Vergessenes Stück Weltliteratur

04.10.2007
In der Sowjetunion verboten, erschien der Roman "Leben und Schicksal" des russischen Schriftstellers Wassili Grossman zum ersten Mal 1980 in der Schweiz, 1984 in Deutschland. Jetzt ist er in einer überarbeiteten und erstmals vollständigen Fassung noch einmal veröffentlicht worden.
Entstanden war er in der Zeit von 1950 bis 1960. Aber nachdem Wassili Grossman den Roman im Jahr 1960 der sowjetischen Zensur vorlegt hatte, durchsuchte der Geheimdienst KGB Grossmans Wohnung und konfiszierte alle Manuskript-Kopien. Ein einziges Exemplar überlebte bei einem Freund Grossmans, der den Roman Seite für Seite fotografierte und so in den Westen schmuggelte. Die Kritik nannte den Roman eine "Fortsetzung von Tolstois 'Krieg und Frieden' im 20. Jahrhundert".

Wassili Grossman wuchs in einer sozialdemokratischen Familie jüdischer Herkunft auf. Er wurde Ingenieur und schrieb nebenher Erzählungen. Kein geringerer als Gorki entdeckte Grossmans literarisches Talent und förderte ihn. 1937 wurden enge Verwandte und Freunde während einer stalinistischen Terror-Kampagne verhaftet - eins der großen Themen in "Leben und Schicksal", eine Vorwegnahme von Solschenizyns "Archipel Gulag".

Während des Krieges war Grossman Reporter der Armeezeitung, vier Monate lang erlebte er die Schlacht um Stalingrad mit eigenen Augen. Nach dem Krieg erschien sein erster Stalingrad-Roman "Wende an der Wolga", von der Zensur verstümmelt. Als der Geheimdienst KGB das fertig gestellte Manuskript von "Leben und Schicksal" 1961 beschlagnahmte, brach Grossman zusammen und starb drei Jahre später an Krebs.

Die Schlacht um Stalingrad 1942/43 ist einer der drei Hauptstränge des Romans. Der Zweite gibt einen Einblick in das Zivilleben von Menschen während des Krieges und der Unterdrückung durch den stalinistischen Terror, und drittens schildert der Roman den Holocaust.

Die Schlacht um Stalingrad war die schrecklichste und wohl auch wichtigste Schlacht der Weltgeschichte. Die großen Schlachtszenen, die Tolkien für den "Herr der Ringe" geschrieben hat, entstanden 1942/43 während der Schlacht von Stalingrad, wobei Tolkien Motive der Schlacht übernahm; man stelle sich also die Fantasy-Schlachten des "Herr der Ringe" vor, übertragen in die Realität.

Heinrich Böll beschrieb den 1000-Seiten-Roman mit den Worten: "Leichte Lektüre ist das nicht." In einer 25 Seiten langen Szene beschreibt Grossman zum Beispiel wie eine Frau in einem KZ stirbt, wahrgenommen aus deren Perspektive.

Grossmans Sprache ist stark expressionistisch, sie erinnert an Isaak Babel: "Die trockenen, gefrorenen Sterne klebten wie zinngrauer Raureif am Himmel, den die Kälte umklammert hielt." Grossmans Roman verbindet Tolstoi, Isaak Babel und Tschechow.

"Leben und Schicksal" ist ein verstörender Roman, ein Kritiker hat ihn in der Atmosphäre mit George Orwells "1984" verglichen. "Leben und Schicksal" ist große Weltliteratur mit folgender Botschaft: "Ich glaube, man könnte das Leben als Freiheit definieren. Das Leben ist Freiheit."


Rezensiert von Lutz Bunk

Wassili Grossman: Leben und Schicksal
Übersetzt von Madeleine von Ballestrem, Arkadi Dorfmann, Elisabeth Markstein und Annelore Nitschke.
Claassen Verlag 2007
1081 Seiten, 24.90 Euro.