Vergesellschaftung von Unternehmen

Legitime Alternative oder neue Planwirtschaft?

27:04 Minuten
"Haus Liebe statt Dax Diebe" seht auf einem als Protestplakat funktionierenden Haus aus Pappe.
Private Unternehmen möchten Kapital vermehren und haben also keinen Anreiz, günstigen Wohnraum zur Verfügung zu stellen. © imago images/snapshot / K.M.Krause
Von Philipp Lemmerich |
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Die Unantastbarkeit von Privateigentum war in der Bundesrepublik jahrzehntelang politischer Konsens. Doch Wohnungsnot, wachsende Ungleichheit und Klimakrise lassen Rufe nach Vergesellschaftung von Betrieben lauter werden. Wie könnte und sollte das aussehen?
26. September 2021. Parallel zur Bundestagswahl stimmen in Berlin 2,4 Millionen Wahlberechtigte über die Initiative "Deutsche Wohnen & Co. enteignen" ab. Immobilien von Konzernen mit mehr als 3000 Wohnungen sollen vergesellschaftet werden.
„Wenn es um ein Grundgut geht wie Wohnen, dann ist eben Spekulation fehl am Platz. Es ist einfach Zeit, einen Schlussstrich zu ziehen, dass große Wohnungskonzerne und die Aktionär*innen, Vermögensverwalter wie Blackrock daran verdienen, dass andere unter schlechten und immer schlechteren Bedingungen leben müssen“, sagt Aktivistin Jenny Stupka.
56,4 Prozent der Berlinerinnen und Berliner stimmen mit Ja. Eine deutliche Mehrheit. SPD-Spitzenkandidatin Franziska Giffey ist nach der Wahl nicht zum Scherzen zumute:
„Ich habe mich ja im Wahlkampf sehr klar positioniert, dass ich Enteignung oder Vergesellschaftung nicht für den richtigen Weg halte, um die Frage des bezahlbaren Wohnens zu lösen. Wir haben dennoch jetzt einen Volksentscheid, der positiv ausgegangen ist. Wir müssen als Politik damit verantwortungsvoll und respektvoll umgehen. Aber ich finde, es muss eine sehr, sehr ernsthafte Prüfung geben über Rechtmäßigkeit, Verfassungsmäßigkeit, Finanzierbarkeit und die Folgen, die das für das Land Berlin auch hat. "
In Berlin trifft die Enteignungsinitiative einen Nerv. Im Jahr 2020 lebten fast 300.000 Menschen mehr in der Stadt als 20 Jahre zuvor. Dazu sind Immobilien seit der Finanzkrise 2008 als Geldanlage besonders gefragt. In einer boomenden Stadt ist wenig Platz für niedrige Mieten. Allein zwischen 2015 und 2020 stiegen die Mieten für Neuvermietungen in der Hauptstadt um 44 Prozent.

Privatisierungswelle Ende der 90er- und Anfang der Nullerjahre

Die Probleme auf dem Miet- und Immobilienmarkt sind hinlänglich bekannt. Obwohl seit Jahren darüber debattiert wird, hat sich wenig geändert. Ein Marktversagen? Eher eine gewöhnliche Marktlogik, meint Andrej Holm, Stadtsoziologe an der Humboldt-Universität zu Berlin.
„Der Markt wird im besten Fall bei Mietangeboten immer den Durchschnitt erzielen wollen“, sagt er. „Die meisten streben sogar danach, mehr als die durchschnittliche Verzinsung des Eigenkapitals zu realisieren. Und mit der durchschnittlichen Verzinsung des Eigenkapitals können aber Haushalte mit unterdurchschnittlichen Einkommen nie versorgt werden.“

Wie kann der Wohnungsknappheit begegnet werden? Mit Vergesellschaftung zum Beispiel. Dafür gebe es im Grundgesetz den Artikel 15, erläutert der Jurist Tim Wihl. [Audio] Er sieht in der Bestimmung ein "Grundrecht auf Entprivatisierung". Dass davon bislang noch kein Gebrauch gemacht wurde, liege auch am Ausgang der ersten Bundestagswahl.

