Vergangenheitsbewältigung

"Rechtsprechung der 80er-Jahre nicht mehr aktuell"

Der Leiter der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen: Kurt Schrimm
Kurt Schrimm © picture-alliance/ dpa / Daniel Bockwoldt
Kurt Schrimm im Gespräch mit Patrick Garber |
Es ist ein Wettlauf mit der Zeit: Die Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen hat 30 neue Verfahren gegen mutmaßliche SS-Schergen des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau angestoßen.
Deutschlandradio Kultur: Tacheles reden wir heute über Recht und Gerechtigkeit angesichts der Menschheitsverbrechen des Nationalsozialismus. Mein Gesprächspartner dabei ist Kurt Schrimm, seines Zeichens Leitender Oberstaatsanwalt und Chef der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen in Ludwigsburg. Und weil diese Amtsbezeichnung etwas sperrig ist, wird er manchmal auch einfach "Deutschlands oberster Nazi-Jäger" genannt. Guten Tag, Herr Schrimm.
Kurt Schrimm: Guten Tag, Herr Garber.
Deutschlandradio Kultur: Herr Schrimm, Sie waren gerade in Brasilien, aber das hatte nichts mit Fußball zu tun, sondern war streng dienstlich. Sie haben in brasilianischen Archiven geforscht. Was haben Sie dort gesucht?
Kurt Schrimm: Ich muss da vielleicht ein bisschen in die Vergangenheit zurückgehen. Ursprünglich hat die Zentrale Stelle so gearbeitet, wie das eine Staatsanwaltschaft tut, nämlich, wenn ein Anfangsverdacht vorliegt, dann wird streng am Fall gearbeitet, entweder gegen einen Tatverdächtigen oder es wird versucht den Fall, der zur Sprache gekommen ist, aufzuklären.
Dieser Anfangsverdacht, der von außen kam, hat im Laufe der Jahrzehnte natürlicherweise nachgelassen und wir mussten uns nach anderen Arbeitsmethoden umsehen. Wir hatten dann den Gedanken, dass doch sehr viele bekanntermaßen Naziverbrecher sich nach dem Krieg nach Südamerika abgesetzt hatten.
Deutschlandradio Kultur: Die berühmte "Rattenlinie".
Kurt Schrimm: Die berühmte Rattenlinie, ja. Viele Namen sind bekannt, aber es fand nie eine systematische Suche statt. Und das brachte uns auf die Idee, in südamerikanischen Archiven nach bestimmten Kriterien nach Namen zu suchen und nach Männern zu suchen oder auch Frauen, die für unsere Tätigkeit interessant sein könnten.
Deutschlandradio Kultur: Also eine Art Rasterfahndung im Archiv?
Kurt Schrimm: So kann man das nennen, ja. Wie gesagt, es sind bestimmte Kriterien, die wir uns selbst ausgesucht haben. Nach diesen Kriterien durchforsten wir tatsächlich systematisch die Akten derzeit in Brasilien. Wir haben dies schon getan in Uruguay und Chile und teilweise auch in Argentinien.
Deutschlandradio Kultur: Sind Sie jetzt fündig geworden?
Kurt Schrimm: Das lässt sich im Augenblick mit der letzten Dienstreise noch nicht mit Bestimmtheit sagen. Es ist so, dass wir - wie gesagt - nach bestimmten Kriterien uns Namen heraussuchen. Und die werden dann hier in Deutschland in den nächsten Wochen mit den uns bekannten Quellen, hauseigenen oder hausfremden Quellen, abgeglichen. Erst dann können wir drüber sagen, wir hatten Erfolg oder wir hatten keinen Erfolg.
Deutschlandradio Kultur: Zurzeit ist Ihre Dienststelle ja vor allem mit Auschwitz beschäftigt - wieder einmal. Sie haben kürzlich 30 Fälle an die zuständigen Staatsanwaltschaften übergeben. Dabei geht es um mutmaßliche ehemalige SS-Wachleute im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau. Warum diese neuen Verfahren? Ist neues Beweismaterial aufgetaucht?
