"Vergessen funktioniert ja nicht nach der Rasenmäher-Methode"
Auch Jahre nach einem Vorfall könnten Zeugenaussagen noch verlässlich sein, sagt Günter Köhnken, Professor für Rechtspsychologie in Kiel. Lügen oder Einflussnahme könne man durch diagnostische Methoden gut beurteilen.
Korbinian Frenzel: Sie hören Deutschlandradio Kultur, und wir begeben uns jetzt in ein Feld, aus dem Tausende Seiten Literatur und mindestens ebenso viele Stunden Film gemacht wurden, weil hier nämlich die wahren Tragödien des Lebens geschrieben werden – vor Gericht. Dann, wenn es keine Beweise gibt, sondern nur Zeugen, Augenzeugen. Was sie sagen, kann darüber entscheiden, ob jemand schuldig ist oder eben nicht schuldig. Aber woher kann man wissen, dass die Aussagen wirklich stimmen?
Das ist das Dilemma ganz vieler Vergewaltigungsprozesse, das ist jetzt auch ganz aktuell die Problematik beim NSU-Prozess, wo es kaum Beweismaterial gibt. Und es ist die tägliche Arbeit meines Gesprächspartners Günter Köhnken, Professor für Rechtspsychologie in Kiel, guten Morgen!
Günter Köhnken: Guten Morgen!
Frenzel: Nehmen wir mal den aktuellen Fall NSU. Da liegen die ersten Morde der rechten Terrortruppe mehr als zehn Jahre zurück. Kann man nach so langer Zeit noch verlässliche Aussagen von Zeugen erwarten?
Köhnken: Ja, es kommt darauf an, worüber. Natürlich setzt dann über kurz oder lang Vergessen ein, aber Vergessen funktioniert ja nicht nach der Rasenmäher-Methode, also es wird nicht alles einfach einen Kopf kleiner gemacht, sondern es sind die eher belanglosen, beiläufigen Dinge, die relativ schnell vergessen werden, während auf der anderen Seite persönlich bedeutsame Erlebnisse oder Wahrnehmungen über lange Zeit stabil im Gedächtnis behalten werden und also auch nach zehn Jahren möglicherweise noch verlässlich berichtet werden können.
Frenzel: Gibt es denn Zahlen darüber aus Ihrer Arbeit, wie viele Zeugenaussagen falsch oder nicht ganz richtig sind bei Prozessen?
Köhnken: Nein, das – es gibt solche bundesweiten Zahlen nicht. Das kann es auch letztlich nicht geben, das würde ja bedeuten, dass man in sämtlichen Verfahren jetzt alle Zeugenaussagen irgendwie empirisch überprüfen müsste. Das geht nicht. Man kann etwas darüber sagen, wie häufig Zeugenaussagen, die begutachtet werden von Sachverständigen, richtig oder falsch sind. Also da hat man ja Erfahrungswerte beispielsweise, auf die man sich stützen kann.
Frenzel: Lassen Sie uns noch mal gucken auf die Frage, warum Aussagen falsch oder nicht ganz richtig sind. Da ist ja zum einen die Vergesslichkeit, Sie haben es gerade angesprochen. Gibt es da auch vielleicht manchmal einen gewissen Druck, dass man das Gewünschte sagt? Ich nehme mal wieder den aktuellen Fall. Wer würde denn, wenn er sich vielleicht auch nicht mehr ganz sicher ist, eine Beate Zschäpe jetzt entlasten wollen in so einem Prozess?
Köhnken: Das ist richtig. Es gibt eine ganze Reihe von Faktoren, das kennen wir aus der Forschung, die sich positiv oder negativ auf die Zuverlässigkeit einer Aussage auswirken können. Dazu gehören auch Erwartungshaltungen beispielsweise, die aus der Öffentlichkeit, aus den Medien kommen können. Aber es können auch Erwartungshaltungen sein des Befragers, die durch die Art und Weise, wie Fragen gestellt werden und welche Fragen gestellt werden an den Zeugen oder die Zeugin, kommuniziert werden. Und das wissen wir, dass das eine Auswirkung haben kann auf das, was dann tatsächlich berichtet wird.
Frenzel: Das kennen wir ja aus jedem Tatort am Sonntag. Kann man was dagegen tun?
