Verführt von der Stasi
Die Staatssicherheitsdienst der DDR hatte ungefähr 170.000 inoffizielle Mitarbeiter. Doch nicht nur Erwachsene wurden zur Mitarbeit gezwungen, auch rund 8.000 Kinder und Jugendliche standen in Diensten der Stasi - die Filmemacherin Annette Baumeister hat mit dreien von ihnen gesprochen.
Susanne Führer: Heute Abend, am sehr späten Abend leider erst, zeigt die ARD den Film "Stasi auf dem Schulhof". Wer den Titel hört, der meint natürlich zu wissen, worum es geht, denn dass auch Kinder und Jugendliche von der Stasi bespitzelt wurden, das ist schlimm genug, aber dass die Staatssicherheit dafür auch noch Kinder und Jugendliche anwarb, das ist auch, glaube ich, heute noch vielen unbekannt. Annette Baumeister hat diesen Film gemacht, in dem drei Menschen zu Wort kommen, die als Jugendliche von und für die Stasi geworben wurden. Sie ist jetzt hier im Studio. Guten Tag, Frau Baumeister!
Annette Baumeister: Guten Tag!
Führer: Das klingt ungeheuerlich, Kinder und Jugendliche als Stasispitzel. Warum hat die Stasi das gemacht?
Baumeister: Da kann ich ein Zitat aus einer Doktorarbeit eines Führungsoffiziers zitieren: "Wir wollen den Jugendlichen ins Herz schauen, in die Seele kriechen." Die Staatssicherheit wollte wissen, was die Jugendlichen in ihrem Staat dachten, was sie fühlten, was sie vorhatten, und deshalb war es natürlich wichtig, unter Jugendlichen Spitzel zu haben.
Führer: Und warum waren ihnen die Jugendlichen so wichtig?
Baumeister: Weil die Jugendlichen die Zukunft des Sozialismus waren. Auf der Jugend sollte der Sozialismus aufgebaut werden, und da konnte nicht früh genug damit begonnen werden zu gucken, was denken die und wie können wir die beeinflussen.
Führer: Sie stellen in Ihrem Film drei Menschen vor – Kerstin, Elvira und Marko –, die eben als Jugendliche in die Fänge der Stasi geraten sind und angeworben wurden. Warum diese Jugendlichen? Also, nach welchen Kriterien hat die Stasi die Kinder ausgesucht?
Baumeister: Die Staatssicherheit wusste sehr genau, nach welchen Jugendlichen sie Ausschau hält. Da gab es quasi einen Katalog mit Kriterien, die diese Jugendlichen erfüllen sollten. Das waren Jugendliche, die aus sozial schwachen Familien kamen, Jugendliche, die vielleicht keinen Vater hatten, Jugendliche, die ein Anlehnungsbedürfnis an jemanden hatten, oder aber auch Jugendliche, die gern mal James Bond spielen wollten. Das waren so Jugendliche, die man kontaktieren konnte. Oder Jugendliche, die erpressbar waren, Jugendliche, die zum Beispiel zu schnell mal mit dem Moped gefahren waren oder die die falsche Zeitschrift im Unterricht dabei hatten, da konnte man andocken.
Führer: Die durften ja niemandem davon erzählen, also nicht mal den eigenen Eltern, und offenbar haben sich auch alle daran gehalten.
Baumeister: Das war ein entscheidender Punkt in der Anwerbephase, dass gleich beim ersten Treffen, da wurden die Jugendlichen gleich dazu angehalten, ein Schriftstück zu unterschreiben, und da unterschrieben sie, ich werde niemandem davon erzählen, nicht meinen Eltern, nicht meinem Lehrer, nicht meiner Oma, nicht meiner Tante. Und man denkt heute, na ja, ich kann ja trotzdem heimgehen, aber diese Unterschrift, die war so wichtig – man muss sich vorstellen, das waren 13-, 14- und 15-jährige Jugendliche, und die unterschreiben da was. Und da sitzt vor ihnen ein Führungsoffizier, und der sagt dann vielleicht noch, ja, wenn du darüber redest, dann gibt es Konsequenzen, dann reden wir wiederum mit deinen Eltern oder du kannst dann das Abitur nicht machen. Das war ganz geschickt gemacht.
