Verführt unterm Fallbeil

Von Frieder Reininghaus · 09.04.2009
"Marie Victoire" gehört zu den Nachzüglerinnen der Schreckens- und Rettungsopern. Das Werk entstand am Vorabend des Ersten Weltkriegs im Gefolge von Umberto Giordanos "Andrea Chénier" (1896) und unter Reflex auf das Erfolgsmodell der "Tosca" von Puccini.
Die vierte der insgesamt zehn Arbeiten von Ottorino Respighi für die Musikbühne stellt ein Gegenmodell zu Beethovens "Fidelio" dar: Die bretonische Landadlige Marie, die sich später den bürgerlichen Namen Victoire zulegt, erweist sich in der Endphase der ersten französischen Revolution, in der es den Adligen an den Kragen ging, nicht als treue Ehefrau und Retterin des Gatten, sondern als verführbar – in einer Extremsituation. In der Nacht vor ihrer anberaumten Hinrichtung erhört sie in der Todeszelle Clorivière, einen Freund ihres Mannes. Weil am 27.7.1794 Robespierre entmachtet wurde und selbst "in den Sack niesen mußte", daraufhin die Terrorwelle abebbte, überlebt sie – allerdings mit schweren Schuldgefühlen. Sie eröffnet in Paris eine feine Hutmacherei, zieht einen Sohn auf. Durch Zufall treffen die beiden Männer ihres Lebens bei ihr wieder aufeinander.

Das Libretto von Edmond Guiraud folgte dessen gleichnamigem Schauspiel über Joseph de Clorivière, einen bretonischen Chevalier. Der war am Heiligen Abend des Jahres 1800 Miturheber des Bombenattentats auf Napoleon I. – Dutzende Passanten wurden Opfer einer legendären "Höllenmaschine". Guirauds Handlung entwickelt warme Sympathie für die von Menschenwürde beseelten und kultursinnigen Aristokraten, tiefer Verachtung für das opportunistische Volk sowie die hässlich fanatischen und primitiv selbstsüchtigen Jakobiner.

Da nun aber nicht nur dieser parteilich eifernde Blickwinkel auf die französische Konterrevolution, sondern auch das von Ottorino Respighi (1879¬–1936) kolportierte Bild der aus Schwäche verführbaren Frau zumindest schräg erschien, wurde von der für 1915 vorgesehenen Uraufführung Abstand genommen. Auch später gab es keinen Bedarf, das monströse Stück ans Licht der Opernwelt zu holen, obwohl der Komponist zu den großen Profiteuren der faschistischen Herrschaft in Italien und zum erfolgreichen Zulieferer von deren Rom-Kult avancierte (zwischen den Uraufführungen von "Fontane di Roma" und "Pini di Roma" fand der "Marsch auf Rom" statt, und mit "Feste romane" legte der vom Duce höchstdekorierte Komponist noch einmal nach). Uraufgeführt wurde "Marie Victoire" (unter Beibehaltung des französischen Librettos) erst 2004 im Teatro dell’Opera in Rom; nun erfolgte die Deutsche Erstaufführung an der Deutschen Oper Berlin (wiederum französisch gesungen).

Prächtige Sonnenaufgangsmusik quillt aus allen symphonischen Rohren, durch die hörbar auch schon Puccini, Richard Strauss und Debussy flossen und ihre Ablagerungen hinterließen. Michail Jurowski legt er den Strom der Töne allzu breit an. Er scheint immer wieder in breitwandsymphonische Filmmusik zu münden. In der pompösen Tonspur finden sich ausführliche Menuett-Zitate eingelagert, die mit zarteren Tinten die Ära des Rokoko beschwören. An kunsthandwerklicher Fertigkeit herrscht auch hinsichtlich der Bühnenbilder kein Mangel: ein teilramponiertes spätes 18. Jahrhundert deutet die nostalgisch schöne Ausstattung von Susanne Thomasberger und Petra Reinhardt an, zunächst hinter großen weißen Laken. Vorn sammelt sich die von gesellschaftlichem Umbruch bedrohte Aristokratie ums Rosenholz-Cembalo, aus dem Hintergrund drohen die Stimmen der Sansculotten. Die Bedrohung durch jakobinische Dekrete und den terroristischen Strafvollzug wächst. Während ihr Mann entkommen und ins Exil gehen kann, wird Freifrau Marie verhaftet, in einer umgewidmeten Kapelle gefangengehalten, zur Liquidation vorgesehen und im fidelen Gefängnis, in dem Singspiel einstudiert und Menuett getanzt wird, verführt – s.o. Takesha Meshé Kizart bestreitet die Partie der liebenden und leidenden Marie mit warmer sympathischer Stimme, die in den Krisensituationen freilich auch große Kraft entfaltet und förmlich explodieren kann. Mit Markus Brück (als Ehemann), Germán Vilar (als Liebhaber) sowie Stephen Bronk (als Gärtner und interimistischem Gefängniswärter) sind auch die wichtigsten männlichen Rollen gut besetzt. Doch die Inszenierung von Johannes Schaaf dringt über die narrative Oberfläche nicht zu einer kritischen Darstellung dessen vor, was das Stück hinsichtlich (herbeigenötigter) Liebe und (gewaltsamem) Tod als schaurig-schönen Abgrund anbietet. Das Rührstück riecht am Ende nicht frisch. Die Erweckung dieser Konterrevolutionsoper aus ihrem Dornröschenschlaf ist keine "Entdeckung", sondern eine politische Bekundung: diese aufwändige Produktion nimmt einem neuen Werk den Platz im Spielplan weg. Zwar läßt die Deutsche Oper reklamieren, "Marie Victoire" erweise sich Schrekers "Fernem Klang" und der "Frau ohne Schatten" von Hofmannsthal/Strauss als ebenbürtig – aber gerade auch im fehlenden Augenmaß dieser aberwitzigen These erweist sich die krähwinklige Beschränktheit der Clique, die gegenwärtig das Haus an der Bismarckstraße noch weiter ruinieren darf.

Ursprünglich war die Bayreuther Co-Intendantin Katharina Wagner, die ja aus einer Familie bekennender Nazis stammt, für die Inszenierung von "Marie Victoire" verpflichtet worden. Es wäre womöglich nicht ganz uninteressant gewesen, wie sie mit einem politisch so klar verorteten Werk Respighis, eines Kumpans ihres Großvaters Siegfried Wagner [1], verfahren wäre. Dass sie Kirsten Harms den Inszenierungsauftrag zurückzugeben hat und nicht weiter mit einem Rechtsausleger kokettierte, mögen ihr gute Geister geraten haben.

"Marie Victoire" von Ottorino Respighi
Deutsche Oper Berlin
Musikalische Leitung: Michail Jurowski
Inszenierung: Johannes Schaaf