Anhänger der Kampagne "Deutsche Wohnen und Co. enteignen" halten bei einer Veranstaltung Plakate der Kampagne, auf denen für den dazugehörigen Volksentscheid in Berlin geworben wird.
© picture alliance / dpa / Christophe Gateau
Wer Kapital investiert, will es vermehren. Private Unternehmen haben demnach keinen Anreiz, günstigen Wohnraum zur Verfügung zu stellen. Öffentliche, gemeinnützige oder genossenschaftliche Unternehmen können sich diesem Profitstreben entziehen und soziale Wohnversorgung ermöglichen. Doch gerade die mussten in der großen Privatisierungswelle Ende der 90er- und Anfang der Nullerjahre Federn lassen. Über 200.000 Wohnungen wurden damals in Berlin privatisiert.
„Da ist es relativ naheliegend, in vielen Diskussionen von Rekommunalisierung zu sprechen, von Sozialisierung, von Enteignung, wie es die Kampagne ‚Deutsche Wohnen & Co. enteignen‘ jetzt macht“, sagt Andrej Holm.

Juristisch gesehen sind Enteignungen möglich

Das sehen bei Weitem nicht alle so. Gegenwind kommt aus der Wirtschaftsforschung, zum Beispiel von Marcel Fratzscher, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung DIW.
„Bei Immobilien sehe ich überhaupt keine Rechtfertigung, Menschen zu enteignen oder Konzerne zu enteignen“, sagt er. „Und ich sehe das sehr gefährlich. Denn wo ziehen Sie dann die Schlusslinie? Wie viel enteignen wollen Sie denn? Wollen Sie dann auch nicht nur Immobilien enteignen, wollen Sie auch Unternehmen enteignen? Was ist mit Banken? Das führt in einer Marktwirtschaft zum kompletten Chaos und führt dazu, dass sehr, sehr viel Wert und sehr, sehr viel Wohlstand zerstört wird.“
"DW enteignen" steht an einer Kanaleinfassung in Berlin-Kreuzberg.
56,4 Prozent der Berlinerinnen und Berliner stimmten für die Initiative "Deutsche Wohnen & Co. enteignen".© picture alliance / Winfried Rothermel
Juristisch gesehen sind Enteignungen in Deutschland durchaus möglich. Im Artikel 14 des Grundgesetzes heißt es: „Eine Enteignung ist nur zum Wohle der Allgemeinheit zulässig. Die Entschädigung ist unter gerechter Abwägung der Interessen der Allgemeinheit und der Beteiligten zu bestimmen.“
Marcel Fratzscher sieht das nur in Ausnahmen gegeben.
„Enteignung kann in einer Marktwirtschaft, in einer Demokratie wirklich nur in Ausnahmefällen geschehen, wenn man sagt: Hier, da muss eine wichtige Bahnstrecke hin, um im Bereich Klimaschutz voranzukommen. Da ist ein Grundstück, das liegt auf dieser Strecke und das brauchen wir, damit wir diese Bahnstrecke bauen können“, sagt er. „In solchen Fällen kann man und sollte man sicherlich auch Enteignungen machen können. Aber nochmals: Es sollte die Ausnahme bleiben.“

Vergesellschaftung als Instrument ist im Grundgesetz angelegt

Die Initiative „Deutsche Wohnen & Co. enteignen“ zielt – anders als ihr Name vermuten lässt – nicht auf eine Enteignung der Wohnungen ab, sondern auf eine Vergesellschaftung.
Auch dieses Instrument ist im Grundgesetz angelegt. In Artikel 15 heißt es: „Grund und Boden, Naturschätze und Produktionsmittel können zum Zwecke der Vergesellschaftung durch ein Gesetz, das Art und Ausmaß der Entschädigung regelt, in Gemeineigentum oder in andere Formen der Gemeinwirtschaft überführt werden.“
Wie genau dieser Artikel umgesetzt werden kann, ist völlig offen. Er wurde bis dato noch nie angewandt. Fest steht nur: Nach der Entscheidung in Berlin muss nun darüber diskutiert werden, was genau Vergesellschaftung eigentlich bedeutet.

