Vergangenheitsbewältigung

Die späte Suche nach der Wahrheit

Von Sabine Voss |
Oft sind "Dachbodenfunde" Auslöser für die späte Suche nach der Wahrheit, die so lange verschwiegen wurde: Die Tätergeneration verstirbt, und die Nachkommen stoßen beim Durchstöbern und Sortieren der Hinterlassenschaften auf Fotos, Briefe, auch offizielle Dokumente, die Uniform im Schrank.
Aber was hat der Vater im Krieg konkret gemacht? Und was die Großmutter als BDM-Mitglied? Kriegstäter, die ihre Nachkommen im Unklaren lassen, die keine Verantwortung übernehmen, machen ihre Kinder und Enkelkinder zu stillschweigenden Komplizen - natürlich ohne sie um Erlaubnis zu bitten.
Cornelia Aderhold: "Also, ich hab mein Leben nicht über Recherche über das Leben meiner Eltern aufgebaut, aber warum hab ich das immer wieder gemacht? Weil ich weiß, dass es einen Einfluss auf mich hat."
Bettina Spohr: "Das ist unvorstellbar, wenn man da sitzt und so einen Brief liest. 'Wir werden die Judenfrage jetzt schneller lösen, mit Hilfe von LKWs', und das ist mit Rudolf Spohr unterschrieben, da wird einem so schlecht, also es wird einem wirklich übel."
Bettina Spohr: "Der hätte ja auch mal Stellung beziehen können, hätte offen sein können mit uns, aber das hätte wahrscheinlich sein Leben bedeutet, hätte sagen können, da gibt es eine fürchterliche Kiste in diesem Haus."
Als Rudolf Spohr stirbt, sichten Bettina und Johannes Spohr seinen Nachlass. Es ist der Nachlass eines Kriegsbeteiligten.
Johannes Spohr: "Erstmal hat meine Mutter einen Stapel Fotos ausfindig gemacht und mitgebracht und mir gezeigt. Das war so der Beginn. Sie war sehr geschockt von den Fotos, und daraufhin bin ich dreimal, glaube ich, in dieses Haus gefahren und hab nach Nazidokumenten gesucht bzw., man musste eigentlich nicht viel suchen, sondern sie sind einem entgegen gesprungen.Sei es 'Mein Kampf' im Bücherregal, die Wehrmachtsuniform im Schrank, die ich auch als Kind schon mal wahrgenommen hab, glaube ich, auch die Dachbodenfunde, die Kriegsfotos griffbereit in der Schreibtischschublade. Bestimmte Orden, die überhaupt nicht verdeckt irgendwo rumliegen. Wie gesagt, ich war dreimal dort und habe immer wieder Sachen gefunden. Beim letzten Mal war ich dann auch akribisch, nichts zu vergessen, was interessant sein könnte, es war schon sehr umfangreich, die Suche in dem Haus."
Iris Wachsmuth: "Was ist eigentlich, wenn man Familienkisten findet auf dem Dachboden, warum sind die da?"
Iris Wachsmuth ist Sozialwissenschaftlerin und Biografieforscherin und hat über 100 Interviews mit Kriegsbeteiligten und ihren Nachfahren geführt: Alle Befragten der Kriegsgeneration verfügten wenigstens über Beobachterwissen, waren zumindest Zeugen von Deportationen, Misshandlungen, Zwangsarbeit.
Iris Wachsmuth: "Ich glaube, Menschen die wirklich nicht wollten, dass was gefunden wird, die haben das sehr sorgsam zu Lebzeiten vernichtet. Und diese bewusst/ unbewussten Kisten, die da noch liegen, das kann sein, dass das mit einem gewissen Stolz einhergeht, wenn man Karriere gemacht hat im NS, bis hin zu: Da ist Unrecht passiert, und ich delegiere das an die nachkommende Generation. Ich hab das nicht mehr geschafft, aber es ist wichtig, dass die nachkommenden Generationen das bearbeiten oder die Wahrheit wissen.Es gibt Briefe, die dazu gelegt werden, Abschiedsbriefe, in denen steht, ich hab dir das nie erzählt, aber ich möchte, dass du dich damit beschäftigst. Ich hab den Mut nicht gehabt, dir das alles zu sagen."