Kurt Schrimm: Nein. Wir haben einfach anlässlich eines bestimmten Verfahrens, das uns über acht Monate lang beschäftigt hat, die Rechtslage oder die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs noch einmal überdacht. Und wir sind zum Ergebnis gekommen, dass das, was der Bundesgerichtshof gelten ließ, zuletzt, meine ich, im Jahr 1983, für die ehemaligen Aufseher in Auschwitz, sich mit den heutigen Forschungsergebnissen und mit dem heutigen Rechtsverständnis nicht mehr vereinbaren lässt.
Wir meinen, dass die Schwelle zur Strafbarkeit in Auschwitz bisher zu hoch angesetzt war für bestimmte Aufseher und haben uns deshalb entschlossen, bestimmte Fälle noch einmal neu zu überprüfen und gegebenenfalls an die Staatsanwaltschaften abzugeben.
Deutschlandradio Kultur: Nun handelt es sich bei den Beschuldigten um Männer und, Sie sagten es ja auch, um Frauen, die 90 Jahre alt sind und teilweise auch noch deutlich älter. Glauben Sie, dass es bei so hochbetagten Beschuldigten überhaupt noch zu Urteilen kommen wird?
Wir sind keine Strafverfolgungsbehörde
Kurt Schrimm: Es wird sicherlich ganz selten noch zu Urteilen kommen und noch seltener zu rechtskräftigen Urteilen. Das ist unser Ziel, das wir anstreben, aber wir sind realistisch genug, um zu wissen, dass dies in den wenigsten Fällen erreicht werden kann.
Dazu möchte ich aber noch ergänzend sagen: Es ist letztlich zwar unser Ziel, wie gesagt, aber nicht unsere Aufgabe, diese Leute vor Gericht oder gar ins Gefängnis zu bringen. Sie haben vorher richtig unsere Bezeichnung dem Publikum mitgeteilt, den Zuhörern: Zentrale Stelle zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen. Wir sind also keine Strafverfolgungsbehörde, sondern unsere Aufgabe ist es festzustellen, was ist geschehen und wer kommt als Tatverdächtiger in Betracht. Alle weiteren Kriterien, die Haftfähigkeit, die Verhandlungsfähigkeit, sind dann später von einer Staatsanwaltschaft zu prüfen.
Deutschlandradio Kultur: Und diese 30 neuen Fälle, die im letzten Jahr einiges Aufsehen erregt haben, die haben Sie jetzt also an die zuständigen Staatsanwaltschaften übergeben in insgesamt elf Bundesländern. Die sind jetzt am Zug. Wissen Sie, wie da der Stand ist? Wurden Beschuldigte in Haft genommen? Gibt es am Ende schon Anklagen?
Kurt Schrimm: Ich habe keinen Gesamtüberblick über diese Verfahren. Die Rückmeldungen sind nicht immer vollständig. Und ich muss ganz offen sagen: Wir wenden uns natürlich unseren neuen Fällen zu. Wir haben ein Auge auf die abgegebenen Fälle, aber nicht in ihrer Vollständigkeit. Ich weiß, dass hier in Baden-Württemberg zunächst drei Haftbefehle beantragt wurden, die aber dann von den Gerichten außer Vollzug gesetzt wurden, nicht wegen mangelnden Tatverdachts, sondern aus gesundheitlichen Gründen der Tatverdächtigen.
Deutschlandradio Kultur: Ich habe auch von einem anderen Fall gelesen, der spielt in Sachsen. Die Staatsanwaltschaft Chemnitz hat auch von Ihnen belastende Unterlagen über einen 91-Jährigen aus Döbeln in Sachsen bekommen. Und die sagt nach der ersten Sichtung, das Material sei sehr dünn und würde für eine Anklage wohl gar nicht ausreichen.
