Türkische Popsängerin Gülşen verhaftet
Auch ein farbiges Stück Stoff kann politisch sein: Sängerin Gülşen zeigt Mitte August 2022 auf einem Konzert in Istanbul die Regenbogenflagge. © Getty Images / dia images / Hakan Akgun
Bei Religion hört der Spaß auf
07:44 Minuten
Die türkische Popsängerin Gülşen ist verhaftet worden, nachdem sie Scherze über Imam-Hatip-Schulen gemacht hatte. Auch Präsident Erdogan hat eine solche Schule besucht. Der Sängerin wird Anstachelung zum Hass vorgeworfen. Kritiker sprechen von Missbrauch der Religion.
Sie gilt als „türkische Madonna“, doch das nützte der Popsängerin Gülşen nichts: Sie ist wegen eines Scherzes über religiöse Bildungseinrichtungen verhaftet und nach einigen Tagen Untersuchungshaft freigelassen worden. Sie steht derzeit unter Hausarrest. Der 46-Jährigen wird "Anstachelung zu Hass" vorgeworfen. Oppositionsparteien und andere Künstler forderten Gülşens Freilassung.
Empörung mit Verzögerung
Was war passiert? Die populäre Sängerin hatte bei einem Konzert Ende April scherzhaft zu einem Kollegen gesagt, dessen „Perversität“ sei auf seine Zeit an einer Imam-Hatip-Schule zurückzuführen.
Die Imam-Hatip-Schulen waren ursprünglich zur Ausbildung von Imamen gedacht, inzwischen sind sie eine Art Fachgymnasium, und vor allen Dingen konservative türkische Eltern schicken ihre Kinder dorthin, denn religiöse Werte und Bildung stehen dort im Mittelpunkt. Auch der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan war auf einer solchen Schule.
Monate später sorgt jetzt ein Videomitschnitt dieses Konzerts vom April für Aufruhr. Vor allen Dingen Erdogans Fans und AKP-Anhänger laufen gegen die Sängerin in sozialen Medien Sturm. Das sei keine Kunst mehr, was die Sängerin abliefere, sondern Aufstachelung zum Hass.
Eine Regenbogenfahne als Politikum
Bei den Konservativen und Ultrareligiösen war Gülşen schon vorher angeeckt durch ihre äußerst knappen Outfits und sexy Videos. Gülşen habe die Dosis, was die Outfits angehe, "mit den Jahren schrittweise erhöht", sagt Türkei-Korrespondentin Karin Senz.
An sich sei Gülşen nicht als politische Sängerin bekannt, so Senz weiter. Doch seit sie bei ihren Konzerten auch die Regenbogenfahne schwenkt, sind ihre Auftritte durchaus politisch, denn gerade die LGBTQ+-Community in der Türkei steht seit einigen Jahren unter Beschuss durch die konservativen Anhänger der AKP, die das queere Treiben als „unislamisch“ einstufen.
Viel Zuspruch für die Sängerin
Gleichwohl erfährt die Sängerin derzeit von vielen Seiten Solidarität. Fans des Fußballklubs Fenerbahce Istanbul hätten am Wochenende Teile ihres bekannten Songs "Lolipop" mitgesungen.
Eine Zeile aus dem Lied lautet: "Du kannst mir die Hände fesseln, aber Du wirst mich nicht einsperren können."
Zwar sei der Satz im Song auf eine Beziehung bezogen, meint Karin Senz. Durch die jüngsten Ereignisse bekomme er aber eine neue, höchst aktuelle Bedeutung.
Eine Serie von Konzertverboten
Die Verhaftung Gülşens reiht sich ein in eine Serie von Konzertverboten in den vergangenen Monaten. Mehrere Konzerte und Festivals sind abgesagt worden, weil dort angeblich Drogen konsumiert würden und es dort "unzüchtig" und zu freizügig zugehe. Womöglich wolle Erdogan für den bevorstehenden Wahlkampf das konservative Publikum bedienen, glaubt Senz.
Auch die aus Istanbul berichtende Journalistin Susanne Güsten geht davon aus, dass die Maßnahmen gegen Gülşen und der schärfere Kurs der türkischen Regierung in erster Linie innenpolitisch motiviert sind.
Bisher habe die Regierungspartei bei Wahlen mit ihrer Wirtschaftspolitik punkten können, doch nun liefen ihr wegen der desolaten ökonomischen Entwicklung die Wählerinnen und Wähler davon, beobachtet Güsten.
Präsident Erdogan und seine Partei setzten deshalb auf ein anderes Thema und polarisierten mit einer Wertedebatte, in der sie "Moral gegen Unmoral" ins Feld führten. Auch Auftritte weiterer Sängerinnen seien gestoppt worden, weil sie sich angeblich "unsittlich" kleideten, sagt Güsten.
Konzerte kurdischer Künstlerinnen wurden im Namen der öffentlichen Ordnung abgesagt, ein spanischer Violinist habe nicht auftreten dürfen, weil er in den sozialen Medien den Völkermord an den Armeniern verurteilt hatte. In diesem "Sommer der Unkultur" sei die Verhaftung von Gülşen lediglich "ein trauriger Höhepunkt", so Güsten.
(ros)