Johannes Spohr: "Er hat ja nie ein Verfahren gehabt oder irgendeine Form von Ärger. Ich glaube, auch deshalb konnten diese ganzen Sachen so selbstbewusst und ohne sie zu vernichten in dem Haus liegen. Der hat keine Angst gehabt, dass ihm da noch mal jemand an den Kragen will."
Auf einem der Fotos, die Johannes Spohr in der Schreibtischschublade seines Großvaters fand, ist eine alte Bauersfrau mit Kopftuch zu sehen. Wohl aufgeschreckt vom Fotografen, flüchtet sie auf ein Häuschen, ihre Kate zu. Aufgenommen wurde das Foto in der nördlichen Ukraine, im Raum um Schitomir.
Johannes Spohr: "Die Bildunterschrift sagt, 'eine Frau, die nur fotografiert werden soll, aber glaubt, erschossen zu werden'. Da fragt man sich natürlich, warum glaubt eine Zivilistin, die in nem Haus auf dem Land wohnt, sie wird jetzt erschossen. Das heißt, das hat da eben massenhaft stattgefunden. Und ja, da bin ich mir auch sicher, dass mein Großvater das wusste und das auch mitbekommen hat."
Anders als sein Großvater immer gern erzählte, hat er nicht nur an der Front im Dreck gelegen. Was er unterschlug, war seine Zeit als Ordonanzoffizier im OKH.
Johannes Spohr: "Ich glaube, der Job im Oberkommando des Heeres war auf jeden Fall mit Ansehen verbunden, mit Achtung. Das war schon ein Job, den viele gern gemacht hätten und den auch er gerne gemacht hat. Also er hatte wenig administrative Gewalt in dem Job, aber er war eben Teil der Wehrmachtselite. Er war mit sehr wichtigen Leuten umgeben, und der Job war natürlich nicht so schmutzig, also er hat sich aus den unangenehmen Situationen rausgehalten, war, bis er dann nach Italien gekommen ist, 43, wenig in den Schützengräben, hatte eben einen Job, den er interessant fand durch das Rumreisen und der, dadurch, dass er viel gesehen hat, sehr angenehm war."
Bericht über die Reise vom 11. bis 13.September 42 zur Krim:
In den Ortschaften zum Teil schwer vergitterte Judenlager, manche davon leer. Deren Insassen sind wohl, wie ich es mehrfach hörte, von der Verpflegung abgesetzt oder geerdet. Wie viele Tausende mögen das sein, und wie viele folgen ihnen noch? Meist werden sie wohl erschossen, neuerdings aber auch in extra dafür gebauten Fahrzeugen während der Fahrt vergiftet und in dafür hergerichteten Gruben eingebuddelt, verscharrt und damit hoffentlich von der Welt vergessen.
Lebenslange Lüge
Johannes Spohr:"Also, was er hier macht, er beschreibt sehr genau den Stand der Judenverfolgung und Ermordung 1942, also quasi den Übergang von den Massenerschießungen zu den Vernichtungslagern. Dies Dokument kommt einfach gut zusammen mit seiner lebenslangen Lüge ab 45, nämlich er hat davon nichts gewusst, er konnte davon auch gar nichts wissen, das war ja streng geheim, genau, gegen den Krieg war er auch, seiner Aussage nach. Und das hat er alles mir gegenüber auch geäußert, und hätte man ihm damals schon dieses Dokument zeigen können, was in seinem Haus lag, hätte man viel besser darüber reden können."
Iris Wachsmuth: "Deutschland, sage ich immer, hat es verpasst, seine Täter systematisch zu befragen, als sie noch alle da waren."