Führer: Das ist ja die eine Seite, ja, dieser Druck, also Angst erzeugen, von Erpressbarkeit haben Sie gesprochen, aber es gibt ja auch die andere Seite, also diese Verführung. Die Kerstin erzählt ja ganz schön, also der Stasioffizier hat ihr dann eine Zigarette angeboten, hat mir ihr zusammen geraucht, die haben was getrunken, er hat sie auch mit dem Auto irgendwohin gefahren und wieder abgeholt, also sie fühlte sich eben auch ganz wichtig.
Baumeister: Genau. Dazugehören ist, glaube ich, das Stichwort.
Führer: Und so ausgewählt zu sein, die Ausgewählte zu sein.
Baumeister: Genau, ein Auserwählter oder eine Auserwählte zu sein, das heißt, von einer oberen Instanz wird man angesprochen und man bekommt gesagt, du bist ja gut und du kennst dich aus, und wir wollen mit dir reden, du bist ja clever. Natürlich fühlen sich Jugendliche da irgendwie umschmeichelt und geehrt erst mal. Und natürlich denken sie, hm, das macht ja vielleicht auch Spaß, mit Erwachsenen so zu sprechen, man wird ernst genommen. Da sagt nicht irgendjemand, das ist pubertäres Geschwätz, sondern der hört zu, wenn man Dinge erzählt. Das war ganz wichtig.
Führer: Diese Kerstin in Ihrem Film guckt auch noch mal in ihre Stasiakte und findet da eben auch Berichte, die sie über eine Mitschülerin geschrieben hat – gute Noten, aber politisch unzuverlässig. Da habe ich so gedacht, Mensch, da bekommt so diese Opfer-Täter-Frage eine ganz neue Dimension. Also was denkt man denn jetzt von einer 16-Jährigen, die so einen Bericht geschrieben hat?
Baumeister: Diese Frage ist schwierig, wer ist Opfer, wer ist Täter. Ich hab meinen Film so versucht zu machen – meine Grundannahme, Jugendliche und Kinder, die angesprochen worden sind, sind erst mal Opfer. Das darf nicht passieren, dass ein Staat seine Jugendlichen angeht und versucht zu missbrauchen oder verführt. Für mich sind die erst mal Opfer. Und dann guckt man natürlich in die Akten und stellt fest, hoppla, die hat ja über andere geredet, und dann kommt man auch als Autorin oder Filmemacher kommt man auch so ins Schwimmen und denkt, hm, was hat sie mit diesen Aussagen, mit ihren Erzählungen ausgelöst. Ich selbst habe, soweit es ging, versucht nachzurecherchieren, was meine drei Fälle ausgelöst haben, und da kann ich sagen, das, was ich recherchiert habe, bin ich der Überzeugung, dass da nichts Schlimmes ausgelöst worden ist. Aber auch dann, wenn was Schlimmes ausgelöst worden wäre, glaube ich, dass man am Ende sagen kann, da kann man nicht von Opfern und Tätern sprechen, sondern das sind zwei Opfer.
Führer: Die Filmemacherin Annette Baumeister im Deutschlandradio Kultur, heute Abend läuft ihr Film "Stasi auf dem Schulhof" in der ARD. Frau Baumeister, Sie haben gerade gesagt, Sie haben die immer zuerst als Opfer gesehen, und vielleicht ist es Ihnen deswegen auch gelungen, diese Menschen zum Sprechen zu bringen, denn da gehört ja auch sehr viel Mut dazu. Also ich hab die Kerstin sehr bewundert, dass sie sich in dem Film dem stellt und auch diese unangenehmen Seiten ihrer Geschichte da eben auch öffentlich erzählt. Wie ist Ihnen das gelungen?
