Vergangenheit ist nie abgeschlossen
In ihrem neuen Roman "Das Schweigen meiner Mutter" begibt sich Lizzie Doron auf Spurensuche nach einem verschwundenen Vater. Zum Schreiben kam die israelische Autorin erst nach dem Tod der Mutter 1990, als ihre eigenen Kinder anfingen, nach der Herkunft der Familie zu fragen.
Lizzie Doron, 1953 geborene, israelische Autorin, porträtiert in ihren Romanen Überlebende des Massenmordes an den europäischen Juden: Männer und Frauen, die in Israel wohnen, doch emotional an die Erfahrung des Holocaust gebunden sind.
Immer mehr stärker beschäftigt sich die Autorin aber auch mit den Kindern der Überlebenden, der sogenannten "Zweiten Generation", zu der sie selbst zählt. Ihr neuer Roman "Das Schweigen meiner Mutter" ist so persönlich erzählt, dass man ihn auch als Autobiografie der Autorin lesen kann.
Icherzählerin Alisa trifft bei der Beerdigung ihrer ehemaligen Kindergärtnerin alte Freundinnen. Gemeinsam waren sie in einem Viertel Tel Avivs aufgewachsen, in dem vor allem osteuropäische Überlebende des Holocaust in den 1950er-Jahren versuchten, ihren Kindern ein "normales" Leben zu ermöglichen. Ein absurdes Unterfangen, denn meistens gaben sie Ängste und Neurosen an die nächste Generation weiter. Und ihr Schweigen über das, was sie erlebt hatten. Alisa wuchs bei ihrer Mutter Helena auf, der Krankenschwester des Viertels. Nie sprach die Mutter über Alisas abwesenden Vater.
Auch Nachbarn und Bekannte drückten sich um Antworten auf die bohrenden Fragen des neugierigen, jungen Mädchens, wer und wo er sei. Alisa malte sich die schlimmsten und attraktivsten Möglichkeiten aus: Er sei Kapo in einem KZ gewesen oder Partisan im Kampf gegen die Nazis. Als sie sich in der Schule einmal dazu versteigt, die Abwesenheit ihres Vaters mit seinem heldenhaften Tod im israelischen Unabhängigkeitskrieg von 1948 zu erklären, erntet sie Spott und Hohn - alle wissen, dass sie 1953 geboren ist.
Das Treffen am Grab führt zu intensiven Gesprächen der Mittfünfzigerinnen vor allem über ihre Vergangenheit. Anhand von Fotoalben und dem Zusammenpuzzeln von Erinnerungen gelingt es ihnen, Rätsel der eigenen Kindheit aufzulösen. Alisa kann die Geschichte ihrer Eltern rekonstruieren: Der Vater, an Tuberkulose erkrankt, lebte in einem Sanatorium. Er besuchte das Viertel, durfte aber wegen der Ansteckungsgefahr nie zuhause übernachten. Alle wussten das. Ihre Mutter, stellt Alisa bitter fest, habe also auch "selektiert": Auf den Mann verzichtet, um das Leben ihrer Tochter zu garantieren, ihr damit aber zugleich den Vater genommen.
Am Ende des Buches ist ein Foto abgedruckt: die Autorin Lizzie Doron im Kindesalter als Tänzerin verkleidet vor einem Busch. Schaut man genau hin, erkennt man, dass hinter dem Busch ein Mann steht - ihr Vater, der sie aus dem Versteck beobachtet.
Lizzie Doron schildert im Gewand des Romans ihre schmerzhafte Suche nach einer verlorenen Zeit. Sie spannt auch einen Bogen vom Israel der frühen Jahre ins Heute. Erzählt atemlos davon, dass Vergangenheit nie abgeschlossen ist, frühe Wunden sich nur oberflächlich schließen. Und dass Geschichte sich wiederholt. Das Schweigen ihrer Mutter ist zu dem der eigenen Generation geworden, die beispielsweise nicht über die Toten und Traumata des Yom-Kippur-Krieges spricht. Selbstreflexion, Selbstironie und unsentimentales Benennen der eigenen Verletzlichkeit sind die Stärken des Buches.