Kurt Schrimm: Ja, das halte ich für durchaus denkbar. Es ist nicht genau festgelegt, wann wir unsere Fälle der Staatsanwaltschaft abzugeben haben. Fest steht lediglich aufgrund der Verwaltungsvereinbarung, wir können die Abschlussverfügung selbst nicht erlassen. Das heißt, wenn wir einen einzelnen Fall bearbeiten oder zwei Fälle, dann versuchen wir die Ermittlungen möglichst bis zum Ende selbst zu betreiben und dann ein möglichst abschlussreifes Verfahren an die Staatsanwaltschaft abzugeben. Wenn es in diesem Fall 30 Verfahren waren, sind wir einfach personell nicht in der Lage, diese 30 Fälle durch zu ermitteln, so dass zwangsläufig Ermittlungslücken noch bestehen, die dann von den Staatsanwaltschaften ausgefüllt werden müssen.
Im Übrigen, wie gesagt, wir können keine Abschlussverfügung treffen, auch keine einstellende Abschlussverfügung. Das heißt also, auch dann, wenn wir selbst schon der Ansicht sind, es reicht für eine Anklage nicht aus, müssen wir diese Entscheidung der Staatsanwaltschaft überlassen.
Verhaftet, entlassen, entschädigt
Deutschlandradio Kultur: In einem anderen Fall ist schon entschieden worden, der Fall Hans Lipschis, 94 Jahre alt, beschuldigt der Beihilfe zum Mord an mehr als 10.000 Menschen in Auschwitz. Das Verfahren gegen ihn wurde eingestellt wegen Demenz. Und für die Untersuchungshaft, die er im Zuge dieses Verfahrens durchgemacht hat, bekommt er sogar noch 5350 Euro Haftentschädigung. - Können Sie das nachvollziehen?
Kurt Schrimm: Ja, das entspricht der Gesetzeslage. Wenn jemand zu Unrecht in Untersuchungshaft genommen wird, und das ist immer dann der Fall, im Nachhinein betrachtet, wenn kein verurteilendes Urteil erfolgt, dann hat der einen Anspruch auf Entschädigung.
Deutschlandradio Kultur: Aber gibt es dann nicht ein Problem mit dem Gerechtigkeitsempfinden, wenn jemand, der als mutmaßlicher Massenmörder gilt, nicht nur wieder freigelassen wird, sondern auch noch Geld bekommt?
Kurt Schrimm: Ich empfinde es nicht als ungerecht, denn man darf hier nicht unterscheiden zwischen den verschiedenen Vorwürfen. Handelt es sich um einen, ich möchte mal sagen, aktuellen Mörder, der verdächtigt war, eine Frau oder irgendjemand umgebracht zu haben, darf nicht unterschieden werden zwischen einem Täter, der verdächtig war, während des sogenannten Dritten Reiches Morde begangen zu haben. So scheußlich diese Verbrechen damals waren, sie dürfen rechtlich nicht anders behandelt werden als andere Verbrechen auch. Deswegen unterscheidet das Gesetz zu Recht nicht nach der Art des Vorwurfs, sondern nur danach, ob der Tatverdächtige letztendlich verurteilt oder freigesprochen wird.
Deutschlandradio Kultur: Bleiben wir noch einen Moment bei diesem Fall Hans Lipschis. Der war für die Behörden ja kein Unbekannter. Spätestens seit Anfang der 80er-Jahre wusste man einiges über seine Vergangenheit. Warum hat es so lange gedauert, bis tatsächlich dann gegen ihn ermittelt wurde?
Kurt Schrimm: Es entsprach damals, wie gesagt, dem Stand der obergerichtlichen Rechtsprechung, der höchstrichterlichen Rechtsprechung. Der Bundesgerichtshof hat 1983 noch die Auffassung vertreten: Jemand, der nur als Aufseher tätig war und dem keine individuelle Beteiligung an einem Tötungsdelikt nachgewiesen werden kann im Lager Auschwitz, der kann auch nicht als Gehilfe verurteilt werden.