Es ist hinlänglich bekannt und oft beklagt worden, wie groß die Verteidigungsspielräume waren, die die Nachkriegsgesellschaft den Tätern ließ. Eine kritische Auseinandersetzung mit ihnen ist das Verdienst der 68er. Verdienst der neueren Täterforschung ist, die vielen Facetten von NS-Verantwortung und Verstrickung unter die Lupe genommen zu haben und immer noch zu untersuchen. Nur fänden solche Erkenntnisse bis heute selten den Weg ins deutsche Familiengedächtnis, sagt die Sozialwissenschaftlerin Iris Wachsmuth.
Iris Wachsmuth: "Was für Motive haben Täter? Was ist überhaupt Täterschaft? Das ist immer noch tabuisiert. Würden sie sich selber als Täter begreifen? Was passiert in einem Individuum. Blutrausch? Allmachtsgefühle? So viel Macht zu haben über Leben und Tod. Und wie lebt man damit 30, 40, 50 Jahre später? Wie kann man damit einschlafen, wie kann man eine eigene Familie gründen und ein schönes idyllisches Familienleben, was viele hatten! Das ist doch interessant! Wo bleibt diese Schuld eigentlich? Und wo sind die Spuren?"
Cornelia Aderhold: "Also, ich hab mein Leben nicht über Recherche über das Leben meiner Eltern aufgebaut, aber warum hab ich das immer wieder gemacht? Weil ich weiß, dass es einen Einfluss auf mich hat. Weil ich natürlich noch mal mehr rausfinden wollte, was hat meine Eltern zu dem gemacht, was mich wieder zu dem gemacht hat als ihr Kind? Als ihre erstgeborene Tochter."
Täter, die sich als Opfer fühlen
Cornelia Aderhold wurde von keinem "Dachbodenfund" überrascht, sie sammelt ihr Leben lang schon Indizien für die tiefe Verstrickung ihrer Eltern in die Verbrechen und die Ideologie des Nationalsozialismus. In der Familie hat der Vater nie einen Hehl aus seiner SS-Mitgliedschaft gemacht. Die Geschichte, wie er nach dem Krieg seine Blutgruppentätowierung am Arm mit Milchsäure wegzuätzen versuchte, um seine SS-Identität zu kaschieren, hat er oft erzählt. Er fühlte sich als Opfer, interniert und verfolgt von den Engländern.
Cornelia Aderhold: "In der Kategorisierung durch die Besatzung ist er hier beschrieben als: 1. SS Panzerdivision 2. Höchster Dienstgrad: SS-Unterstuf., weiß nicht, Ustuf, Untersturmführer oder was das bedeutet hat. Höchste Stellung: Zugführer. blättert "Anklageschrift. Ich erhebe Anklage gegen den zivil internierten Herbert Aderhold."
Der Angeschuldigte hat fast vier Jahre der Waffen-SS angehört. Seine längeren Einsätze in Russland in den Jahren 1941 und 1943, insbesondere im Südabschnitt und im Raum von Schitomir haben ihm genauen Einblick in die grausame Kampfweise der SS-Einheiten verschafft. Er ist auch zweifellos Zeuge vieler Verbrechen gegenüber der Zivilbevölkerung jener besetzten Ost-Gebiete durch die Waffen-SS gewesen.
Cornelia Aderhold: "'Dass dieser Truppe der Ruf des Schreckens und des Terrors voranging, war jedem SS-Mann bekannt. Die Niederbrennung von Dörfern mittels Lötlampen im Jahre 1943 wurde insbesondere von Einheiten der 1. Panzerdivision SS vorgenommen.' - Weißt du was? Ich hab das alles mal gelesen und auch unterstrichen, ich hab das alles wieder vergessen.
Ich denke, mein Vater ist ein gutes Beispiel dafür, wie man einem das Fühlen austreibt. Aber die Gefühle sind ja irgendwo, also diese Emotionen oder inneren Zustände. Ich nenn es einfach mal Zustände, weil die nicht verknüpft sind mit dem Bewusstsein oder der eigenen Wahrnehmung von sich selber. Und diese Trennung, diese Abtrennung geht dann eben in Krankheiten. Mein Vater war ewig krank. Also ich hatte keinen strammen Nazi da, der sich ständig auch so geäußert hat, sondern das war eher so ‘was Stilles, Waberndes, eine Person, die sich wenig einbringt, die funktioniert, die funktioniert und oft auch krank ist. Die einer Schonung bedarf, so dass Mutter Kinder immer stillhielt und den Papa schonte, weil der ganz viele Probleme hat.