Köhnken: Ja. Man kann also mindestens, sag ich mal, kann man etwas dagegen tun, dass durch die Art der Befragung solche Beeinflussung stattfindet. Davon unabhängig, also, was über Medien beispielsweise oder über Bekannte in der Öffentlichkeit vermittelt wird an Erwartungshaltungen, das ist nicht kontrollierbar.
Frenzel: Es gibt ja auch die Kategorie der direkten Falschaussage, der Lüge. Das ist ja offenbar ein Problem vor allem bei Vergewaltigungsvorwürfen, bei Prozessen darum. Wir erinnern uns alle an den Fall Kachelmann. Sie waren bei diesem Prozess auch beteiligt, wurden da befragt. Kann man bei solchen Fällen, wenn es keine Beweise gibt, kann man es überhaupt wagen, ein Urteil zu fällen?
Köhnken: Meinen Sie jetzt als Sachverständiger oder als Gericht?
Frenzel: Ja, beides.
Köhnken: Als Gericht muss man ja ein Urteil fällen, wobei das Urteil eben auch lauten kann Freispruch, wenn die Beweise nicht ausreichen und das Gericht nicht völlig überzeugt ist von der Schuld des Angeklagten.
Frenzel: Und für Sie als Gutachter?
Köhnken: Ja, also, das kann man schon. Wir haben eigentlich relativ verlässliche diagnostische Methoden, um beurteilen zu können, ob eine Aussage bewusst gelogen ist oder nicht. Es gibt manchmal Konstellationen, wo diese Methoden nicht mehr anwendbar sind, aber im Prinzip ist das durchaus möglich.
Frenzel: Sind Sie sich denn bei allen Fällen, die Ihnen vorgelegen haben, sicher gewesen oder gab es da auch Fälle, wo Sie gesagt haben, ich traue mir kein Urteil zu? Das kann wahr sein, das kann aber auch falsch sein?
Köhnken: Ja. Das gibt es natürlich auch. Wenn also beispielsweise die inhaltliche Qualität der Aussage nicht ausreicht, nehmen wir mal an, dann heißt das ja nicht, dass sie automatisch deshalb falsch sein muss, es heißt nur, dass ich nicht genügend Aussagematerial habe, um mit hinreichender Zuverlässigkeit sagen zu können, die Aussage kann nicht gelogen sein. Das sind dann Ergebnisse, wo man dem Gericht dann mitteilen muss, dass man als Sachverständiger hier nicht mehr zu einem klaren Ergebnis kommen kann.
Frenzel: Wie glaubhaft sind Zeugenaussagen vor Gericht - Professor Günter Köhnken war das im Gespräch. Ich danke Ihnen dafür!
Köhnken: Ja, gerne!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Das ist das Dilemma ganz vieler Vergewaltigungsprozesse, das ist jetzt auch ganz aktuell die Problematik beim NSU-Prozess, wo es kaum Beweismaterial gibt. Und es ist die tägliche Arbeit meines Gesprächspartners Günter Köhnken, Professor für Rechtspsychologie in Kiel, guten Morgen!
Günter Köhnken: Guten Morgen!
Frenzel: Nehmen wir mal den aktuellen Fall NSU. Da liegen die ersten Morde der rechten Terrortruppe mehr als zehn Jahre zurück. Kann man nach so langer Zeit noch verlässliche Aussagen von Zeugen erwarten?
Köhnken: Ja, es kommt darauf an, worüber. Natürlich setzt dann über kurz oder lang Vergessen ein, aber Vergessen funktioniert ja nicht nach der Rasenmäher-Methode, also es wird nicht alles einfach einen Kopf kleiner gemacht, sondern es sind die eher belanglosen, beiläufigen Dinge, die relativ schnell vergessen werden, während auf der anderen Seite persönlich bedeutsame Erlebnisse oder Wahrnehmungen über lange Zeit stabil im Gedächtnis behalten werden und also auch nach zehn Jahren möglicherweise noch verlässlich berichtet werden können.
Frenzel: Gibt es denn Zahlen darüber aus Ihrer Arbeit, wie viele Zeugenaussagen falsch oder nicht ganz richtig sind bei Prozessen?