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„Das hat nichts mit Enteignung zu tun, sondern da geht es darum, den Unternehmenszweck zu verändern“, sagt Sabine Nuss, Publizistin und Geschäftsführerin des Dietz-Verlags in Berlin, der unter anderem die Marx-Engels-Werke herausgibt.
„Also ein Unternehmen, das bislang gewinnorientiert gewirtschaftet hat, darf das nach der Vergesellschaftung nicht mehr und muss von da an gemeinnützig das, was auch immer es produziert oder auch Dienstleistungen herstellt, machen“, sagt sie. „Und Gemeinnützigkeit, was das dann im Einzelnen ist und das ist das Interessante, ist total offen. Es ist nicht Verstaatlichung, sondern es ist eben ein unscharfer Begriff. Und das ist das Interessante, weil man jetzt darüber diskutieren muss, gezwungenermaßen: Was bedeutet Vergesellschaftung?“

Verfassungsrechtliche Bedenken der Enteignungsgegner

Die Initiative in Berlin schlägt vor, die vergesellschafteten Wohnungen in eine Anstalt öffentlichen Rechts zu überführen – mit einer starken Selbstverwaltung der Mieterinnen und Mieter und Mitspracherechten auch für die Stadtgesellschaft. Es droht ein jahrelanger Rechtsstreit um die Verfassungsmäßigkeit des Vorhabens.
Die politischen Gegner bringen sich schon einmal in Stellung – zum Beispiel der CDU-Bundestagsabgeordnete Jan-Marco Luczak, der beim Bundesverfassungsgericht auch schon erfolgreich gegen den Berliner Mietendeckel klagte.
„Ist so etwas überhaupt mit dem Grundgesetz in Einklang zu bringen? Verstößt das gegen das Verhältnismäßigkeitsprinzip? Wenn man Wohnungsunternehmen über 3000 Wohneinheiten enteignet, was sind die Maßstäbe dafür? Also da gibt es eine ganze Fülle von verfassungsrechtlichen Fragen, die mich in meiner Einschätzung dazu führen, dass ich sage, wenn man das so umsetzen würde, wäre es ein Verstoß gegen das Grundgesetz“, sagt er.
"Privateigentum - Betreten und Hausieren verboten" steht auf einem Schild vor einer Mauer der Fellini-Höfe in Berlin-Mitte.
Die Unantastbarkeit von Privateigentum wurde hierzulande lange groß geschrieben.© imago/PEMAX
Dass in Deutschland über die Vergesellschaftung von Konzernen debattiert und Rechtsstreite geführt werden, ist durchaus bemerkenswert. Denn die Unantastbarkeit von Privateigentum war in der Bundesrepublik über Jahrzehnte hinweg politischer Konsens. Instrumente wie Enteignungen oder Vergesellschaftung schienen nur etwas für Utopisten und Ideologen. Die soziale Marktwirtschaft: eine Erfolgserzählung.
Zwar waren Genossenschaften, vor allem im Wohnungsbereich, nie ganz aus der Tektonik der sozialen Marktwirtschaft verschwunden. Doch Gemein- und Staatseigentum hatten einen schlechten Ruf. Nicht nur die Mangelwirtschaft im DDR-Staatssozialismus taugte als Negativfolie. Auch öffentliche Betriebe in der Bundesrepublik – Bahn, Post, Telekom – hatten den Ruf, träge, ineffiziente und vor allem kostspielige Bürokratiemonster zu sein.

