Verfilmung von Peter Stamms "Agnes"

Keine Ergänzung, eine Interpretation

Der Schweizer Autor Peter Stamm
Der Schweizer Autor Peter Stamm © imago/Sven Simon
Von Patrick Wellinski |
Fast zehn Jahre sind seit Peter Stamms Romandebüt "Agnes" vergangen. Nun wurde er für die Kinoleinwand verfilmt. Wie ist es für den Schweizer Schriftsteller, wenn seine Figuren plötzlich reale Gesichter erhalten?
"Agnes fiel mir gleich auf, als sie sich im Lesesaal vor mich setzte. Ihr Gesicht war schmal und bleich. Unsere Blicke trafen sich für einen Moment."
Es ist eine Urformel des Geschichtenerzählens - nicht nur im Kino: Boy meets Girl.
"Hi!"
"Hi!"
"Arbeitest du oft in der Bibliothek?"
"Ja?"
"Ich recherchier' für ein Sachbuch. Deutsche Unternehmer der Gründerzeit."
"Interessiert dich das?"
"Ja, ich denke schon."
Plötzlich ist nichts mehr so wie es war
Nein, das denkt er nicht. Walter, Autor mit Schreibkrise, interessiert sich in der U-Bahn nur für Agnes, die Teilchenphysikerin. Aus dem Flirt wird eine Affäre. Aus der Affäre eine Beziehung. Schreib doch unsere Geschichte auf, sagt Agnes. Und plötzlich ist nichts mehr so - wie es war:
"Ich bin Schwanger!"
"Bist du sicher?"
"Ich war beim Arzt. Du wolltest doch, dass das passiert."
"Ich dachte, du nimmst die Pille."
"Der Arzt sagt, das kann auch mit Pille passieren."
"Hast du das etwa absichtlich ... für die Geschichte?"
"Sag mal hast du sie noch alle?"
"Wir kennen uns doch kaum."
"Findest du?"
"Du etwa nicht?"
Fast zehn Jahre sind seit Peter Stamms Romandebüt "Agnes" vergangen. Nun kommt der Stoff ins Kino. Es ist die erste Stamm-Verfilmung überhaupt. Darauf angesprochen, weshalb von all seinen Büchern gerade sein Erstling auf die große Leinwand kommt, gibt sich der Schweizer prägnant:
"Vielleicht liegt es ja gerade daran, dass er der Erste war. Und dann kommt der zweite, dann der dritte, dann der vierte (lacht). Nein, es gab ja von anderen auch Projekte. Aber es hat hier bestimmt geholfen, dass das Buch an sich so weit verbreitet ist?"
Denn "Agnes" hat es mittlerweile zum Abiturstoff in Baden-Württemberg geschafft. Doch vom Charme einer Schullektüre hat sich Regisseur Johannes Schmid weit entfernt. Wie übrigens auch von der Vorlage, was Peter Stamm nur recht war.
"Man muss den Leuten freie Hand lassen"
"Ich hatte ein erstes Drehbuch zu "Agnes" schon mal selbst geschrieben. Es ist dann am Geld gescheitert, wie so oft. Und so jung ist der Johannes Schmid ja gar nicht. Und ich hatte das Gefühl, er hat gut Ideen. Er hat ein Bild von dem, was er machen will. Und dann – finde ich – wenn daraus irgendetwas werden will, muss man den Leuten freie Hand lassen."
Und so ist die Leinwandvariante des "Agnes"-Stoffs keine Ergänzung zum Buch geworden, sondern eine Interpretation. Schmid verdichtet sehr viel. Nähert sich dem Kammerspiel mit langen Pausen und Blickwechseln zwischen den beiden Hauptfiguren. Dass trotz Reduktion der Kern seines Buches erhalten geblieben ist, hat Peter Stamm beim Anschauen des Films.
"Naja, das fängt schon damit an: Bei mir spielt das Ganze in Chicago, hier in Deutschland. Dann bekommen die Figuren Gesichter, was für einen Autor immer seltsam ist, weil man dann ja im Kino seine eigene Fantasie vorgesetzt bekommt. Und dann werden Figuren weg gelassen. Und solche Sachen. Das ist aber nichts Wesentliches. Es ist immer erstaunlich, wie viel man weglassen kann, ohne das zu verfälschen."
Spiel mit der Grenze von Realität und Fiktion
"Ich küsste ihren Nacken. Ich hatte lange über diesen Augenblick nachgedacht. Aber als ich sprechen wollte, hatte ich alles vergessen. Also sagte ich nur: willst du zu mir ziehen?"
"Und was sagt sie?"
"Agnes setzte sich auf und schaute ihm ins Gesicht. Meinst du das wirklich?"
Das Grundprinzip des Romans, das Spiel mit der Grenze von Realität und Fiktion, überträgt Johannes Schmid raffiniert auf die Leinwand. Es ist das Schreiben selbst, das plötzlich etwas Gewaltiges bekommt, etwas, von dem auch eine gewisse Gefahr ausgeht. Und so erscheint auch dem Agnes-Schöpfer sein eigener Stoff plötzlich in einem anderem Licht:
"Ja, schon. Für mich ging's eher ums Bildermachen. Daher ist der Film vielleicht näher am Kern als das Buch. Es geht darum, dass wir uns immer Bilder machen von Menschen. Und damit ist natürlich eine Gefahr verbunden. Also, dass man den Menschen auch zwingt diesen Bildern zu entsprechen."
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