Baumeister: Also die Recherchephase hat circa fünf Jahre gedauert, ich hab über 50 Betroffene getroffen, mit ihnen gesprochen, telefoniert, mich wieder getroffen, und am Ende war eine Hand voll bereit, sich offen dazu zu äußern, offen ihre Geschichte zu erzählen. Das ist erstaunlich: Man trifft sich mit Menschen, die sind heute Richter, die sind Lehrer, die arbeiten als Friseuse, also sie sind ein Querschnitt durch unsere bundesdeutsche Gesellschaft, und alle haben sie Angst, darüber zu reden. Die meisten haben nicht mal mit ihren Kindern oder mit ihren Ehepartnern darüber geredet, weil der Stempel, irgendwas mit der Stasi zu tun gehabt zu haben, so stigmatisiert, so negativ besetzt ist, dass sie einfach große Angst davor haben.
Führer: Na ja, die IM-Debatte in den letzten Jahrzehnten hat da natürlich ihren Beitrag geleistet, das ist ja klar. Man fragt sich natürlich auch, wie jetzt diejenigen, die da als Kinder, als Jugendliche geworben wurden, wie die das später verarbeitet haben, diesen Teil ihrer Biografie. Wir lernen in dem Film ja auch also Elvira und Marko kennen, und die erzählen davon, wie verzweifelt sie schon als Jugendliche waren, dass sie da für die Stasi Zuträgerdienste leisten mussten – so haben sie das empfunden. Und bei Marko war das ja so, er musste bei einem Unfall mit der Straßenbahn sein Bein verlieren, damit die Stasi ihn aus ihren Fängen ließ, und er sagt jetzt rückblickend, das hat ihn gerettet. Also da wird einem wirklich ja ganz schaurig zumute, bei diesem Satz.
Baumeister: Die drei Protagonisten haben alle so ihren individuellen Weg rausgefunden. Die Elvira hat schon nach einem Dreivierteljahr gesagt, da war sie noch minderjährig, nee, ich will nicht, ich kann das nicht, stopp. Kerstin hat ein bisschen länger gebraucht, aber auch sie hat es selber gesagt. Und beim Marko ist es tatsächlich der Fall, dass ein Unfall passieren musste, der ihn aus dieser Situation rausgeholt hat.
Führer: Die Anwerbung dieser Jugendlichen fand ja in der Schule selbst statt – wussten eigentlich die Lehrer, wussten die Schulleiter, was da vorgeht? Sie haben da einen Schulleiter in Ihrem Film, der das sozusagen damals gut fand und heute offensichtlich auch noch.
Baumeister: Es wussten sicherlich nicht alle Lehrer, aber ich würde mal sagen, die Führungsspitze, die Direktoren und die Konrektoren, die wussten darüber Bescheid. Und es fand tatsächlich in deren Räumen statt. Heute sagen sie, na ja, es fand in den Räumen statt, was da genau passiert ist, wusste ich, weiß ich nicht, geht mich auch nichts an, aber bei längerem Nachdenken hätten sie sich darüber im Klaren sein müssen, dass da was mit ihren Schülern, mit den Kindern, die sie eigentlich schützen sollten, passiert. Aber das ist auch Teil dieser kollektiven Verdrängung – was die da drinnen machen, in dem Raum, mit meinen Schülern, das interessiert mich nicht, das ist ja deren Job, ich hab einen ganz anderen Job zu tun.
Führer: In Ihrem Film heißt es, am Ende der DDR seien 8.000 Kinder und Jugendliche IMs, also inoffizielle Mitarbeiter, der Staatssicherheit gewesen gegenüber rund 170.000 erwachsenen IMs. Wie schätzen Sie, Frau Baumeister, deren Rolle, deren Bedeutung, deren Größe ein?
Baumeister: So brutal es klingt, ich glaube, sie waren nicht wichtig. Weil das, was aufgeschrieben worden ist, in der Gesamtschau, war Schulhofsgeschwätz, waren Petzereien unter Schülern …
Führer: Die aber doch große Folgen haben konnten.