Forderungen nach neuen Lösungen durch Krisenerfahrungen

Doch in den letzten Jahren hat sich der Blick gewandelt: Finanzkrise, wachsende soziale Ungleichheit, Wohnungsnot, der immer stärker spürbare Klimawandel – die Gegenwart wird von Krisenerfahrungen bestimmt. Gleichzeitig haben viele Menschen das Gefühl, es bewege sich zu wenig, es werde nicht angemessen auf die Krisen reagiert, die Politik schaue einfach nur zu.
Rufe nach neuen Lösungen werden lauter. Dabei werden auch vermeintliche Selbstverständlichkeiten hinterfragt. Zum Beispiel die Unantastbarkeit des Privateigentums.
„Im Alltagsverstand nehmen wir Privateigentum wahr oder wir setzen das gleich mit persönlichem Eigentum. Deshalb hat auch sofort jeder so einen Reflex, wenn jemand Privateigentum kritisiert: Die will mir etwas wegnehmen, die will mir die Zahnbürste wegnehmen“, sagt Sabine Nuss.
Die Publizistin hat ein Buch zum Thema geschrieben: „Keine Enteignung ist auch keine Lösung“.
„In der wissenschaftlichen Auseinandersetzung ist Privateigentum aber wesentlich mehr als einfach nur dieses Verdinglichte, das, was mir gehört, meine Zahnbürste, mein Haus, mein Auto, mein Fahrrad“, sagt sie.
Zunächst einmal ist da die juristische Dimension des Privateigentums. Im Bürgerlichen Gesetzbuch heißt es: „Der Eigentümer einer Sache kann, soweit nicht das Gesetz oder Rechte Dritter entgegenstehen, mit der Sache nach Belieben verfahren und andere von jeder Einwirkung ausschließen.“
Davon leitet Sabine Nuss ab: „Das bedeutet, dass ich, wenn ich sage, etwas ist meins, im Umkehrschluss auch sage: Es ist nicht deins. Daran sieht man: Eigentum ist ein soziales Verhältnis. Ich kann andere ausschließen vom Zugang zu etwas.“

Privateigentum wurde erst im 18. Jahrhundert relevant

Im Mittelpunkt der Kritik am Privateigentum steht natürlich nicht die Frage nach Zahnbürste, Haus oder Fahrrad. Vielmehr geht es um das Eigentum an Produktionsmitteln: Gebäude, Maschinen, Rohstoffe, die zur Produktion von Gütern erforderlich sind.
„Wenn ich eine Verfügungsgewalt habe über die Mittel, mit denen ich Güter produziere, habe ich eine relativ große Macht, weil ich kann entscheiden: Was wird produziert? Zu welchem Zweck wird das produziert? Wer arbeitet für mich? Zu welchem Lohn? Wie nutzen wir die Natur, auf welche Kosten usw. Das heißt, diese Macht ist in der Ordnung, die auf Privateigentum beruht, privat organisiert, im geschlossenen Raum, und einer öffentlichen demokratischen Aushandlung steht sie nicht zur Verfügung.“
Porträt von Jean-Jacques Rousseau gemalt von Maurice Quentin de La Tour aus dem Jahr 1753 
Jean‐Jacques Rousseau verdammte in seinem "Diskurs über die Ungleichheit" das Eigentum.© picture alliance / Bildagentur-online/UIG
Auch wenn der Schutz von Eigentumsrechten heute als unumstößlich gilt – historisch gesehen war das keineswegs der Fall. Privateigentum wurde erst mit der Herausbildung der bürgerlichen Gesellschaft im 18. Jahrhundert eine relevante Größe.
Schon damals war der Dissens groß: Während Adam Smith das Streben nach Eigentum als grundlegenden Antrieb des Menschen verstand, notierte Jean‐Jacques Rousseau in seinem „Diskurs über die Ungleichheit“:
„Der erste, der ein Stück Land mit einem Zaun umgab und auf den Gedanken kam zu sagen: ‚Dies gehört mir‘ und der Leute fand, die einfältig genug waren, ihm zu glauben. Wie viel Elend und Schrecken wäre dem Menschengeschlecht erspart geblieben, wenn jemand die Pfähle ausgerissen und seinen Mitmenschen zugerufen hätte: ‚Hütet euch, dem Betrüger Glauben zu schenken.‘“

