viel schwieriger und genau darin bestand auch die sehr große Herausforderung. Aber ich muss dann als Autor auch akzeptieren, dass es bei einer Verfilmung sehr große Veränderungen geben wir, dass man sich dann nur auf die Schlüsselfiguren konzentriert.
Burg: Wie ist das Ihrer Meinung nach im Film aufgegangen?
Smith: Ja, wie gesagt, man hat das natürlich auf die Schlüsselfiguren konzentriert in der Verfilmung. Aber ich finde wirklich, dass die Hauptdarsteller Tom Hardy und auch Noomi Rapace wirklich herausragend sind und dass ihre Liebesgeschichte und ihre Paargeschichte wirklich ganz stark dargestellt wird. Und er braucht, also die Hauptfigur, von Tom Hardy gespielt, braucht eine Weile, um sich klar zu werden, dass sie ihn ursprünglich einmal nur aus Angst geheiratet hat und er hat sich da immer nur etwas eingebildet. Aber für mich ist das wirklich ein Höhepunkt des Films, die Art, wie die beiden diese Hauptfiguren darstellen. Und ich muss ehrlich sagen, ich bin richtig stolz auf diesen Film. Und Daniel, der Regisseur, ist ein sehr, sehr talentierter Regisseur. Also, ich finde, dass es in diesem Film ganz starke Momente gibt.
Burg: Gleichzeitig gibt es aber auch die Kritik, dass die Handlung im Film verwirrend ist, dass sie der Komplexität des Romans nicht gerecht wird. Außerdem wurde kritisiert, dass keine einzige große Rolle mit einem Russen besetzt worden war. Können Sie diese Kritik nachvollziehen?
Smith: Also, ehrlich gesagt, finde ich die Frage etwas seltsam. Weil, ich habe ja nichts weiter getan, als mein Buch, als die Filmrechte an meinem Buch verkauft. Ich habe nicht das Drehbuch geschrieben, ich habe hier auch nicht Regie geführt. Und ich finde, bevor man selber nicht einmal ein Buch adaptiert hat, hat man auch nicht wirklich das Recht, die Arbeit anderer zu kritisieren. Und das Gleiche gilt auch für die Regie. Wenn es jetzt um solche Fragen wie das Casting geht, dann sind das sehr komplizierte Prozesse, die auch einer ganz eigenen Logik gehorchen müssen, das ist eine Frage des Budgets, das sind Fragen der Finanzierung. Natürlich wäre es sehr schön gewesen, diesen Film auch in Moskau zu drehen, aber vergessen Sie nicht, der Film ist jetzt sogar in Russland verboten worden. Es ist also höchst unwahrscheinlich, dass man uns überhaupt die Dreherlaubnis erteilt hätte, den Film auch dort zu drehen. Und was jetzt meine Reaktion auf die Kritiken anderer, auch die Verfilmung anbelangt, da bin ich der Meinung – das ist auch meine Meinung, was mein Buch anbetrifft –, jeder hat das Recht auf seine eigene Meinung, aber ich möchte das nicht näher kommentieren. Und ich kann nur wiederholen, dass ich finde, dass es in diesem Film wirklich großartige Momente gibt und dass es Zuschauer gibt, die das als sehr faszinierend empfunden haben.
Überrascht über das Verbot des Films in Russland
Burg: Sie haben es eben schon erwähnt, in Russland sollte "Kind 44" Mitte April anlaufen, aber der Kulturminister Wladimir Medinski hat die Premiere abgesagt mit der Begründung, die Stalin-Ära komme zu schlecht weg, außerdem würden historische Fakten verzerrt. Sie haben daraufhin getwittert: Welche historischen Fakten wurden verzerrt? Hungersnöte, Verfolgung von Schwulen und Lesben, der Geheimdienst? Wie ordnen Sie dieses Verbot ein?
Smith: Also, ganz ehrlich, ich war sehr überrascht von diesem Verbot, weil, das Buch ist ja in Russland veröffentlicht worden und ist auch ziemlich gut gelaufen. Und deswegen hat es mich doch sehr überrascht, zumal mein Verleger und ich immer sehr offen waren, wenn es Kritikpunkte gab, wenn vielleicht kleinere Details nicht gestimmt haben, wenn ich vielleicht bei einer Metrostation ein Detail nicht richtig erwähnt habe oder mich in einer Straßenbeschreibung geirrt habe. Aber das waren wirklich Kleinigkeiten, die wir dann auch wirklich bereitwillig geändert haben. Ich bleibe aber dabei, dass die großen historischen Fakten einfach stimmen. Und es ist wirklich so, dass es diese schrecklichen Hungersnöte einfach gab, dass die Leute wirklich unter schrecklichen Bedingungen teilweise gelebt haben, dass die Geheimpolizei unglaublich brutal und mörderisch war und dass Stalin ein mörderischer Diktator war. Daran kann eigentlich kein Zweifel bestehen. Und ich hätte auch nie geglaubt, als ich das Buch schrieb, dass es jemals darüber eine Debatte geben könnte, was die Rolle dieses Regimes angeht.