Wir sind, wie gesagt, zu einem anderen Ergebnis gekommen aufgrund eigener Überlegungen und sind dann eigentlich froh gewesen, dass das Gericht oder die Staatsanwaltschaft zunächst mal und dann das Gericht in rechtlicher Hinsicht unserer Auffassung gefolgt ist. Aber, was hier Jahrzehnte geschah, wie gesagt seit den 80er-Jahren bis jetzt, entsprach ganz einfach der obergerichtlichen Rechtsprechung.
Hierzu muss man sagen, in der Bundesrepublik herrscht bekanntermaßen die Gewaltenteilung. Das heißt also, die Exekutive, in diesem Fall die Staatsanwaltschaften oder wir, wir führen Gesetze aus. Und die Rechtsprechung überprüft, ob wir richtig handeln oder nicht - nicht umgekehrt. Wir haben nicht die Rechtsprechung zu überprüfen der 80er-Jahre. Wir haben es getan, weil wir dachten, es wäre an der Zeit, aber es ist im Grunde genommen nicht Aufgabe der Exekutive, die Judikative zu überprüfen.
Deutschlandradio Kultur: Spielte dabei auch der Fall John Demjanjuk eine Rolle? - Zur Erinnerung: John Demjanjuk, gebürtiger Ukrainer, Wachmann im Vernichtungslager Sobibor, 2011 vom Landgericht München wegen Beihilfe zu Mord zu fünf Jahren verurteilt. Das war auch ein kleiner Wachmann. Ihm konnte man auch individuell nichts nachweisen. Aber trotzdem ist er verurteilt worden, wenn auch nicht rechtskräftig, weil er vor der Revision verstorben ist.
Kurt Schrimm: Die Vorgeschichte des Verfahrens in unserem Haus spielte eine ganz entscheidende Rolle für die nachfolgende Entwicklung. Wir haben sehr intensiv an diesem Fall gearbeitet, insgesamt acht Monate lang. In diesen acht Monaten haben wir auch eingehend die Rechtsprechung zu diesem Komplex des Bundesgerichtshofs überprüft und kamen dann zum Ergebnis, dass die seit den 80er-Jahren geltende Rechtsprechung heute nicht mehr aktuell ist aufgrund neuer Überlegungen, aber auch aufgrund neuer Forschungsergebnisse. Seit der Wende bestehen ganz andere Möglichkeiten, sich um diese Fälle zu kümmern, wie das vorher der Fall war. Deswegen, wie gesagt, hat dieser Fall bei uns zu einem Umdenken geführt.
Ich möchte aber auch ganz offen sagen, wir wissen nicht, wie der Bundesgerichtshof entschieden hätte, hätte er über den Fall Demjanjuk noch zu entscheiden gehabt. Wir müssen damit rechnen, dass - wenn ein solcher Fall zum Bundesgerichtshof kommt - das Oberste Gericht sagt, nein, wir bleiben bei unserer Rechtsprechung aus den 80er-Jahren und zuvor.
Der Angeklagte John Demjanjuk in einem Gerichtssaal in München.
John Demjanjuk vor Gericht© AP
Deutschlandradio Kultur: Denn da gibt es ja gerade beim Bundesgerichtshof ganz feinsinnige Unterscheidungen, die für den Nichtjuristen vielleicht etwas erklärungsbedürftig sind - die Unterscheidung zwischen einem Konzentrationslager und einem Vernichtungslager. In einem Vernichtungslager, das waren reine Tötungsfabriken, und wer dort als Wachmann gearbeitet hat, der wurde auch schon in den 50er-, 60er-Jahren belangt, ohne dass man ihm individuell etwas nachweisen konnte - wie zum Beispiel Demjanjuk.