Alternativen zum entfesselten Kapitalismus

Auch im 19. Jahrhundert, als die Industrialisierung in Europa voranschritt und zu sozialen Verwerfungen führte, wurde die Frage nach dem Eigentum an Produktionsmitteln vehement gestellt – und das nicht nur bei Karl Marx.
„Als sich die Sozialdemokratie formierte, ging es ja auch in diesen Debatten der Sozialdemokraten immer um die Frage: Was ist denn die Alternative zu einem entfesselten Kapitalismus? Und da war die Einhegung des Kapitalismus durch staatliche Maßnahmen, durch sozialpolitische Maßnahmen eine Variante“, sagt Frank Adloff, Professor für Soziologie an der Universität Hamburg.
„Das andere war, dass die Genossenschaftsbewegung relativ stark war und auch Ideen von Selbstverwaltung oder Wirtschaftsdemokratie, dass also tatsächlich Unternehmen in der Hand der Arbeiter und Arbeiterinnen sind, die waren noch stärker. Der Wohlfahrtsstaat entsteht dann so, wie wir ihn kennen, nach dem Zweiten Weltkrieg und mehr und mehr setzt sich diese Idee auch durch, dass im Grunde Privateigentum gegenübersteht der Idee des staatlichen Eigentums. Und diese dritte Idee, dass es Gemeinschaftseigentum gibt, ist mehr und mehr abhandengekommen.“
Ab Mitte der 1970er-Jahre gewinnt privates Eigentum noch mehr an Bedeutung: Im Neoliberalismus wird privatisiert statt kollektiviert, die Staatsquote sinkt, Genossenschaften spielen so gut wie keine Rolle mehr. Eine wirtschaftliche Verwertungslogik macht sich in immer mehr Lebensbereichen breit – auch in denen, die zuvor zur Daseinsvorsorge zählten: kommunale Wasserversorgung, Infrastruktur oder eben Wohnen.

Kevin Kühnert erntete einen Shitstorm

Heute sei Kritik am Privateigentum eigentlich gar nicht mehr möglich, meint die Publizistin Sabine Nuss.
„Weil man vor einer gesellschaftlichen Folie argumentiert, die im Grunde genommen nur zwei Modelle kennt: Das eine ist der in der Vergangenheit liegende real existierende Sozialismus, in dem vermeintlich gesellschaftliches oder Gemeineigentum oder Volkseigentum realisiert war“, sagt sie.
„Und das andere Modell ist das, was wir kennen: die Ordnung, die auf Privateigentum beruht, die die Voraussetzung dafür ist, dass wir dann Marktwirtschaft und Demokratie haben. Nichtsdestotrotz macht es irgendwie Sinn, dafür zu argumentieren, dass jenseits dieser beiden Modelle durchaus noch anderes denkbar ist.“
Das Paradebeispiel dafür, wie Debatten um Privateigentum und Vergesellschaftung ablaufen, findet sich 2019 nach einem Interview des damaligen Juso-Vorsitzenden Kevin Kühnert in der Wochenzeitung „Die Zeit“. Auf die Frage, ob er Sozialist sei und ob es im Sozialismus Unternehmen wie BMW, die Deutsche Bank oder Siemens geben dürfe, antwortete er:
„Wir wollen nicht zurück auf den Markt des Mittelalters, wo Leute Brot gegen Schweinehälften tauschen. Es ist auch nichts gegen die Marke BMW einzuwenden. Die Frage ist nur, warum es wenige Menschen geben soll, denen BMW exklusiv gehört und die das weitgehend alleinige Recht haben, über Gewinne zu verfügen. Warum sollen die Zehntausenden, die den Wert schaffen, mit einer aus Abhängigkeit heraus verhandelten Lohnsumme abgespeist werden? Warum gehört ihnen nicht zu gleichen Anteilen dieses Unternehmen?“
Ihm sei es weniger wichtig, ob am Ende auf dem Klingelschild von BMW „staatlicher Automobilbetrieb“ oder „genossenschaftlicher Automobilbetrieb“ stehe. Es gehe ihm um die demokratische Verteilung der Profite, so Kühnert weiter.
Über den SPD-Politiker brach ein Shitstorm herein. „Kevin Kühnert hält die DDR offensichtlich für ein Erfolgsmodell und treibt den weiteren Linksruck in der SPD mit Lust voran“, höhnte Alexander Dobrindt, CSU, und sein Parteikollege Scheuer sah ein „verschrobene(s) Retro-Weltbild eines verirrten Fantasten.“ Auch aus der eigenen Partei kam scharfe Kritik. „Was für ein grober Unfug. Was hat der geraucht? Legal kann es nicht gewesen sein“, ätzte Johannes Kahrs.

