Andrea Roedig ist Philosophin und Publizistin. Sie ist Mitherausgeberin der österreichischen Kultur- und Literaturzeitschrift "Wespennest". 2015 erschien ihr gemeinsam mit Sandra Lehmann verfasster Interviewband "Bestandsaufnahme Kopfarbeit" und kürzlich ihr Essayband "Schluss mit dem Sex", beide im Klever-Verlag.
Social Distancing ist gut für die Philosophie
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"Meiden Sie sozialen Kontakt" - was den meisten so schwer fällt, kommt dem Denken entgegen. Denn Philosophie braucht Einsamkeit. Auch viele ihrer Vertreter und Vertreterinnen sind ziemlich schrullig und suchen den Rückzug in sich selbst.
Gemeinhin sind Philosophen eine menschenscheue Spezies. Zwar wandelten im alten Griechenland die Peripatetiker miteinander im Kreis und diskutierten, Sokrates sprach auf dem Marktplatz, und in späteren Zeiten lud Kant zur Mittagsstunde Gäste an seinen Tisch. In der Hauptsache aber ist die Arbeit des Denkens – vor allem seitdem sie schriftlich vor sich geht – eine einsame, nahezu klösterliche Angelegenheit. Nachdenken fordert Konzentration, Abgeschiedenheit, einen Rückzug auf sich selbst und in die Bücher.
Schon schlechtgelaunt bei Heraklit
Dass Philosophie mit "social distancing" einhergeht, liegt also einerseits in der Natur der Sache, andererseits aber oft auch an der Mentalität jener Menschen, die sich zu ihr hingezogen fühlen. Schaut man in die lange Textgeschichte, so scheint es, dass sich unter den Vertretern dieser Wissenschaft besonders viele finden, denen sprichwörtlich eine Laus über die Leber gelaufen zu sein scheint: Schopenhauers Pessimismus bezüglich des Menschengeschlechts ist sprichwörtlich.
"Die Vielen liegen da und fressen wie das Vieh" steht aber auch schon schlechtgelaunt bei Heraklit. Blaise Pascal fürchtet die Zerstreuung und nennt das Herz des Menschen "hohl und voller Gestank". Kierkegaard findet seine Zeitgenossen sogar zu dumm für echte Langeweile und Heidegger in seiner Berghütte fürchtet das Verfallen ins dumpfe "Man" der Masse.
Wer anders als ein Philosoph – in diesem Fall Descartes – kommt wohl auf die Idee, dass die Personen draußen vor den Fenstern seiner Studierstube vielleicht bloße Automaten seien? Nur das "ich denke" kann ihm sicher sein, bei den anderen – nun ja – da gilt der Zweifel.
Diese untergründige Misanthropie ist nicht gerade ein sympathischer Zug. Der Affekt der Verachtung der Masse und des Alltäglichen kommt aus den aristokratischen Anfängen der Philosophie, ist gnadenlos elitär und liegt zugleich erstaunlich nah am Stammtischgerede, das sich ja gern generell über die Dummheit aller anderen aufregt.
Aber auch inhaltlich tut sich Philosophie oft schwer mit dem Sozialen. Die Kategorie des Anderen, des Mitmenschen, tritt – außer in Abhandlungen über die Freundschaft und Anerkennung – bis tief ins 20. Jahrhundert hinein kaum als philosophisches Thema auf. Und dann, zum Beispiel beim frühen Sartre, nur als fatale Begegnung: Der Blick des Anderen, so schreibt Sartre, macht mich zum Objekt.
Das Denken braucht die Einsamkeit
Die philosophische Asozialität ist nicht nur eine Schrulle, ein Ergebnis historischer Überlieferung oder der persönlichen Erfahrung gekränkter Eitelkeit, sie ist ein komplexes Phänomen. Auf tiefe und oft schmerzliche Weise scheint die Tätigkeit des Denkens mit Einsamkeit verknüpft, die auszuhalten etlichen Philosophien ja auch als Tugend gilt. Philosophie wurzelt in einem Bruch mit der alltäglichen Welt und einem Zurückgeworfensein auf sich. sie braucht zwar das Gespräch, funktioniert aber meist nicht als Teamwork.
Eine ideale Beschäftigung für Coronazeiten also? Von wegen. Der erste Impuls der Philosophie mag das Staunen sein, der zweite aber ist: Ich mache es anders als die anderen. Philosophie ist Begriffsarbeit, systematischer Zweifel, tabuloses Nachdenken und produktiver Eigensinn. Oder nennen wir es geistige Unabhängigkeit, "mental distancing". Studierstube hin oder her: Wenn alle zu Hause bleiben, dann geht die Philosophie – unter Einhaltung aller Distanzmaßnahmen natürlich – hinaus ins Freie.