Bei Konzentrationslagern wird das anders gesehen. Auschwitz ist so ein Mittelfall, sowohl Vernichtungslager als auch Konzentrationslager. Ist es denn von der historischen Sachlage her irgendwie relevant, zu rechtfertigen? Auch in Konzentrationslagern war ja doch die erklärte Absicht der dort Tätigen, die Häftlinge zu vernichten durch Arbeit.
Kurt Schrimm: Die Frage ist aber, und das müssen wir nachweisen, dass jedem Aufseher, der in Auschwitz tätig war oder in den übrigen Konzentrationslagern, nehmen wir Dachau, nehmen wir Sachsenhausen, nehmen wir Mauthausen oder ähnliches, wir müssen dem Täter, dem Tatverdächtigen Kenntnis nachweisen. Und das ist bei den Konzentrationslagern wie Auschwitz, beispielsweise - Stammlager, oder noch schwieriger Auschwitz III-Monowitz, ist es nicht in allen Fällen möglich. Hier konnte es tatsächlich sein, dass jemand als Wachhabender tätig war, möglicherweise sogar nur im Außenbereich, ohne das Ziel der Machthaber zu kennen und ohne die tatsächlichen Geschehnisse innerhalb des Lagers zu kennen.
Das ist bei den Vernichtungslagern anders. Sie waren übersichtlicher, weil kleiner wie Auschwitz. Und sie wurden, wie Sie selbst sagten, nur zu dem Zweck errichtet, Menschen umzubringen. Und es konnte keinem Aufseher, der länger als ein, zwei Wochen dort tätig war, verborgen bleiben, dass keiner, aber auch wirklich keiner dieser Lagerinsassen, die ins Lager eingeliefert wurden, dieses lebendig wieder verlassen konnte. - Anders bei Auschwitz, wo eben viele Häftlinge, Auschwitz diente beispielsweise als Durchgangslager für Arbeitshäftlinge, die ins sogenannte Reich geschickt wurden, es diente als Verteilungslager für andere Konzentrationslager. Hier gingen eben auch Transporte ab und nicht nur ein, wie das in das in den Vernichtungslagern war. Deswegen ist es hier sehr viel schwieriger für die Ermittlungsbehörden, dem Täter eine Kenntnis und damit auch einen Vorsatz nachzuweisen.
Deutschlandradio Kultur: Zumal nach 70 Jahren. Herr Schrimm, wenn wir jetzt nochmal zusammenfassen, was wir bisher über die schwierige Beweislage gesagt haben oder auch das hohe Alter der Beschuldigten, um die 90 oder noch mehr, das ja sicherlich zu weiteren Verfahrenseinstellungen führen wird, warum haben Sie dann diesen Anlauf überhaupt nochmal gemacht?
Kurt Schrimm: Wir müssen unterscheiden zwischen dem, was getan werden muss, und dem, was möglicherweise wünschenswert oder nicht mehr wünschenswert ist.
Die erste Frage ist ganz einfach zu beantworten. Der Gesetzgeber hat sich entschieden im Jahr 1979, die Verjährung für Mord aufzuheben. Mit dieser Vorschrift korrespondiert das sogenannte Legalitätsprinzip. Das heißt, die Staatsanwaltschaft und damit in diesen Fällen auch wir haben keine Wahlmöglichkeit, ob wir einem Verbrechen nachgehen oder nicht. Wenn ein unverjährtes Verbrechen vorliegt, dann müssen wir verfolgen. Dann müssen wir den Sachverhalt aufklären.
Die zweite Frage, ob dies außerhalb des Legalitätsprinzips wünschenswert ist, muss natürlich jeder für sich selbst beantworten. In meiner langjährigen Erfahrung weiß ich, dass nicht nur unter Fachleuten, sondern auch in der gesamten Bevölkerung diese Frage heftig diskutiert wird und Meinungen vertreten werden nach beiden Seiten, die durchaus logisch nachvollzogen werden können.