Gute Gründe, um über Eigentum nachzudenken

Frank Adloff ist da gelassener: „Im Grunde wurde so ein Schreckensbild gezeichnet. Es wurde das Gespenst des Staatssozialismus beschworen, das Kühnert gemeint hätte. Unter Kollektivierung, Vergesellschaftung sei dann nichts anderes zu verstehen als: Das Privateigentum wird dann Staatseigentum. Und dass wir im Grunde zurück sollten in den Staatssozialismus“, sagt er.
„Und was man in dieser Debatte überhaupt nicht gesehen hat, ist, dass es ja eigentlich erst mal nur um die Frage geht: Wer hat denn das Eigentum? Und es gibt Alternativen zu dem Programm unserer modernen westlichen Gesellschaft, die vor allem auf Privateigentum setzt.“
Die Aufregung um Kühnerts Sozialismusthesen verstellt den Blick darauf, dass es durchaus gute Gründe gibt, über die Organisation von Eigentum nachzudenken.
Denn Vermögen sind in allen westlichen Ländern höchst ungleich verteilt. Soziale Ungleichheit nimmt seit Jahren zu – eine Entwicklung mit großer sozialer Sprengkraft. Um die Situation zu entschärfen, müsse man auch fragen, „inwieweit nicht die breitere Streuung des Eigentums – beispielsweise wenn Unternehmen in Mitarbeiterhand sind –, inwieweit sie nicht dieses Problem viel, viel stärker angehen und lösen könnte“, so Adloff weiter.
„Dann treibt, glaube ich, viele Menschen die Frage um, inwieweit nicht diese ungleiche Verteilung von Eigentum auch unsere Demokratie unterhöhlt“, sagt er.
„Und hier ist ja ganz klar zu sehen, wie im Grunde zwar per Wahlrecht wir alle die gleiche Stimme haben, immer nur eine Stimme. Aber dass sich Wirtschaftsmacht natürlich Gehör verschaffen kann in demokratischen Prozessen über Lobbyismus, über informelle Arrangements, wo man darauf hinweist, die Politik, wenn ihr dieses und jenes nicht tut, dann wird das unsere Investitionsentscheidungen beeinflussen und so weiter. Auch hier wieder geballte politische Macht in den Händen derjenigen, die viel besitzen.“

Konvivialismus - eine neue Utopie des Zusammenlebens

Adloff forscht an der Universität Hamburg im Kolleg „Zukünfte der Nachhaltigkeit“. Er hat in Deutschland das Konzept des Konvivialismus bekannt gemacht – ein Ansatz, der ursprünglich aus Frankreich stammt und eine neue Utopie des Zusammenlebens beschreiben soll.
Statt auf Wettbewerb und Effizienz setzt der Konvivialismus auf kooperative Formen des Wirtschaftens, auf ein Miteinander. Doch in unserer Gesellschaft sei das gar nicht so leicht.
„Wenn eine Gesellschaft so stark auf den Besitz-Individualismus setzt, dann ist es so, dass eigentlich eine Denkweise der Konkurrenz um sich greift. Und wenn das so stark in einer Gesellschaft verankert ist, dann fällt es schwer, kooperativ zu handeln. Dann fällt es schwer, aus diesem Konkurrenzmodus herauszukommen und Möglichkeiten zu entwickeln, wie man gemeinsam etwas gestaltet“, sagt er.
Gerade die Herausforderungen der Klimakrise werfen die Frage auf, ob privatwirtschaftliche Aktivitäten tatsächlich in der Lage sind, nachhaltig zu werden. Ob Profitstreben und Renditeorientierung in ein emissionsfreies Zeitalter münden können. Frank Adloff ist bestürzt über die, wie er sagt, schablonenhafte Debatte über Zukunftsfragen in der Öffentlichkeit. Die Wissenschaft sei da weiter, meint er.
Dort werde sehr kontrovers diskutiert, „ob dieses – ich sage mal – System wie es bisher besteht, also ein neoliberaler Kapitalismus, ob das eigentlich eine Zukunftsperspektive hat. Und viele kommen zu dem Schluss: Nein, es wird eigentlich keine Zukunftsperspektive haben. Die Probleme, die anstehen, die sind mit diesen Bordmitteln, die bisher vorhanden sind, nicht zu lösen.“