SS-Untersturmführer Aderhold bekommt Briefe von einer jungen Frau. Sie ist Mitglied im Bund Deutscher Mädel und dem Appell gefolgt, den Kämpfern an der Front aufmunternde Worte zu schreiben. So lernen sich Cornelia Aderholds Eltern kennen.
Cornelia Aderhold: "Meine Mutter ist 1924 geboren, ist am 1. September 1942 in die NSDAP eingetreten, wobei ich das interessanterweise, als ich dann die Daten hatte, ein bisschen spät fand, merkwürdigerweise, und sie war dann BDM-Führerin im Untergau Dortmund. Und zwar hatte sie eine Funktion in diesem BDM 'Glaube und Schönheit'. '… dass wir als Jungmädelführerinnen mitverantwortlich sind für den Weg und das Werden der uns anvertrauten Jungmädel.' - Also, ich denke, da hat sie einen Vortrag gehalten vor Führerinnen, die wieder Jungmädel führen, sozusagen."
"Liebe Kameradinnen! Spürt ihr, wie wichtig es ist, diese Mädel ständig neu zu gewinnen, um, wenn wir in uns den rechten Weg gefunden haben, sie auf diesen Weg zu zwingen, ohne dass sie es spüren. Sie müssen ihre echten deutschen Anlagen erkennen und im Tun umsetzen wollen. Vorbild zwingt zu solchen Taten."
Cornelia Aderhold: "Dass diese Frau acht Jahre später ein Kind geboren hat und das war ich, das hat mich total erschreckt, also ich war absolut verwirrt danach. Was war meine Mutter, als ich geboren wurde? Wer war das? Und was hat sie überhaupt gemacht vorher? Also das war ja ihr Hauptberuf. Das hab ich früher schon gesagt, ich hab das Gefühl, meine Mutter hat hier weiter so ne kleine BDM-Gruppe, obwohl wir nur aus einem Mädchen und einem Jungen bestanden. Wir wurden manipuliert ohne Ende. Zum Beispiel bin ich dirigiert worden mit Blicken. Meine Mutter musste nichts sagen. Und das hab ich erst im Nachhinein erfahren, dass das so ein Punkt ist, um schwarze Pädagogik zu identifizieren. Wenn Kinder wortlos parieren. Es ist noch nicht mal was gesagt worden, die kriegen das gar nicht mit. Das ist eigentlich ne Dressur."
Von der BDM-Leiterin zur Lehrerin
Bald nach dem Krieg bricht eine Ära der Kontinuitäten an, eine Zeit der BDM- und Napola-Klassen-Treffen. Gleichzeitig gelingt es, damit nicht weiter aufzufallen. Man hält sich an den neuen Referenzrahmen, wandelt das zuvor Getane um und passt es den neuen Verhältnissen an. Frau Aderhold, die vorher "Jungmädel geführt" hat, ist nun Lehrerin in einer Hauswirtschaftsschule und organisiert Diaabende im Altenheim. Herr Aderhold wird bald das angesehene Herrenkonfektionsgeschäft am Ort besitzen. Herr Spohr wird bald Fabrikdirektor sein, Gründer der örtlichen Goethegesellschaft und seine Frau die erste Vorsitzende im Tennisverein.
Bettina Spohr: "Komm weg von den Gardinen, man sieht dich. So könnt man auch ein Buch nennen: Komm weg von den Gardinen, man sieht dich."
Bettina Spohr ,1948 geboren, wächst als jüngstes Kind in diesem Elternhaus auf:
Bettina Spohr: "Also stell dir vor, du lebst in Nordenham, da ist der Lutherplatz, und da ist die Rosenstraße, das Haus mit seinen hübschen vier Fenstern mit den grünen Läden, und du stehst als kleines Mädchen hinter den Gardinen und die wackeln ein bisschen. Was denkst du da als Spaziergänger? Guck mal, die Kleine, die guckt wieder. Du denkst da nichts Böses. Und meine Mutter sagt drinnen: 'Komm weg von den Gardinen, man sieht dich.'"
