Vergiftung statt Heilung

Pressemeldung des Bundesinstitutes für Risikobewertung: "Bittere Aprikosenkerne können zu Vergiftungen führen." Die Kerne werden in Naturkostläden, Reformhäusern und übers Internet als Lebensmittel oder als Nahrungsergänzung angeboten, manchmal mit dem Hinweis, sie würden vor Krebs schützen.
Als vermeintliches "Krebsmittel" gilt das in den Kernen enthaltene Amygdalin. Amygdalin setzt im Verdauungstrakt Blausäure frei. Als Kaliumsalz heißt der Stoff übrigens Zyankali. Weder Amygdalin noch Blausäure noch Zyankali beugen Krebs vor, noch können sie ihn heilen. Der einzige Effekt ist in allen drei Fällen eine Vergiftung, die zum Tode führen kann.
Hintergrund: Blausäure ist in der Natur weit verbreitet, auch in unserer Nahrung. Deshalb lässt sich im menschlichen Blut immer auch ein wenig Blausäure nachweisen. Unzählige Lebewesen, angefangen von Bakterien über Pflanzen bis hin zu Insekten schützen sich, indem sie Blausäureverbindungen produzieren. Im Falle von Amygdalin ist die Blausäure an Traubenzucker und Benzaldehyd gebunden. Werden die Zellen beschädigt, wird das Gift durch die gleichzeitig freigesetzten Enzyme vom Zucker abgespalten. So muss der Fraßfeind seine Naschhaftigkeit nicht selten mit dem Leben bezahlen. Allerdings haben einige Tiere dagegen Entgiftungsmaßnahmen entwickelt, wie zum Beispiel der Kirschkernbeißer. Er hat sich auf die blausäurereichen Kerne unserer Obstgewächse spezialisiert.
Blausäure in Lebensmitteln: An die 1500 Lebensmittel enthalten ein wenig Blausäure. Hohe Gehalte weisen vor allem bittere Mandeln auf. Da Kinder bereits durch fünf bis zehn bittere Mandeln eine tödliche Vergiftung erleiden können, werden sie nur unter besonderen Vorsichtsmaßregeln gehandelt. Süße Mandeln dürfen maximal fünf Prozent bittere enthalten. Damit wir die süßen Mandeln roh essen können, musste der bitteren (das heißt wilden) Mandel erst der hohe Blausäuregehalt weggezüchtet werden. Unsere heutigen süßen Mandeln sind weitgehend frei davon.

Dennoch werden aus geschmacklichen Gründen für bestimmte Lebensmittel wie Marzipan bis heute bittere Mandeln verwendet. Der Grund liegt im vorher erwähnten Benzaldehyd. Dieser ist für den typischen Geruch nach "Bittermandel" verantwortlich, er riecht exakt so wie Mandellikör. Heute wird der Aromastoff Benzaldehyd meistenteils synthetisch gewonnen, ohne dass dabei Blausäure entstünde.

Die Aprikosenkerne, die bei der Herstellung von Dörrobst oder Aprikosennektar anfallen, werden (aufgrund ihres Gehaltes an Benzaldehyd-lieferndem Amygdalin) wie bittere Mandeln zu Marzipanersatz verarbeitet. Das Imitat heißt dann Persipan. Durch die Verarbeitung geht die Blausäure weitgehend verloren, der Benzaldehyd liefert Aroma.

Andere Lebensmittel können noch beim Verzehr erkleckliche Mengen an Blausäure aufweisen: Dazu gehören Leinsamen oder auch Sauerkirschenkonserven mit Stein, die über längere Zeiträume gelagert wurden. Auch Kirschwasser weist manchmal erkleckliche Mengen an Blausäure auf. Vor 100 Jahren waren Vergiftungen durch Limabohnen gar nicht so selten, so dass damals der Gesetzgeber den Import beschränken musste. Der Hang zu "natürlicher" Kost, möglichst im Wald gesammelt, birgt ebenfalls ein gewisses Vergiftungspotential. So können die Früchte des roten Traubenholunders soviel Blausäure enthalten, dass daran Weiderinder krepieren.
Vergiftungen: Heute kommt es vor allem in Ländern, in denen Cassava oder Bambus verzehrt wird zu Blausäurevergiftungen. Der hohe Gehalt an Blausäure ist in diesen Fällen jedoch erwünscht, da sie die Pflanzen vor Schädlingen schützt. Durch geeignete Verarbeitung wird der Giftgehalt vor dem Verzehr gesenkt. Aber das klappt nicht immer, da die Gehalte – egal um welches Lebensmittel es im Einzelnen geht - locker um eine Zehnerpotenz schwanken. Die stete Zufuhr von Blausäureverbindungen – womöglich in Kombination mit Schimmelgiften – führt bei regelmäßigem Verzehr blausäurehaltiger Grundnahrungsmittel zu chronischen Vergiftungen des Nervensystems (zum Beispiel Konzo), die meistens mit Lähmungen verbunden sind.
Anwendungen: Die traditionelle Medizin verwendet so ziemlich alles, was giftig und bitter ist. So wurde auch Blausäure – als Lorbeerkirschenextrakt – zur Behandlung von Lungenkrankheiten, namentlich von Asthma und Tuberkulose benutzt. Im Ersten Weltkrieg diente es als Nervengas, später wurden damit Mühlen und Getreidelager begast, um die Schädlinge abzutöten. Ähnliches wiederfuhr zahlreichen Lebensmittelimporten, die noch in den Containern im Hafen mit Blausäure hygienisiert wurden. Heute wird es vor allem zum Fangen von Fischen in Korallenriffen genutzt. Praktisch alle tropischen Fische in den Salzwasseraquarien unserer Zoos wurden mit Cyanid betäubt, bevor sie ihren Weg in die neue Heimat antreten mussten. Man spricht von jährlich etwa 35 Millionen Tieren.
Fazit: Vorsicht bei Gesundheitsversprechen. Es gibt keine Ernährung, die dem Krebs vorbeugt. Egal ob mit oder ohne Aprikosenkerne.
Link:
Bundesinstitut für Risikobewertung

Literatur:
Cheeke PR: Toxicants of Plant Origin. Vol II: Glycosides. CRC-Press, Boca Raton 1989
Meiser H: Cyanidvergiftung durch Traubenholunder bei Weiderindern. Tierärztliche Umschau 2001; 56: 486-7
Spencer PS: Experimental and Clincal Neurotoxicology. Oxford University Press; New York 2000
Hillocks RJ: Cassava: Biology, Production and Utilisation. Cabi Press, Wallingford 2001
Simpson S: Gifttod im Meer. Spektrum der Wissenschaft 2001; H.12: 32-37