Deutschlandradio Kultur: Ihre Dienststelle gibt es schon ziemlich lang. Sie wurde 1958 gegründet und hat in der Zeit seither rund 7500 Vorermittlungsverfahren eingeleitet, wie gesagt, Vorermittlungsverfahren. Sie können ja nicht selber anklagen. Sie leisten nur die Vorarbeit für die Staatsanwaltschaften. Und bei den Staatsanwaltschaften sind viele Verfahren, die Ihre Stelle angeschoben hatte, aus unterschiedlichsten Gründen nicht abgeschlossen worden, im Sande verlaufen.
War es denn ein Fehler, ein Geburtsfehler der Zentralen Stelle, dass Sie keine eigene Kompetenz zur Anklageerhebung hat?
Kurt Schrimm: Diese Frage würde ich mit einem eindeutigen Ja beantworten. Es ist so, dass im Laufe der Zeit, in sehr kurzer Zeit in Ludwigsburg Kollegen und Kolleginnen tätig waren, die sich ein hohes Fachwissen erworben haben, die gründlich ermittelt haben, die über Jahre lang ermittelt haben, die komplexe Aktenwerke zusammengetragen haben. Und ein solcher Fall kommt nun an eine Staatsanwaltschaft, die mit vier oder fünf Kolleginnen oder Kollegen besetzt ist, die noch nie mit einem solchen Fall irgendwie in Berührung gekommen waren, denen die Materie völlig fremd ist. Und ich bin überzeugt, das heißt, ich weiß es, dass da sehr, sehr viel Sand ins Getriebe kam.
Deswegen, wie gesagt, die Frage, ob es ein Fehler war, uns keine Anklagekompetenz zu übertragen, würde ich ganz eindeutig und ohne Einschränkung mit Ja beantworten.
Deutschlandradio Kultur: Aber das sieht man doch jetzt schon seit Jahrzehnten. Warum ist das nicht geändert worden?
Kurt Schrimm: Vielleicht war es, das klingt jetzt möglicherweise seltsam, aber es war wohl ein Fehler, objektiv ein Fehler, dass die Arbeit der Zentralen Stelle anfangs so erfolgreich war. Sie führte ja zunächst mal zu den Auschwitz-Prozessen, ...
Deutschlandradio Kultur: 1963 die ersten...
Kurt Schrimm: ... aus denen viele weitere Prozesse, Majdanek usw., hervorgingen. Die Arbeit war also erfolgreich und man sah keinen Anlass, das zu ändern.
Deutschlandradio Kultur: Aber, wie gesagt, viele Verfahren waren nicht erfolgreich. Viele Ermittlungsverfahren haben sich über Jahre oder Jahrzehnte hingezogen. Woran liegt das? An der, wie Sie schon sagten, mangelnden historischen Kompetenz von Staatanwälten, die normalerweise ganz was anderes tun? Oder hat man sich manchmal auch bewusst Zeit gelassen in der Hoffnung, dass der Fall sich von allein erledigt, biologisch durch Tod der Beschuldigten oder durch zu hohes Alter?
Kurt Schrimm: Das kann ich mir nicht vorstellen. Ich bin seit ... bin am rechnen ... 35 Jahren Staatsanwalt und habe in der Zeit viele Kolleginnen und Kollegen kennengelernt. Nein, es gehört ja zur Arbeit eines Staatsanwalts und auch zum Selbstverständnis, dass man seine Arbeit nicht umsonst tut. Und wenn man da sitzt und wartet, bis sich ein Fall von selbst erledigt, das ist unbefriedigend. Ich würde keinem einzigen Kollegen unterstellen, dass irgendwelche Absicht dahinter stand. Nein, es ist ja heute noch so. Wenn neue Kollegen zu mir kommen, selbst erfahrene Richter und Staatsanwälte, sie brauchen eine Einarbeitungszeit von drei Monaten bis sechs Monaten, obwohl sie erfahrene Kollegen um sich haben, die sie tatsächlich systematisch einarbeiten und die sie fragen können.