Mir ist einfach nur klar, unter so einem Regime hätte ich niemals leben wollen, und wenn ich das hätte tun müssen, hätte man mich wahrscheinlich hingerichtet. Und deswegen hat mich auch vieles wirklich verblüfft, weil, ich habe keinen Kommentar zum aktuellen Russland gemacht mit meinem Buch, sondern hier handelt es sich eindeutig um die Vergangenheit. Und eigentlich sind diese Fakten generell akzeptiert, was ich dort beschreibe. Und dass jetzt der Kulturminister mir praktisch vorwirft, mein Buch wäre ein Kommentar über das moderne Russland, das war niemals meine Intention. Durch dieses Verbot ist es das unfreiwillig in einer gewissen Weise jetzt natürlich geworden. Aber ein Punkt, der mich auch wirklich unglaublich geärgert hat, ist, dass man jetzt versucht, das Stalin-Regime in irgendeiner Weise zu rechtfertigen. Und damit hätte ich wirklich niemals gerechnet. Und der Vorwurf, ich hätte die Rolle der Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg herabgewürdigt, der ist einfach absurd, weil Leo, die Hauptfigur in dem Buch und auch in dem Film, das ist ja immer klar, dass er gegen den Faschismus gekämpft hat, dass er da eine sehr aktive Rolle gespielt hat, dass er sehr tapfer war, dass er gesehen hat, wie seine Kameraden ums Leben gekommen sind und dass das in seinem Leben einen sehr großen Einfluss gehabt hat. Und ich denke, dass dieser Vorwurf da einfach auch komplett unberechtigt ist.
Burg: Ihr Fall ist ja in gewisser Weise nicht der einzige, immer wieder gehen Behörden gegen Kunst vor. Russische Künstler fürchten, die Staatsführung wolle den Kulturbetrieb gleichschalten. Mit wie viel Sorge beobachten Sie die Entwicklung in Russland?
Film ist bereits auf Russisch synchronisiert worden
Smith: Ich kann dazu wirklich nur sagen, dass ich die ganze Situation extrem beunruhigend finde, dass ich das niemals geglaubt hätte, als ich das Buch schrieb, dass der Film eines Tages verboten werden könnte, ich hätte es schlicht für unmöglich gehalten. Und ich weiß auch gar nicht, was ich dazu noch anderes sagen soll, außer dass man sich wirklich fragt, wie weit werden Sie diesen Weg jetzt noch weiter gehen! Und wenn man sich das Verbot eben ein bisschen genauer anschaut – und wie gesagt, ich verdiene kein Geld damit, ob der Film in Russland herauskommt oder nicht –, aber es waren 600 Kopien bereits fertiggestellt worden, der Film war auf Russisch synchronisiert worden, es waren Poster gedruckt worden. Also, der Verleiher, der den in Russland rausbringen wollte, hat jetzt auch hohe finanzielle Kosten zu tragen. Ich weiß nicht, ob Leute deswegen jetzt ihren Job verloren haben, inwiefern das die Leute auch finanziell getroffen hat. Es ist sogar schwer mittlerweile herauszubekommen, ob in dem Kontext mein Buch jetzt auch verboten ist. Es ist schwierig, überhaupt an meinen Verleger heranzukommen, überhaupt an Informationen zu kommen. Also, die ganze Situation ist sehr beunruhigend und auch sehr verwirrend.
Burg: Sie haben ja nach dem Erfolg von "Kind 44" weitergeschrieben. Angefangen haben Sie als Drehbuchautor und sich dann aber ganz aufs Romanschreiben konzentriert. Nun haben Sie aktuell eine fünfteilige Miniserie kreiert und geschrieben, die im Spionagemilieu angesiedelt ist und noch in diesem Jahr von der BBC ausgestrahlt werden soll, "London Spy". Finden Sie jetzt Ihren Weg wieder zurück zum Film?
Smith: Ja, also, in erster Linie sehe ich mich als einen Geschichtenerzähler und ich liebe es, Geschichten zu erzählen. Und Geschichten müssen auch in verschiedenen Formaten erzählt werden. Und hier bei "London Spy", in dem unter anderem Charlotte Rampling und Jim Broadbent mitspielen, das war mir von vornherein klar, dass das eine sehr visuelle Geschichte wird, die sich einfach viel besser in dem Fall für eine Serie im Fernsehen eignen wird. Ich habe das für die BBC geschrieben. Aber ich bin jetzt auch in Los Angeles unterwegs und dann wird man sehen, ob es nicht auch Möglichkeiten für amerikanische TV-Serien geben wird. Ich habe wirklich viele Pläne und ich schreibe auch nach wie vor wirklich gerne Bücher. Ich denke, es hängt immer so ein bisschen auch von den Umständen ab, was daraus werden soll.
Burg: Wir freuen uns dann auf die zukünftigen Ergebnisse. Tom Rob Smith, vielen Dank für das Gespräch! Thank you very much for talking to us!
Smith: No problem, thank you!
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