Nicht-renditeorientierte Nutzung von Ressourcen

Wie kann die Transformation gelingen? Es gibt viele soziale Experimente, die mit dieser Herausforderung ringen.
Die Commons-Bewegung, die sich für die gemeinsame und nicht-renditeorientierte Nutzung von Ressourcen einsetzt. Neue Genossenschaften, die überall im Land gegründet werden, viele von ihnen in den Bereichen Energie, Umwelt, Wasser – also dort, wo es um ein nachhaltiges Wirtschaften geht. Solidarische Landwirtschaft. Oder die Gemeinwohlökonomie, die Gerechtigkeitsfragen in der Wertschöpfungskette berücksichtigen will.
Sie alle, so Adloff, versuchen herauszufinden, „inwieweit es eigentlich eine Ökonomie geben kann, die sich etwas mehr selbst begrenzt, die sich selbst ein Limit setzt, die vielleicht so eine Art steady state anvisiert, wo man mit dem, was produziert wird, was konsumiert wird, auch zufrieden sein kann, ohne dass jedes Jahr eine Steigerung des Bruttoinlandsprodukts erfolgen muss.“
Steady state, das wäre eine Wirtschaft im Gleichgewicht, jenseits des Wachstumszwangs. Doch bislang fehlt das eine, strahlende Leuchtturmprojekt, mit dem sich zeigen ließe: Seht her, eine andere Gesellschaft ist möglich. So lange das so ist, bleibt vieles im Vagen. Deshalb ist die Enteignungsinitiative in Berlin so wichtig für die gesamte Bewegung: weil sie das Tor weg von einer nur theoretischen Kritik am Privateigentum hin zu der praktischen Realisierung einer konkreten Utopie weit aufgestoßen hat.
So sehen es zumindest die Unterstützer der Enteignungsinitiative. Von den Gegnern ernten sie dafür deutliche Worte.

"Privates Eigentum ist Grundlage für jeglichen Wohlstand"

„Privates Eigentum ist sakrosankt in einer sozialen Marktwirtschaft. Es ist die Grundlage für jeglichen Wohlstand“, sagt Marcel Fratzscher, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung.
„Aus einer ökonomischen Perspektive kann man nicht stark genug betonen, dass eine soziale Marktwirtschaft privates Eigentum nicht nur respektieren, sondern auch wertschätzen muss. Denn Menschen gehen nicht Risiken in ihrem Leben ein, sich selbstständig zu machen, innovativ zu sein, wenn sie nicht auch eine Absicherung haben, das, was sie erwirtschaftet haben, das, was sie brauchen, um agieren zu können, dass diese Eigentumsrechte auch gewährleistet werden. Es geht schon darum, dieses Recht, diese Autonomie, diese Freiheit zu respektieren, und wenn man das nicht tut, dann sägt man letztlich an dem Wohlstand, den wir in Deutschland haben.“
Man müsse sich nur einmal Biontech ansehen, meint Fratzscher. Das Mainzer Biotechnologieunternehmen entwickelte in kürzester Zeit einen Corona-Impfstoff und wurde zur neuen deutschen Erfolgsgeschichte. Hätte sich das Unternehmen ohne Rechtssicherheit, ohne den Schutz des Privateigentums ähnlich entwickelt? Wohl kaum. Die Schaffenskraft des Kapitals
Marcel Fratzscher weiter: „Gleichzeitig heißt das natürlich nicht, dass wenn ich Eigentum habe, mit dem tun und lassen kann, was ich will, sondern dass ich das auch im Allgemeinwohl verwenden muss.“
Wie es auch im Grundgesetz steht: „Eigentum verpflichtet.“