Baumeister: Genau, genau, aber ich sag mal, in der Gesamtschau – und das ist ja auch das Schlimme, dass es für den Einzelnen womöglich so einen Knick im Leben bedeutet hat, ja, so schrecklich war, aber er war nicht wichtig für das System. Das, was er gesagt hat, war für den Abfalleimer, 90 Prozent wurde irgendwie weggeworfen. Er war ein Nichts im System, und trotzdem haben sie ihm das Leben ruiniert.
Führer: Sagt Annette Baumeister. Ihr Film "Stasi auf dem Schulhof" läuft heute um 23 Uhr 55 in der ARD. Danke Ihnen für Ihren Besuch im Studio, Frau Baumeister!
Baumeister: Bitte! Danke schön!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Annette Baumeister: Guten Tag!
Führer: Das klingt ungeheuerlich, Kinder und Jugendliche als Stasispitzel. Warum hat die Stasi das gemacht?
Baumeister: Da kann ich ein Zitat aus einer Doktorarbeit eines Führungsoffiziers zitieren: "Wir wollen den Jugendlichen ins Herz schauen, in die Seele kriechen." Die Staatssicherheit wollte wissen, was die Jugendlichen in ihrem Staat dachten, was sie fühlten, was sie vorhatten, und deshalb war es natürlich wichtig, unter Jugendlichen Spitzel zu haben.
Führer: Und warum waren ihnen die Jugendlichen so wichtig?
Baumeister: Weil die Jugendlichen die Zukunft des Sozialismus waren. Auf der Jugend sollte der Sozialismus aufgebaut werden, und da konnte nicht früh genug damit begonnen werden zu gucken, was denken die und wie können wir die beeinflussen.
Führer: Sie stellen in Ihrem Film drei Menschen vor – Kerstin, Elvira und Marko –, die eben als Jugendliche in die Fänge der Stasi geraten sind und angeworben wurden. Warum diese Jugendlichen? Also, nach welchen Kriterien hat die Stasi die Kinder ausgesucht?
Baumeister: Die Staatssicherheit wusste sehr genau, nach welchen Jugendlichen sie Ausschau hält. Da gab es quasi einen Katalog mit Kriterien, die diese Jugendlichen erfüllen sollten. Das waren Jugendliche, die aus sozial schwachen Familien kamen, Jugendliche, die vielleicht keinen Vater hatten, Jugendliche, die ein Anlehnungsbedürfnis an jemanden hatten, oder aber auch Jugendliche, die gern mal James Bond spielen wollten. Das waren so Jugendliche, die man kontaktieren konnte. Oder Jugendliche, die erpressbar waren, Jugendliche, die zum Beispiel zu schnell mal mit dem Moped gefahren waren oder die die falsche Zeitschrift im Unterricht dabei hatten, da konnte man andocken.
Führer: Die durften ja niemandem davon erzählen, also nicht mal den eigenen Eltern, und offenbar haben sich auch alle daran gehalten.
Baumeister: Das war ein entscheidender Punkt in der Anwerbephase, dass gleich beim ersten Treffen, da wurden die Jugendlichen gleich dazu angehalten, ein Schriftstück zu unterschreiben, und da unterschrieben sie, ich werde niemandem davon erzählen, nicht meinen Eltern, nicht meinem Lehrer, nicht meiner Oma, nicht meiner Tante. Und man denkt heute, na ja, ich kann ja trotzdem heimgehen, aber diese Unterschrift, die war so wichtig – man muss sich vorstellen, das waren 13-, 14- und 15-jährige Jugendliche, und die unterschreiben da was. Und da sitzt vor ihnen ein Führungsoffizier, und der sagt dann vielleicht noch, ja, wenn du darüber redest, dann gibt es Konsequenzen, dann reden wir wiederum mit deinen Eltern oder du kannst dann das Abitur nicht machen. Das war ganz geschickt gemacht.
Führer: Das ist ja die eine Seite, ja, dieser Druck, also Angst erzeugen, von Erpressbarkeit haben Sie gesprochen, aber es gibt ja auch die andere Seite, also diese Verführung. Die Kerstin erzählt ja ganz schön, also der Stasioffizier hat ihr dann eine Zigarette angeboten, hat mir ihr zusammen geraucht, die haben was getrunken, er hat sie auch mit dem Auto irgendwohin gefahren und wieder abgeholt, also sie fühlte sich eben auch ganz wichtig.