Einmal im Jahr wirft sich ihr Vater in Schale und geht zum OKH-Treffen, zur Versammlung der ehemaligen Offiziere im Oberkommando des Heeres.
Bettina Spohr: "Also, das ist ja eine Ätze. Das wird jeden Tag schlimmer für mich, darüber nachzudenken. Das war ja jedes Jahr ein Mal, solange ich denken kann, bis in die 80er rein. Und wir haben nicht einmal gefragt, was macht mein Vater denn da? Ich wusste nur, OKH-Treffen, das war ne wichtige Stelle, für so Offiziere wie mein Vater war. Aber was das in den 50er, 60er, 70er-Jahren zu suchen hatte, hätte mir doch klar werden müssen. 1968 habe ich Abitur gemacht, 67, und war also doch ein denkender Mensch."
Seit dem Dachbodenfund vor vier Jahren geht Bettina Spohr nicht nur mit ihrem Vater, sondern auch mit sich selbst ins Gericht.
Bettina Spohr: "Ich habe eine lange Zeit in meinem Leben, die ich als komatös bezeichne. Ich habe nichts wahrgenommen! Ich weiß nichts von Mogadischu. Ich habe an der PH in Freiburg, wo ich Pädagogik studiert habe, nichts mitgekriegt, dass der ASTA besetzt war, hab ich nicht mitgekriegt. Wie kann es sein, dass man Mogadischu nicht mitkriegt. Oder Bader-Meinhoff zwar kennt, aber nicht beurteilt. Was ist die RAF für mich, keine Wertbildung. Was ich nicht war, ist eine bewertende junge Frau."
Cornelia Aderhold: "Ich hab als Vier- oder Fünfjährige alleine mit meinem Bruder vor der Glotze gesessen sonntags, zweimal, und wir haben mit großem, fasziniertem Entsetzen diese Originalfilme der Alliierten von Bergen-Belsen gesehen. Leichenberge, die mit Bulldozern hin- und hergeschoben werden. Ich hatte ja keine Begriffe zu der Zeit, was ist Nationalsozialismus überhaupt, was seh ich da überhaupt? Es war nur lebensbedrohlich, und was ich da gelernt habe, ist, dass Menschen aus Menschen Müll machen. Dass das was mit meinen Eltern zu tun, das war sowohl meinem Bruder als auch mir klar, weil wir zwei Verbote hatten: Erstens durften wir nicht fernsehen, das heißt, wir durften auch nicht sagen, dass wir überhaupt ferngeguckt hatten, und die andere Ebene, die ist mir aber hinterher so richtig klar geworden: Wir durften nicht sagen, was wir da gesehen hatten. Und letztlich als Bild zieht sich das durch meine ganze Sozialisation mit meinen Eltern: Bestimmte Dinge, die man weiß, darf man nicht sagen. Oder umgekehrt auch: Was sagen meine Eltern eigentlich, und was ist davon wahr? Und was wird nicht gesagt?"
Die Mächtigkeit des Ungesagten
Iris Wachsmuth: "Dieses Ungesagte, Beschwiegene, das ist unglaublich präsent. Also das ist die Mächtigkeit des Ungesagten. Es gibt in diesen alltäglichen Kommunikationen in der Familie oft so sekundenartige Fragen-Antwort-Spiele, wo einfach nur mit einer Geste weggeguckt wird. Zu diesem Schweigen gehört eben eine bestimmte Körpersprache, ein bestimmter Gesichtsausdruck, der schon klarmacht, 'das lassen wir jetzt, ja?'. Und da man ja wirklich als Familienmitglied auch angewiesen ist und abhängig und in diesen Familienloyalitäten steckt, wird das ganz automatisch erstmal akzeptiert und auch verinnerlicht. Das ist eine ganz gesunde Anpassung, weil man möchte ja von den Eltern geliebt werden und geachtet werden, und natürlich passt man sich an."
