Verhandlung über TTIP

Freihandel? Ja, aber!

Ein Zuhörer einer Europawahlkampfveranstaltung der SPD protestiert in Nürnberg (Bayern) mit einem Plakat mit der Aufschrift "Stoppen Sie TTIP" gegen das geplante EU-US-Freihandelsabkommen TTIP.
Mehr Jobs, mehr Wohlstand? Viele Menschen glauben nicht an positive Auswirkungen von Freihandelsabkommen © Picture Alliance / dpa / Daniel Karmann
Peer Vries im Gespräch mit Dieter Kassel |
Die USA und Europa ringen um das Freihandelsabkommen TTIP. Das Ziel: mehr Handel, mehr Wachstum. Historisch betrachtet seien solche Abkommen aber kein Garant für wachsenden Wohlstand, sagt der Historiker Peer Vries.
Was tatsächlich bei Freihandelsabkommen herauskommt, hängt nach Einschätzung des Wirtschaftshistorikers Peer Vries von der Universität Wien stark von der spezifischen Ausgangslage der beteiligten Länder ab. Doch selbst wenn Handel und Produktivität wüchsen, bedeute das noch lange nicht, dass es auch mehr Arbeitsplätze gebe, sagte er im Deutschlandradio Kultur.
Nach Freihandelsabkommen sei es historisch gesehen in den teilnehmenden Staaten oft zu Spezialisierungen gekommen, betonte er. Eine Konzentration auf die eigenen Stärken könne den handelnden Staaten nützen – es könne aber auch sein, dass sich ein Land auf etwas spezialisiere, das später in eine Sackgasse führe.
Wenn beide Länder gleich produktiv seien, sei aber nicht zu erwarten, dass das eine von einem solchen Abkommen profitiere und das andere nicht. Freihandel sei im Übrigen viele Jahrhunderte für die Regierungen eine "merkwürdige Idee" gewesen, sagte Vries: "Man hat immer den Eindruck gehabt, man muss den Handel kontrollieren oder sogar manipulieren." Erst im 18. Jahrhundert habe sich der Freihandel als Idee weiter verbreitet.