Baumeister: Genau. Dazugehören ist, glaube ich, das Stichwort.
Führer: Und so ausgewählt zu sein, die Ausgewählte zu sein.
Baumeister: Genau, ein Auserwählter oder eine Auserwählte zu sein, das heißt, von einer oberen Instanz wird man angesprochen und man bekommt gesagt, du bist ja gut und du kennst dich aus, und wir wollen mit dir reden, du bist ja clever. Natürlich fühlen sich Jugendliche da irgendwie umschmeichelt und geehrt erst mal. Und natürlich denken sie, hm, das macht ja vielleicht auch Spaß, mit Erwachsenen so zu sprechen, man wird ernst genommen. Da sagt nicht irgendjemand, das ist pubertäres Geschwätz, sondern der hört zu, wenn man Dinge erzählt. Das war ganz wichtig.
Führer: Diese Kerstin in Ihrem Film guckt auch noch mal in ihre Stasiakte und findet da eben auch Berichte, die sie über eine Mitschülerin geschrieben hat – gute Noten, aber politisch unzuverlässig. Da habe ich so gedacht, Mensch, da bekommt so diese Opfer-Täter-Frage eine ganz neue Dimension. Also was denkt man denn jetzt von einer 16-Jährigen, die so einen Bericht geschrieben hat?
Baumeister: Diese Frage ist schwierig, wer ist Opfer, wer ist Täter. Ich hab meinen Film so versucht zu machen – meine Grundannahme, Jugendliche und Kinder, die angesprochen worden sind, sind erst mal Opfer. Das darf nicht passieren, dass ein Staat seine Jugendlichen angeht und versucht zu missbrauchen oder verführt. Für mich sind die erst mal Opfer. Und dann guckt man natürlich in die Akten und stellt fest, hoppla, die hat ja über andere geredet, und dann kommt man auch als Autorin oder Filmemacher kommt man auch so ins Schwimmen und denkt, hm, was hat sie mit diesen Aussagen, mit ihren Erzählungen ausgelöst. Ich selbst habe, soweit es ging, versucht nachzurecherchieren, was meine drei Fälle ausgelöst haben, und da kann ich sagen, das, was ich recherchiert habe, bin ich der Überzeugung, dass da nichts Schlimmes ausgelöst worden ist. Aber auch dann, wenn was Schlimmes ausgelöst worden wäre, glaube ich, dass man am Ende sagen kann, da kann man nicht von Opfern und Tätern sprechen, sondern das sind zwei Opfer.
Führer: Die Filmemacherin Annette Baumeister im Deutschlandradio Kultur, heute Abend läuft ihr Film "Stasi auf dem Schulhof" in der ARD. Frau Baumeister, Sie haben gerade gesagt, Sie haben die immer zuerst als Opfer gesehen, und vielleicht ist es Ihnen deswegen auch gelungen, diese Menschen zum Sprechen zu bringen, denn da gehört ja auch sehr viel Mut dazu. Also ich hab die Kerstin sehr bewundert, dass sie sich in dem Film dem stellt und auch diese unangenehmen Seiten ihrer Geschichte da eben auch öffentlich erzählt. Wie ist Ihnen das gelungen?
Baumeister: Also die Recherchephase hat circa fünf Jahre gedauert, ich hab über 50 Betroffene getroffen, mit ihnen gesprochen, telefoniert, mich wieder getroffen, und am Ende war eine Hand voll bereit, sich offen dazu zu äußern, offen ihre Geschichte zu erzählen. Das ist erstaunlich: Man trifft sich mit Menschen, die sind heute Richter, die sind Lehrer, die arbeiten als Friseuse, also sie sind ein Querschnitt durch unsere bundesdeutsche Gesellschaft, und alle haben sie Angst, darüber zu reden. Die meisten haben nicht mal mit ihren Kindern oder mit ihren Ehepartnern darüber geredet, weil der Stempel, irgendwas mit der Stasi zu tun gehabt zu haben, so stigmatisiert, so negativ besetzt ist, dass sie einfach große Angst davor haben.
