Miriam Gebhardt: "Als die Soldaten kamen - Die Vergewaltigung deutscher Frauen am Ende des Zweiten Weltkriegs"
Deutsche Verlagsanstalt, München 2015
352 Seiten, 21,99 Euro, auch als eBook
Befreier und Gewalttäter
Auf etwa 860.000 Vergewaltigungen kommt die Autorin Miriam Gebhardt in ihrem Buch "Als die Soldaten kamen". So hoch beziffert sie die Zahl der Übergriffe und Misshandlungen an deutschen Frauen am Ende des Zweiten Weltkriegs durch Besatzungssoldaten. Die Täter stammten nicht nur aus der Roten Armee.
Selbst die Londoner Times ließ es sich nicht entgehen, die Forschungsarbeiten von Miriam Gebhardt groß zu präsentieren: Nicht nur die russischen Besatzer, wie allgemein kolportiert, sondern auch eine erhebliche Zahl alliierter Soldaten haben 1945 massenhaft Vergewaltigungen begangen. Und das nicht nur in Deutschland, bei den Besiegten, sondern auch schon auf dem Weg durch Frankreich, bei den Befreiten: "Sexuelle Phantasien über Frankreich motivierten die Soldaten, von Bord zu gehen und zu kämpfen."
Auf insgesamt mindestens 860.000 Vergewaltigungen durch die Truppen der Sieger kommt die Historikerin, und sagt zugleich: "Meine Schätzung ist vergleichsweise niedrig." Die durch ihre Exaktheit verblüffende Zahl erhält sie durch eine komplexe Rechenoperation.
Dazu geht sie von den bekannten Zahlen der sogenannten Besatzungskinder aus und kombiniert "zwei Berechnungsansätze. Der eine geht davon aus, dass etwa fünf Prozent der Kinder von Besatzungssoldaten und -angehörigen in einer Gewalttat gezeugt wurden. Die andere basiert auf der Schätzung, dass jede zehnte Vergewaltigung zur Schwangerschaft führte und davon wiederum jede zehnte Schwangerschaft ausgetragen wurde."
Die nackte Opferzahl interessiert Gebhardt nicht
Doch nicht nur die nackte Opferzahl interessiert Miriam Gebhardt. Wie ging die Gesellschaft bis weit in die 50er-Jahre hinein mit diesen als "Besatzungsschaden" titulierten Kindern und ihren Müttern um? Obwohl selbst vollkommen unschuldig an ihrer Lage, wurden ihnen bisweilen "sexuelle Verwahrlosung" unterstellt, für die Unterbringung der Kinder in Heimen mussten sie selbst aufkommen. Die Alliierten verweigerten jegliche Alimentezahlungen und blockierten die Suche nach den Vätern in ihren Ländern.
Warum das Thema der Nachkriegsvergewaltigungen durch die Frauenbewegung in den 70er-Jahren weitgehend ignoriert wurde, ist für die Historikerin ebenfalls interessant:
"Man nahm in der Bundesrepublik die kriegsbedingte Vergewaltigung in erster Linie als ein Problem der Roten Armee wahr und ordnete das Thema in den Ost-West-Konflikt ein. Die Neue Frauenbewegung war aber aus der Neuen Linken entstanden und konnte oder wollte sich deshalb an diesem Thema gerade nicht die Finger verbrennen."
Revisionsbedürftig sind für die Historikerin die immer noch bestehenden Gut-Böse-Schemata, mit einem Zerrbild der russischen und einem geschönten Bild der westlichen Besatzung. Man müsse es schaffen, alle Facetten der kriegsbedingten Vergewaltigungen zu ertragen, ohne die heute noch lebenden Opfer in irgendeiner Art als mitschuldig zu deklarieren. Dazu ist eine "Ambiguitätstoleranz" notwendig, dass die Retter und Befreier zugleich auch Gewalttäter und Vergewaltiger sein können.