Das Interview im Wortlaut:
Dieter Kassel: Heute beginnt in Brüssel eine neue Verhandlungsrunde zum geplanten transatlantischen Handelsabkommen TTIP. Das ist nicht das einzige Abkommen, Freihandelsabkommen, das zurzeit in der Diskussion ist oder gerade war. Da gibt es noch CETA, das Abkommen mit Kanada, ein sehr geheimes Dienstleistungsabkommen mit den USA und ein Abkommen, dass die USA so schnell wie möglich mit den Anrainerstaaten des pazifischen Wirtschaftsraums schließen wollen.
Man hat also das Gefühl, Freihandelsabkommen seien im Moment sehr in Mode, und man hört immer wieder, sie böten eben auch einen großen Vorteil, nämlich Wirtschaftswachstum und Arbeitsplätze. Wir wollen mal mit dem Blick auf die Geschichte solcher Abkommen versuchen zu überprüfen, ob diese Versprechungen in der Regel eingehalten werden, wir wollen reden mit Peer Fries. Er ist Professor für Wirtschaftsgeschichte an der Universität Wien. Schönen guten Morgen, Professor Fries!
Peer Vries: Guten Morgen!
Kassel: Ich habe schon gesagt, man hat den Eindruck, im Moment seien Freihandelsabkommen sehr in Mode. Haben sie denn eigentlich historisch immer schon eine gewichtige Rolle gespielt in der wirtschaftlichen Entwicklung?
Vries: Nein. Eigentlich kann man im Großen und Ganzen sagen, dass die Idee, dass es so etwas wie Freihandel geben sollte, für die meisten Regierungen eine ziemlich merkwürdige Idee war. Man hat immer den Eindruck gehabt, man muss den Handel kontrollieren oder sogar manipulieren. Die Idee das Freihandel gut war, ist geschichtlich gesehen eine ziemlich späte und eine ziemlich abnormale Idee, die vielleicht erst im 18. Jahrhundert wirklich etwas weiter verbreitet wird.
Kassel: Aber was ist denn da historisch passiert, das dann einige Staaten vereinzelt zum Umdenken gebracht hat, was Freihandel angeht?
Hegemonialmächte drückten anderen Staaten den Freihandel auf
Vries: Ich glaube, es gibt da zwei Hauptgründe. Es ist natürlich immer komplizierter, aber ein Grund ist, dass sich im 18., 19. Jahrhundert tatsächlich Wirtschaftstheoretiker gedacht haben, dass es wirklich gute Gründe gibt, um Freihandel zu haben. Das heißt, es hat sich da eine wirtschaftliche Theorie entwickelt von komparativen Kostenvorteilen, die klassische Wirtschaftsthese.
Und daneben ist, denke ich, auch ganz wichtig, dass so im 19. und 20. Jahrhundert ganz oft Hegemonialmächte den Eindruck hatten, dass sie Freihandel aufzwingen könnten. So im 19. Jahrhundert sieht man ganz stark zum Beispiel, dass England so stark ist und sich auch so stark fühlt, dass es eigentlich die Weltmärkte öffnet.
Kassel: Aber wenn Sie von Hegemonialmächten sprechen, wenn Sie also damit meinen, dass starke Wirtschaftsnationen schwächeren quasi diese Abkommen aufgezwungen haben – hieß das dann auch, es gab in der Regel einen Gewinner und auch mehrere Verlierer?
Freihandel führt in der Regel zu Spezialisierung
Vries: Nein, das ist sicher nicht so. Ich fürchte, dass ich da die absolut klassische Historikerfloskel benutzen muss, dass es von den Umständen abhängt. Wenn es Freihandelsabkommen gibt, das führt normalerweise dazu, dass es danach Spezialisierung geben wird, dass die Länder sich auf das spezialisieren, wo sie relativ gut sind. Das kann dazu führen, dass beide Teilnehmer, wenn wir von zweien ausgehen, profitieren. Es kann auch dazu führen, dass ein Land sich spezialisiert in etwas, was sich später als eine Sackgasse herausstellt, zum Beispiel ganz stark nur auf Rohstoffe oder Primärprodukte, wenig Mehrwert, sehr volatile Güter, wo die Preise die ganze Zeit sich ändern.
Das heißt, was tatsächlich herauskommt, hängt ganz stark von der spezifischen Lage ab. Und wenn die Länder, die Freihandel miteinander vereinbaren, mehr oder weniger gleich produktiv sind – und ich denke, das wäre der Fall bei Europa und den Vereinigten Staaten – dann ist es nicht zu erwarten, dass ein Land oder ein Teil systematisch verliert und ein anderes Land oder Teil systematisch gewinnen würde. Das heißt, es hängt ganz stark davon ab, was die Machtverhältnisse sind und wie die Spezialisierung weiter geht.
Kassel: Gibt es denn ein historisches Beispiel für ein Freihandelsabkommen, von dem wirklich alle Seiten profitiert haben, wo man im Nachhinein sagen kann, so mal platt formuliert, das war ein voller Erfolg?
Vries: In den 1870er-Jahren gibt es ein Freihandelsabkommen zwischen Frankreich und England, wovon viele Leute doch denken, das machte Sinn. Und überhaupt gibt es viele Leute, die denken, dass der Freihandel im 19. Jahrhundert, der aber auch nur eine kurze Weile gedauert hat – sagen wir, so zwischen den 1840er- und den 1870er-Jahren – das der wirklich für ganz viele Länder erfolgreich war. Aber auch hier gibt es natürlich wieder Ausnahmen. Ich bin mir nicht sicher, dass die Chinesen oder die Einwohner des Osmanischen Reichs auch so darüber denken.
Kassel: Gibt es denn auch Beispiele für ein Freihandelsabkommen in der Geschichte, wo man wirklich sagen muss, das ist völlig gescheitert, das hat eigentlich allen Beteiligten nur geschadet?
Vries: Nein. Davon kenne ich wenigstens kein Beispiel. Aber man muss natürlich extrem vorsichtig sein, wenn man sagt, dass es etwas nicht gibt. Aber davon kenne ich keine Beispiele, dass ich sage, das ist in der wirtschaftshistorischen Literatur ganz klar, davon sagen alle, das hätten wir nicht tun müssen.
Kassel: Die Grundthese, die ja zum Beispiel auch TTIP zu Grunde liegt, wenn die Befürworter darüber reden, diese Grundthese lautet ja, aus Freihandel entsteht mehr Handel, entstehen neue Arbeitsplätze, entsteht vermehrtes Wachstum. Ist das historisch gesehen in der Regel so gewesen bei diesen Abkommen?
Mehr Wettbewerb führt zu mehr Druck auf die Arbeitsplätze
Vries: Das kann man alles nicht so leicht sagen, denn aus Freihandel entsteht meist mehr Handel, und Handel führt dazu, dass es mehr Spezialisierung gibt. Und, wie gesagt, Spezialisierung kann natürlich ganz gut bedeuten, dass bestimmte Leute nicht mehr wettbewerbsfähig sind und verschwinden. Das heißt, es werden garantiert auch Jobs verschwinden. Sonst, wenn nichts geschehen würde, hätte es ja keinen Sinn. Das heißt, auch, wenn im Großen und Ganzen der Handel wächst und sogar die Produktivität wächst, bedeutet das noch nicht, dass dann auch mehr Leute einen Job haben. (...)
Und zweitens, Wettbewerb führt meistens natürlich zu Druck auf die Produktivität. Und Druck auf die Produktivität kann auch zu Druck auf die Arbeitsplätze führen, und dann gibt es nicht unbedingt mehr Arbeit als vorher. Das heißt, die Verbindungen sind alle möglich, aber sie könnten auch alle nicht auftreten. Es ist wirklich so, was ich von der Wirtschaftsgeschichte weiß, dass es ganz stark davon abhängt, wie es zu Spezialisierungen führt und wie stark die verschiedenen Wirtschaften sich spezialisieren können und wollen.
Aber es gibt nichts in der Wirtschaftswissenschaft, denke ich, was nicht auch negative Konsequenzen haben kann. Wenn man die Dampfmaschine erfindet, ist das für die Leute, die Pferde halten, natürlich niemals so lustig. Das heißt, bei jedem Fortschritt, wie Josef Schumpeter, der große Wirtschaftswissenschaftler, es nennt, jeder Fortschritt ist natürlich "creative destruction". Das heißt, es kommt etwas dazu, aber es geht garantiert auch irgendwo etwas weg.
Kassel: Sagt Peer Vries, Professor für Wirtschaftsgeschichte an der Universität Wien über die historische Rolle von Freihandelsabkommen und das, was man für heute daraus lernen kann oder auch nicht. Wir werden uns heute Nachmittag in unserer Sendung "Kompressor" noch einmal mit diesem Thema beschäftigen. Es geht ab 14 Uhr 5 um TTIP, und zwar konkret um die sogenannte kulturelle Ausnahme.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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