Besprochen von Carsten Hueck
Lizzie Doron: Das Schweigen meiner Mutter
Aus dem Hebräischen von Mirjam Pressler
Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2011
216 Seiten, 14,90 Euro
Immer mehr stärker beschäftigt sich die Autorin aber auch mit den Kindern der Überlebenden, der sogenannten "Zweiten Generation", zu der sie selbst zählt. Ihr neuer Roman "Das Schweigen meiner Mutter" ist so persönlich erzählt, dass man ihn auch als Autobiografie der Autorin lesen kann.
Icherzählerin Alisa trifft bei der Beerdigung ihrer ehemaligen Kindergärtnerin alte Freundinnen. Gemeinsam waren sie in einem Viertel Tel Avivs aufgewachsen, in dem vor allem osteuropäische Überlebende des Holocaust in den 1950er-Jahren versuchten, ihren Kindern ein "normales" Leben zu ermöglichen. Ein absurdes Unterfangen, denn meistens gaben sie Ängste und Neurosen an die nächste Generation weiter. Und ihr Schweigen über das, was sie erlebt hatten. Alisa wuchs bei ihrer Mutter Helena auf, der Krankenschwester des Viertels. Nie sprach die Mutter über Alisas abwesenden Vater.
Auch Nachbarn und Bekannte drückten sich um Antworten auf die bohrenden Fragen des neugierigen, jungen Mädchens, wer und wo er sei. Alisa malte sich die schlimmsten und attraktivsten Möglichkeiten aus: Er sei Kapo in einem KZ gewesen oder Partisan im Kampf gegen die Nazis. Als sie sich in der Schule einmal dazu versteigt, die Abwesenheit ihres Vaters mit seinem heldenhaften Tod im israelischen Unabhängigkeitskrieg von 1948 zu erklären, erntet sie Spott und Hohn - alle wissen, dass sie 1953 geboren ist.
Das Treffen am Grab führt zu intensiven Gesprächen der Mittfünfzigerinnen vor allem über ihre Vergangenheit. Anhand von Fotoalben und dem Zusammenpuzzeln von Erinnerungen gelingt es ihnen, Rätsel der eigenen Kindheit aufzulösen. Alisa kann die Geschichte ihrer Eltern rekonstruieren: Der Vater, an Tuberkulose erkrankt, lebte in einem Sanatorium. Er besuchte das Viertel, durfte aber wegen der Ansteckungsgefahr nie zuhause übernachten. Alle wussten das. Ihre Mutter, stellt Alisa bitter fest, habe also auch "selektiert": Auf den Mann verzichtet, um das Leben ihrer Tochter zu garantieren, ihr damit aber zugleich den Vater genommen.
Am Ende des Buches ist ein Foto abgedruckt: die Autorin Lizzie Doron im Kindesalter als Tänzerin verkleidet vor einem Busch. Schaut man genau hin, erkennt man, dass hinter dem Busch ein Mann steht - ihr Vater, der sie aus dem Versteck beobachtet.
Lizzie Doron schildert im Gewand des Romans ihre schmerzhafte Suche nach einer verlorenen Zeit. Sie spannt auch einen Bogen vom Israel der frühen Jahre ins Heute. Erzählt atemlos davon, dass Vergangenheit nie abgeschlossen ist, frühe Wunden sich nur oberflächlich schließen. Und dass Geschichte sich wiederholt. Das Schweigen ihrer Mutter ist zu dem der eigenen Generation geworden, die beispielsweise nicht über die Toten und Traumata des Yom-Kippur-Krieges spricht. Selbstreflexion, Selbstironie und unsentimentales Benennen der eigenen Verletzlichkeit sind die Stärken des Buches.
Besprochen von Carsten Hueck
Lizzie Doron: Das Schweigen meiner Mutter
Aus dem Hebräischen von Mirjam Pressler
Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2011
216 Seiten, 14,90 Euro