Kinder reagieren empfindlich auf das elterliche Bedürfnis sich auszuschweigen, so dass zwei, inzwischen auch drei Generationen durch eine "doppelte Wand", wie der israelische Psychologe Dan Bar-On das nennt, getrennt werden. Die Eltern schweigen, und die Kinder und Kindeskinder stellen keine Fragen.
Iris Wachsmuth: "Weil sie damit die Loyalität auch empfindlich stören und nicht mehr der geliebte Sohn und die geliebte Tochter sind. Das sind massive Wirkmechanismen. Viele Filme und viele Bücher entstehen nach dem Tod der Eltern. Die haben immer noch die Kontrolle darüber, wie geredet wird, und wie geredet werden darf. Und wenn die dann tot sind, dann hat man eine Art Befreiung. Oft hängen daran auch Erbschaften, also es geht um ganz knallharte Interessen. Wenn ich jetzt die Loyalität breche, kriege ich vom Erbe nichts. Der Druck der anderen Familienmitglieder. Und man schont sich selber."
Bettina Spohr: "So, jetzt ist mein Vater tot, und wir räumen das Haus auf, und jetzt fange ich an, nach Neuengammezu fahren mit meinem Sohn, und meine Brüder sagen, 'was machst du denn da?''
Bettina Spohr nimmt an einem Seminar teil, das die KZ-Gedenkstätte Hamburg-Neuengamme für alle anbietet, die über ihre Familiengeschichte in der NS-Zeit mehr in Erfahrung bringen wollen.
Tabus und Familiengeheimnisse
Bettina Spohr: "Dann hab ich erzählt, dass wir recherchieren und dass wir anhand dieser Kiste Vaters Rolle im Krieg auch aufarbeiten. 'Ja, da wird ja nichts veröffentlicht?' Ich sage, nein, das haben wir nicht vor. Wir haben einen internen Kreis, wir sichern uns jedes Mal Vertrautheit zu, und trotzdem kriege ich natürlich eine andere Haltung zu meinem Vater. 'Ja, das ist uns alles nicht recht, das wollen wir nicht, und lass uns damit in Ruhe.' Ich sag, was ist denn mit den Dokumenten, was ist mit den Bildern, darf Johannes die verwenden? Die will er ins Bundesarchiv kopieren lassen. Keine Äußerung. Also das ist noch schlimmer als nein."
Iris Wachsmuth: "Das ist meine Erfahrung, es ist immer nur einer, Tochter oder Sohn, der/die das aufarbeitet. Und das geht einher mit einer Abwehr der anderen Familienmitglieder. Also man ist automatisch das schwarze Schaf, derjenige, der die Familie verrät. Weiter wird eine Familienloyalität nicht nur gestört, sie wird infrage gestellt. Bestimmte Wahrheiten werden infrage gestellt, wenn es so etwas wie ein Familiengedächtnis gibt, wird auch das aufgebrochen. Und es gibt plötzlich Tabus und Familiengeheimnisse, die aufgedeckt werden."
Es sind oft die jüngsten Geschwister, die dieses Risiko eingehen, oder die Enkel.
Johannes Spohr: "Interessanterweise hatte ich die Idee der Konfrontation schon recht früh: Ich fahr zum Familienfest und frage ihn über den Tisch rüber, wie viele Leute er erschossen hat im Krieg. Weil ich damals schon die Vorstellung hatte, naja, da ist was im Verborgenen, das weiß man ja irgendwie. Also komischerweise."
Cornelia Aderhold: "Und dann gab es immer so bestimmte Wörter wie 'Maßnahme' oder so, und da noch mal genauer nachzufragen, ja, was meinst du denn damit? Es gab bestimmte Begriffe, wo ich gedacht habe, da ist kein Drankommen. Es ist ein anderes Koordinatensystem. Der weiß gar nicht, was ich meine. Und ansonsten Defensive. Das ist natürlich ne schwierige Lage: Weist man ein Wissen zurück und weiß es doch, und es ist aber ganz vergraben? Oder er lügt mich an? Das glaub ich auch nicht."
