Die unheimliche Macht des Versandriesen
Immer häufiger erregt sich die Öffentlichkeit über den Siegeszug von Amazon. Und das zu Recht, meint der Publizist Michael Schikowski.
Man hat den Siegeszug der Digitalkultur schon von vielen Seiten aus beschrieben. Wenn es aber um kritische Stellungnahmen geht, fällt schnell auf, dass die Begriffe kaum einmal über den Tellerrand der digitalen Suppe hinausreichen, die wir uns da eingebrockt haben. Für Schulen, Universitäten, Bibliotheken und Buchhandlungen, Verlage und Presse scheint es dann immer nur ein Rezept zu geben: Anpassung oder Untergang. Aus dieser Perspektive ist die Entwicklung wie ein Klimawandel, auf den hin man sich entweder eine Mütze überzieht oder halt ohne Socken raus geht.
Wie kommt es, dass die Vorgänge nur am Rande einmal politisch oder wirtschaftspolitisch beschrieben und gewichtet werden? Vielleicht liegt es an der dreißig Jahre währenden wirtschaftsliberalen Dauerbeschallung durch genau die Medien, denen es nun an den Kragen geht?
Sie hat die Wirtschaftslandschaft der Republik wie ein inzwischen still gelegter Atommeiler auf Jahre hin verseucht. Sie hat die staatlichen Institutionen zuerst geschwächt, dann verhöhnt und dann ruiniert. Sie hat die Amoral zur neuen Klugheit erhoben.
Die Erosion der mittelständischen Zivilgesellschaft
Worauf setzt aber das Kapital, wenn es auf Google, Facebook, Apple und Amazon setzt? Auf welchen Zusammenbruch wird hier gewettet? Vielleicht hilft ein Vergleich: Nigeria hat Öl. Das Öl in Nigeria liegt in der Erde. Deutschland hat Wissen. Das Wissen in Deutschland liegt in Bibliotheken, in Institutionen, in den Köpfen und im Können einer wenig glamourösen und grundsoliden Mittelschicht.
Die Spekulation des Kapitals hinsichtlich Nigerias ist klar. Statt den Staat Nigeria oder private Institutionen als Zwischenhändler an der Ausbeutung des Rohstoffs zu beteiligen, ist es lohnender, Nigerias Ölquellen direkt anzuzapfen. Also wird der Staat destabilisiert. Eine mittelständische Zivilgesellschaft, die Können und Wissen und ein kleines Vermögen auf sich vereint, wird gar nicht erst zugelassen.
Das ist in Deutschland nicht so einfach. Die Anzeichen einer erodierenden mittelständischen Zivilgesellschaft sind aber überdeutlich. Durch Deutschland verläuft keine Pipeline, die durch eine menschenleere Landschaft führt, sondern ein sich von selbst plausibilisierender Medienwechsel. Am Ende der nigerianischen Pipeline sitzt der Konzern, wie er hierzulande an der Schnittstelle des Medienwechsels sitzt. Die Einzigen, die ihn dabei noch behindern, sind die mittelständischen Vermittlungsinstanzen, Bibliothekare, Lehrer, Journalisten, Buchhändler, umständliche kleinbürgerliche Sachwalter, aber Sachwalter der entscheidenden Ressource dieser Republik.
"Werde doof, ich hab's auch geschafft"
Im Direktgeschäft von Amazon schnürt sich diese Gesellschaft das Blut selbst ab. Eine in Können und Wissen selbstbewusste Mittelschicht gerät unter einen Veränderungsdruck – und gibt ein gefundenes Fressen für sogenannte Berater ab. Wozu raten diese Berater den Journalisten, Buchhändlern und Lehrkräften? Dazu, die einzige Ressource, die sie besitzen, ihr akkumuliertes Wissen und Können durch einen Branchenwechsel wie eine verödete Tankstelle aufzugeben.
Die Aufforderung der Berater lautet: "Werde doof, ich hab's auch geschafft." Damit vollzieht sich die feindliche Übernahme des Wissens durch internationales Kapital an jedem Einzelnen. Allenfalls bleibt ihnen noch, ihre Fähigkeiten in Franchiseunternehmen wie Nachhilfe, Studienkreis und privaten Hochschulen einzuspeisen. Dort treffen sie allerdings keine Schüler mehr, sondern nur noch zahlende Kunden, die sich in Fächern wie Business, Medien, Psychologie zertifizieren lassen. Zu Deutsch: Gequatsche, Gepixel, Gefühle.
Ist das eine Verschwörung? Ja und nein. Eher scheint alles auf ein Ergebnis zuzusteuern, bei dem alle einzelnen Elemente wie von einer breiten, verhängnisvollen Strömung erfasst werden. Statt von einer Verschwörungstheorie müsste man hier vielleicht eher von einer Verhängnistheorie sprechen.
Michael Schikowski ist Lehrbeauftragter der Universität Bonn und in einem Frankfurter Verlag tätig. Auf seiner Seite www.immerschoensachlich.de rezensiert er Sachbücher. Seit einigen Jahren stellt er Erzähler des 19. Jahrhunderts vor und liest aus ihren Werken (www.saemtlichewerke.de). Er publizierte im Bramann Verlag "Warum Bücher?". Im September erscheint von ihm im selben Verlag: "Über Lesen."