Kommt ein solcher Fall zu einer Staatsanwaltschaft mit wenig Personal und völlig unerfahrenen Kollegen auf diesem Sektor, da ist es beinahe vorprogrammiert, dass der Fall nicht so bearbeitet werden kann, wie er sollte.
Deutschlandradio Kultur: Sie haben lange rechnen müssen, wie lange Sie sich mit der Materie schon beschäftigen, denn Sie tun das in der Tat sehr lange. Bevor Sie an die Zentralstelle gekommen sind, in Ihrer Zeit als Staatsanwalt, haben Sie sich auch schon mit NS-Tätern beschäftigt. Ihr bekanntester Fall war der frühere SS-Lagerkommandant Josef Schwammberger. Gegen den haben Sie ermittelt. Sie haben ihn tagelang verhört. 1992 wurde er zu lebenslanger Haft verurteilt.
Wie haben Sie diesen Menschen damals wahrgenommen in den Verhören?
Der frühere SS-Oberscharführer Josef Schwammberger mit seinem Wahlverteidiger Heinrich Blessinger (l) am 29. April 1992 im Landgericht Stuttgart.
Der frühere SS-Oberscharführer Josef Schwammberger mit seinem Wahlverteidiger Heinrich Blessinger (l) am 29. April 1992 im Landgericht Stuttgart.© picture alliance / dpa
Josef Schwammberger - ein Mann mit zwei Gesichtern
Kurt Schrimm: Er war ein Mensch mit absolut zwei Gesichtern. Das hat sich schon in seiner Vita widergespiegelt. Er war, bevor er Kommandant dieses Ghettos wurde bzw. Lagerkommandant wurde, ein zwar politisch fanatischer, aber in strafrechtlicher Hinsicht völlig unbescholtener Mensch. Es sind keine Gewaltdelikte aus seiner Jugend oder früher bekannt. Seine scheußlichen Gewalttaten fielen ausschließlich in die Zeit, in der er Lager- bzw. Ghetto-Kommandant war. Und das setzt sich fort nach dem Krieg. Er war in Argentinien 40 Jahre ein völlig unbescholtener, völlig unauffälliger Bürger - hier also schon die Janusköpfigkeit, die bei ihm festzustellen war.
Er hatte auch während der Vernehmungen zwei Gesichter. Das könnte ich Ihnen vielleicht anhand eines Dialogs mit meiner damaligen Schreibkraft schildern. Ich habe ihn die ersten beiden Tage nur erzählen lassen, ohne ihm Fragen zu stellen. Er erzählte von seiner Kindheit, von seiner Jugend, wir haben die Kriegszeit ausgelassen, und dann die Nachkriegsgeschichte. Und meine Schreibkraft sagte damals: Ich kann mir nicht vorstellen, dass dieser Mann ein Massenmörder ist. - Nach Beendigung der Vernehmung, als es dann hart zur Sache ging, als ich ihn mit den Vorwürfen konfrontierte, als ich ihm Vorhalte machte, als ich ihn mit den Zeugenaussagen konfrontierte, war er wie umgewandelt. Und am Schluss der Vernehmung sagte dieselbe Sekretärin: Mein Gott, bin ich froh, dass ich ihm hier und nicht im Ghetto begegnet bin.
Deutschlandradio Kultur: Ist Ihnen diese Janusköpfigkeit häufiger begegnet bei NS-Straftätern?
Kurt Schrimm: Nicht in diesem Ausmaß. Er war aber auch mit Abstand der fanatischste aller Täter. Und er war der absolute Überzeugungstäter. Viele andere, die sich auf Befehle berufen haben, zum großen Teil auch zu Recht, oder die versucht haben, ihre Tätigkeit abzumildern oder im milden Licht dastehen zu lassen, er hat auch nichts zugegeben, aber wenn man 63 Hauptverhandlungstage hat und man ihn sechs Tage vernimmt, bekommt man ein Gespür dafür. Er war ein fanatischer Überzeugungstäter, der - und das ist eigentlich die Negativbilanz, die ich ziehe - in der gleichen Situation das Gleiche wieder tun würde.