Köhnken: Nein, das – es gibt solche bundesweiten Zahlen nicht. Das kann es auch letztlich nicht geben, das würde ja bedeuten, dass man in sämtlichen Verfahren jetzt alle Zeugenaussagen irgendwie empirisch überprüfen müsste. Das geht nicht. Man kann etwas darüber sagen, wie häufig Zeugenaussagen, die begutachtet werden von Sachverständigen, richtig oder falsch sind. Also da hat man ja Erfahrungswerte beispielsweise, auf die man sich stützen kann.
Frenzel: Lassen Sie uns noch mal gucken auf die Frage, warum Aussagen falsch oder nicht ganz richtig sind. Da ist ja zum einen die Vergesslichkeit, Sie haben es gerade angesprochen. Gibt es da auch vielleicht manchmal einen gewissen Druck, dass man das Gewünschte sagt? Ich nehme mal wieder den aktuellen Fall. Wer würde denn, wenn er sich vielleicht auch nicht mehr ganz sicher ist, eine Beate Zschäpe jetzt entlasten wollen in so einem Prozess?
Köhnken: Das ist richtig. Es gibt eine ganze Reihe von Faktoren, das kennen wir aus der Forschung, die sich positiv oder negativ auf die Zuverlässigkeit einer Aussage auswirken können. Dazu gehören auch Erwartungshaltungen beispielsweise, die aus der Öffentlichkeit, aus den Medien kommen können. Aber es können auch Erwartungshaltungen sein des Befragers, die durch die Art und Weise, wie Fragen gestellt werden und welche Fragen gestellt werden an den Zeugen oder die Zeugin, kommuniziert werden. Und das wissen wir, dass das eine Auswirkung haben kann auf das, was dann tatsächlich berichtet wird.
Frenzel: Das kennen wir ja aus jedem Tatort am Sonntag. Kann man was dagegen tun?
Köhnken: Ja. Man kann also mindestens, sag ich mal, kann man etwas dagegen tun, dass durch die Art der Befragung solche Beeinflussung stattfindet. Davon unabhängig, also, was über Medien beispielsweise oder über Bekannte in der Öffentlichkeit vermittelt wird an Erwartungshaltungen, das ist nicht kontrollierbar.
Frenzel: Es gibt ja auch die Kategorie der direkten Falschaussage, der Lüge. Das ist ja offenbar ein Problem vor allem bei Vergewaltigungsvorwürfen, bei Prozessen darum. Wir erinnern uns alle an den Fall Kachelmann. Sie waren bei diesem Prozess auch beteiligt, wurden da befragt. Kann man bei solchen Fällen, wenn es keine Beweise gibt, kann man es überhaupt wagen, ein Urteil zu fällen?
Köhnken: Meinen Sie jetzt als Sachverständiger oder als Gericht?
Frenzel: Ja, beides.
Köhnken: Als Gericht muss man ja ein Urteil fällen, wobei das Urteil eben auch lauten kann Freispruch, wenn die Beweise nicht ausreichen und das Gericht nicht völlig überzeugt ist von der Schuld des Angeklagten.
Frenzel: Und für Sie als Gutachter?
Köhnken: Ja, also, das kann man schon. Wir haben eigentlich relativ verlässliche diagnostische Methoden, um beurteilen zu können, ob eine Aussage bewusst gelogen ist oder nicht. Es gibt manchmal Konstellationen, wo diese Methoden nicht mehr anwendbar sind, aber im Prinzip ist das durchaus möglich.
Frenzel: Sind Sie sich denn bei allen Fällen, die Ihnen vorgelegen haben, sicher gewesen oder gab es da auch Fälle, wo Sie gesagt haben, ich traue mir kein Urteil zu? Das kann wahr sein, das kann aber auch falsch sein?
Köhnken: Ja. Das gibt es natürlich auch. Wenn also beispielsweise die inhaltliche Qualität der Aussage nicht ausreicht, nehmen wir mal an, dann heißt das ja nicht, dass sie automatisch deshalb falsch sein muss, es heißt nur, dass ich nicht genügend Aussagematerial habe, um mit hinreichender Zuverlässigkeit sagen zu können, die Aussage kann nicht gelogen sein. Das sind dann Ergebnisse, wo man dem Gericht dann mitteilen muss, dass man als Sachverständiger hier nicht mehr zu einem klaren Ergebnis kommen kann.
Frenzel: Wie glaubhaft sind Zeugenaussagen vor Gericht - Professor Günter Köhnken war das im Gespräch. Ich danke Ihnen dafür!
Köhnken: Ja, gerne!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.