Vermögenssteuer und höhere Grundsteuer als Alternativen

„Das Problem, das ich in Deutschland sehe, ist nicht das, dass Menschen mehr Eigentum haben als andere, dass einige wirtschaftlich erfolgreicher sind als andere. Das ist nicht das Problem, sondern ganz im Gegenteil, das ist ein wichtiges Element einer Marktwirtschaft“, sagt Fratzscher.
„Das Problem, das ich sehe, ist, dass die Schere bei Eigentum in Deutschland immer stärker auseinanderläuft. Dass wir 40 Prozent der Deutschen fast haben, die praktisch kein Eigentum, kein Vermögen, letztlich damit auch keine Sicherheiten haben. Und dass sehr viel des Eigentums – ob das jetzt Finanzvermögen ist, Unternehmensvermögen oder eben auch Immobilien –, dass es in der Hand von sehr wenigen sehr stark konzentriert wird.“
Fratzscher plädiert für eine neue Ordnungspolitik: Eine Vermögenssteuer, eine höhere Grundsteuer, damit die Gemeinschaft ihren legitimen Anteil an Vermögen und Wertzuwächsen abgreifen kann. Der Enteignungsinitiative erteilt er eine eindeutige Absage.
„Wenn es darum geht, dass Eigentum verpflichtet, dass Eigentum sich am Gemeinwohl zu beteiligen hat, dann ist die Besteuerung der richtige Weg und nicht die Enteignung“, sagt er.
„Und wenn es darum geht, Menschen gezielt punktuell zu helfen, wie zum Beispiel erschwinglichen Wohnraum in großen Städten zu finden, dann ist die Ausweitung des Angebots, sozialer Wohnungsbau die richtige Antwort und nicht Enteignung. Ich halte diese Initiative für eine hochpopulistische und letztlich völlig kontraproduktive Initiative und hoffe sehr, dass die Leute das realisieren.“

Enteignungsinitiative hat Bewegung in Debatte gebracht

Wie es nun weitergeht in Berlin, ist völlig offen. Werden Immobilien tatsächlich vergesellschaftet? Wird Privateigentum in Gemeinschaftseigentum überführt? Diese Fragen werden Politik und Gerichte wohl über Jahre beschäftigten.
Was die Aktivistinnen und Aktivisten der Enteignungsinitiative schon heute erreicht haben: Sie haben Bewegung in die Debatte gebracht und viele Menschen von ihren Ideen überzeugt. Für Sabine Nuss ist allein das schon ein Gewinn.
„Und das ist ja auch, was in der Bewegungsforschung immer wieder festgestellt wird, dass Menschen sich in Auseinandersetzungen, in betrieblichen Konflikten, in sozialen Bewegungen, in Kämpfen, dass das was macht mit den Leuten, dass die Handlungsmacht plötzlich erkannt wird, die man dann doch hat, wenn man sich zusammenschließt“, sagt sie.
„Das wäre auch meine Hoffnung bei diesem Modell, dass die Leute so eine Begeisterungsfähigkeit kriegen, weil sie merken, sie haben plötzlich eine Art von Einfluss auf etwas, was vorher immer als äußere Macht ihnen entgegengetreten ist.“
Nicht nur in Deutschland blickt man aufmerksam auf die Entwicklungen in Berlin. Er bekomme in letzter Zeit viele Mails von Kolleginnen und Kollegen aus New York, London oder Barcelona, berichtet der Stadtsoziologe Andrej Holm. Sie wollten unbedingt verstehen, was da in Berlin gerade los sei.
„Da verbindet sich natürlich eine Hoffnung damit, dass nach 20, 30 Jahren neoliberaler Politik, die in allen Städten zu sozialen Verwerfungen geführt hat, jetzt plötzlich sich eine Stadt aufmacht und sagt: Wir versuchen jetzt mal, aus diesem Teufelskreis der immer wieder steigenden Mieten, des immer stärkeren Rückzugs öffentlicher Wohnungsinstrumente auszutreten und wieder öffentliche Verantwortung für die soziale Wohnversorgung umzusetzen. Das ist, glaube ich, der Subtext, der hinter der Enteignungsaufforderung steht.“

Das Feature ist eine Wiederholung vom 19. Oktober 2021.

Es sprechen: Cornelia Schönwald und Thomas Holländer
Redaktion: Martin Hartwig
Ton: Thomas Monnerjahn
Regie: Beatrix Ackers

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