Johannes Spohr: "Konkret habe ich dann zwei, drei Gespräche geführt, die nicht sehr ergiebig waren. Jedes Dokument, das ich in seinem Haus nach seinem Tod gefunden hab, war aussagekräftiger, und hätte man ihn mit diesen Dokumenten konfrontiert, dann wären teilweise seine Lügen aufgeflogen und teilweise hätte man mehr Anhaltspunkte gehabt, man hätte sagen können, okay, du warst da und da zu der Zeit eingesetzt, was heißt das denn, was hat da stattgefunden, was war deine Aufgabe, was hast du gesehen. Und ich glaub, dass mir zu dem Zeitpunkt, wo ich die Gespräche geführt hab, ganz viel Wissen gefehlt hat. Einerseits darüber, wie führt man solche Gespräche, so dass die Sinn machen, dass Leute auch ins Sprechen darüber geraten, und andererseits der historische Kontext."
Lauter Lügen und Halbwahrheiten
Viele Nachfahren glaubten und glauben die aufgetischten Lügen und Halbwahrheiten aber vielleicht sogar gern. Der Sozialpsychologe Harald Welzer kommt jedenfalls in seiner bekannten Studie "Opa war kein Nazi" zu dem Schluss: Je größer das allgemeine Geschichtswissen ist, desto größer auch der Wunsch, die eigene Familie vor diesem Wissen zu schützen - das heißt, sie aus dem historischen Zusammenhang heraus zu nehmen. Warum? Weil die Erkenntnis, dass der geliebte Opa doch ein Nazi war, einen innerlich zerreißt? Bettina und Johannes Spohr.
Bettina Spohr: "Mein Sohn sagt, hör auf mit Deinem Aber. Beim letzten Gespräch hat er über mich gesagt, meine Mutter sagt immer, 'mein Vater war ein Nazi, aber …'. Und dies Aber müsste mal weg. Und je mehr ich das Aber wegnehme, desto mehr geht die Liebe flöten. Und da bin ich auch traurig und verhindere das. Johannes ist eine Generation weiter und sagt eben, er war ein Arschloch, er war einfach widerlich, in jeder Hinsicht, ob geschäftlich oder privat, immer Karriere, Karriere, ob Krieg oder nicht. Und das kann ich ja nicht so sagen."
Kriegsverbrecher und liebender Familienvater
Johannes Spohr: "Ich glaube, dass das gut zusammen geht, Kriegsverbrecher und Nazi zu sein und liebender Familienvater, Großvater. Und obwohl ich mir das erklären kann, weiß ich, dass ganz viele Leute das emotional nicht hinbekommen, das so zu sehen.Ich weiß, dass meiner Mutter das unglaublich schwerfällt, das zusammen zu bringen und mit ihren eigenen Gefühlen gegenüber ihrem Vater umzugehen, weil sie ihn wirklich auch liebt und auch verehrt, würde ich sagen. Andererseits, wenn ich darüber nachdenke, denke ich auch, dass seine Herrschaft sogar noch fortwirkt, das könnte man auch so rum sehen, weil er hatte eine unglaubliche Autorität in der Familie, und die wirkt vielleicht auch über seinen Tod hinaus."
Bettina Spohr: "Aber wenn ich es schaffe - und ich werde das die nächsten Jahre immer angucken, ich muss da gar nicht viel betreiben, das passiert von alleine - wenn ich schaffe, diese Liebe zu meinem gütigen, aber auch verratenden Vater, man kann Kinder damit aufwachsen lassen, dass der Vater ein Nazi war und ihnen das erklären und ihnen das zumuten, dass sie‘s verstehen oder verurteilen. Jedenfalls, wenn ich es schaffe, um den Satz jetzt endlich fertig zu sagen, die Liebe loszulassen, einfach zuzulassen, dass mein Vater bei Tötungen nicht nein gesagt hat, dass man da die Liebe einfach mal flöten gehen lässt, so wie man einen Lebensgefährten in Liebesdingen vielleicht spät, aber noch rechtzeitig erkennt als Betrüger. Mein Vater hat uns ja auch um eine Wahrheit betrogen."