Führer: Na ja, die IM-Debatte in den letzten Jahrzehnten hat da natürlich ihren Beitrag geleistet, das ist ja klar. Man fragt sich natürlich auch, wie jetzt diejenigen, die da als Kinder, als Jugendliche geworben wurden, wie die das später verarbeitet haben, diesen Teil ihrer Biografie. Wir lernen in dem Film ja auch also Elvira und Marko kennen, und die erzählen davon, wie verzweifelt sie schon als Jugendliche waren, dass sie da für die Stasi Zuträgerdienste leisten mussten – so haben sie das empfunden. Und bei Marko war das ja so, er musste bei einem Unfall mit der Straßenbahn sein Bein verlieren, damit die Stasi ihn aus ihren Fängen ließ, und er sagt jetzt rückblickend, das hat ihn gerettet. Also da wird einem wirklich ja ganz schaurig zumute, bei diesem Satz.
Baumeister: Die drei Protagonisten haben alle so ihren individuellen Weg rausgefunden. Die Elvira hat schon nach einem Dreivierteljahr gesagt, da war sie noch minderjährig, nee, ich will nicht, ich kann das nicht, stopp. Kerstin hat ein bisschen länger gebraucht, aber auch sie hat es selber gesagt. Und beim Marko ist es tatsächlich der Fall, dass ein Unfall passieren musste, der ihn aus dieser Situation rausgeholt hat.
Führer: Die Anwerbung dieser Jugendlichen fand ja in der Schule selbst statt – wussten eigentlich die Lehrer, wussten die Schulleiter, was da vorgeht? Sie haben da einen Schulleiter in Ihrem Film, der das sozusagen damals gut fand und heute offensichtlich auch noch.
Baumeister: Es wussten sicherlich nicht alle Lehrer, aber ich würde mal sagen, die Führungsspitze, die Direktoren und die Konrektoren, die wussten darüber Bescheid. Und es fand tatsächlich in deren Räumen statt. Heute sagen sie, na ja, es fand in den Räumen statt, was da genau passiert ist, wusste ich, weiß ich nicht, geht mich auch nichts an, aber bei längerem Nachdenken hätten sie sich darüber im Klaren sein müssen, dass da was mit ihren Schülern, mit den Kindern, die sie eigentlich schützen sollten, passiert. Aber das ist auch Teil dieser kollektiven Verdrängung – was die da drinnen machen, in dem Raum, mit meinen Schülern, das interessiert mich nicht, das ist ja deren Job, ich hab einen ganz anderen Job zu tun.
Führer: In Ihrem Film heißt es, am Ende der DDR seien 8.000 Kinder und Jugendliche IMs, also inoffizielle Mitarbeiter, der Staatssicherheit gewesen gegenüber rund 170.000 erwachsenen IMs. Wie schätzen Sie, Frau Baumeister, deren Rolle, deren Bedeutung, deren Größe ein?
Baumeister: So brutal es klingt, ich glaube, sie waren nicht wichtig. Weil das, was aufgeschrieben worden ist, in der Gesamtschau, war Schulhofsgeschwätz, waren Petzereien unter Schülern …
Führer: Die aber doch große Folgen haben konnten.
Baumeister: Genau, genau, aber ich sag mal, in der Gesamtschau – und das ist ja auch das Schlimme, dass es für den Einzelnen womöglich so einen Knick im Leben bedeutet hat, ja, so schrecklich war, aber er war nicht wichtig für das System. Das, was er gesagt hat, war für den Abfalleimer, 90 Prozent wurde irgendwie weggeworfen. Er war ein Nichts im System, und trotzdem haben sie ihm das Leben ruiniert.
Führer: Sagt Annette Baumeister. Ihr Film "Stasi auf dem Schulhof" läuft heute um 23 Uhr 55 in der ARD. Danke Ihnen für Ihren Besuch im Studio, Frau Baumeister!
Baumeister: Bitte! Danke schön!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.