Deutschlandradio Kultur: Die andere Seite: Sie haben auch Zeugen befragt, Überlebende des Holocaust, die Furchtbares durchgemacht haben. Zu denen kamen Sie als deutscher Ermittlungsbeamter und wollten von denen alles haarklein nochmal erzählt haben für Ihre Ermittlungen. Das muss doch eine schwierige Gesprächssituation gewesen sein für alle Beteiligten.
Kurt Schrimm: Das ist für alle Beteiligten sehr schwierig gewesen, ja, zunächst mal von der Zeugenseite her. Da möchte ich drei Kategorien unterscheiden.
Der eine Zeuge, der sagte, ich will mit Ihnen nix zu tun haben. Ich möchte über diese Materie nicht mehr sprechen. Es ist mir gelungen, dies alles zu verdrängen und ich möchte nicht, dass es alles noch einmal an die Oberfläche kommt.
Der nächste Zeugentypus war derjenige, der sagte: An und für sich möchte ich mit der Sache nichts mehr zu tun haben, aber ich sage aus, weil ich es denjenigen schuldig bin, die selber nicht mehr aussagen können.
Die dritte Kategorie von Zeugen waren die, die förmlich darauf gewartet haben, dass sie uns erzählen konnten, was geschehen ist. Aber auch diese Vernehmungen, das waren möglicherweise sogar die schwierigsten. Wir sind ja gezwungen von Gesetzes wegen, uns auch über die Glaubwürdigkeit der Zeugen Gedanken zu machen. Hat der Zeuge ein gutes Gedächtnis? Hat er vielleicht sein Wissen von anderen Zeugen? Das heißt, wir sind gezwungen, den Zeugen Dinge zu fragen, die er nicht versteht. Und ich war sehr oft mit dem Vorwurf konfrontiert oder mit der aggressiven Frage: Ja, wer ist denn hier der Beschuldigte, Schwammberger oder ich? Was geht Sie dies aus meinem Leben an? - Das den Zeugen zu vermitteln, war manchmal sehr, sehr schwierig.
Deutschlandradio Kultur: Herr Schrimm, Sie werden im Sommer 65 Jahre alt. Der wohlverdiente Ruhestand naht. Was wird für Ihren Nachfolger oder Ihre Nachfolgerin noch zu tun bleiben in der Ludwigsburger Zentralstelle? Ist die Zeit dann abgelaufen, um noch nach Gerechtigkeit zu streben?
Kurt Schrimm: Ja, der Nachfolger wird sich zunächst einmal mit dem Gedanken anfreunden müssen oder sich an den Gedanken gewöhnen müssen, dass seine Arbeit nicht mehr von großem Erfolg gekrönt sein wird. Eine Entwicklung, die bei mir einfacher war, weil ich, wie gesagt, über mehrere Jahrzehnte in dieser Materie tätig bin und deswegen die Entwicklungen eben mitbekommen habe.
Er wird sich damit abfinden müssen, dass seine Tätigkeit mehr und mehr nur noch historischen Wert haben wird und nicht mehr zur rechtskräftigen Verurteilung eines Tatverdächtigen führen wird. Aber das ist eine Aufgabe, meine ich, die auch in dieser Form es wert ist, getan zu werden. Denn auch die Überlebenden, auch die heute noch Überlebenden teilen diese Meinung: Es ist heute wichtiger, dass Tatsachen festgestellt werden und ein Tatverdächtiger festgestellt wird, als dass dieser noch rechtskräftig verurteilt wird.
Natürlich ist diese Verurteilung das sogenannte Tüpfelchen auf dem i, aber die Sachverhaltsfeststellung steht heute eindeutig im Vordergrund.
Deutschlandradio Kultur: Vielen Dank für das Gespräch.
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