Die meisten Kriegstäter sind ohne erkennbare Reue oder sprachlos gestorben, haben die Verantwortung nicht auf sich genommen, sich aber auch um die Chance gebracht, von ihren Kindern verstanden zu werden. Dabei hätten ihre Kinder und Enkel gar nicht viel von ihnen erwartet, kein großes Geständnis oder Bekenntnis, sondern ein Zeichen der Einsicht, die Ansprüche waren nicht übertrieben hoch.
Iris Wachsmuth: "Ihr habt uns damit alleine gelassen, ihr habt das nicht bearbeitet, und ihr habt uns die Fragen nicht beantwortet, und mit diesen Lügengeschichten und diesen Verstrickungen lasst ihr uns jetzt alleine. Und jetzt haben wir die Dokumente - bestenfalls, es gibt ja oft gar keine Dokumente mehr -, jetzt muss ich gucken, wie ich damit klar komme. Wir sind Deutsche, das geht ja auch ganz tief, was ist denn mit meiner eigenen Identität zu dieser Nation, und das muss ich ja für mich noch mal anders klären mit dieser Schweigegeschichte. Da kriegt man irgendwann Wut, sehr viel Wut, weil man ist nämlich betrogen worden. Wir sind alle ganz schön betrogen worden."
Johannes Spohr ist im vergangenen Jahr in die Ukraine gereist, nach Shitomir, nach Winnyzja, Orte, an denen sein Großvater ganz sicher war. Sein Enkel wollte die Perspektive der Opfer erleben, Geschichten hören, für die sich sein Großvater Zeit seines Lebens nicht interessiert hat.
Johannes Spohr: "Mein Großvater hat sich immer wieder so sozialchauvenistisch geäußert über Obdachlose, migrantische Gruppen, über Punks, alle, die er vielleicht als die Anderen wahrgenommen hat, als die, die nicht dazu gehören. Das hat mir früh schon nicht gefallen.Im Nachhinein betrachtet, sehe ich meinen Großvater auch als empathielos, was ja auch eins der Probleme der Nazigeneration ist. Und das ist ja gleichzeitig das, was ich total wichtig finde als Aufgabe, weniger empathielos zu sein."
Cornelia Aderhold: "Was mich immer wieder umgetrieben hat, ist eine Kontinuität in bestimmten Haltungen. Diese innere Struktur des Abwertens, das mach ich mit mir selber auch, und das mach ich mit anderen, das ist ein Prinzip. Wie schnell man auf so was zurückgreift, das habe ich als Pädagogin auch erlebt: Oh, das ist jetzt ne schwierige Situation, und entweder, ich mach jetzt hier die kalte Abwertungsnummer, oder ich stell mich jetzt hier mal infrage und weiß auch nicht so richtig, wie es weitergehen soll, aber ich halte Kontakt zu dem Kind."
Cornelia Aderhold ist Pädagogin, Johannes Spohr ist Historiker und Journalist. Vielleicht gehört diese Berufswahl zu ihrem Umgang mit der NS-Täterschaft in der eigenen Familie. Die Sozialwissenschaftlerin Iris Wachsmuth hat mit Nachfahren gesprochen, die von der Rolle ihrer Eltern und Großeltern während der NS-Zeit nichts wussten und trotzdem Erben ihrer Verstrickungen sind.
Iris Wachsmuth: "Und die dritte Generation fährt ein Jahr lang mit Aktion Sühnezeichen nach Israel und pflegt dort alte Holocaustüberlebende, stellt aber selber keinen Bezug her zu dieser Familiengeschichte. Und das ist doch hochspannend, und solche Geschichten haben wir tausendfach: Verbindungen, die aus delegierten Familienaufträgen kommen, und die letztendlich Schuld, Scham, Verantwortung, Wiedergutmachung verhandeln. Und ich find es immer eine verpasste Chance, wenn das die nachfolgenden Generationen nicht machen."