"Wie am Ende einer zerrütteten Ehe"
Der EU-Experte Nicolai von Ondarza erwartet harte Verhandlungen mit Großbritannien, um nach dem Austritts-Votum eine Ansteckung in anderen EU-Staaten zu vermeiden. Auch in den Niederlanden und in Frankreich gebe es Forderungen nach einem Austritt.
"Wir haben mittlerweile nicht nur aus den Niederlanden, sondern jetzt auch aus Frankreich von Marine Le Pen die Forderung nach einem solchen Austritts-Referendum gehört", sagte der stellvertretende Leitung der EU-Forschungsgruppe in der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik im Deutschlandradio Kultur. "Das heißt, das wird ein politischer Kampf sein, der in vielen EU-Staaten auch parallel in den nächsten Jahren geführt werden muss."
Zugang zum EU-Binnenmarkt wichtig
"Ich kann mir vorstellen, dass das wie am Ende einer zerrütteten Ehe sehr, sehr harte Verhandlungen werden", sagte Ondarza. Trotz des Brexit-Votums seien die Briten darauf angewiesen, Zugang zum EU-Binnenmarkt zu haben, da knapp die Hälfte der britischen Exporte in die EU gingen. Deshalb erwarte er in den nächsten Monaten und Jahren sehr harte und interessengeleitete Diskussionen mit den Briten. Dabei schauten alle Staats- und Regierungschefs gleichzeitig auf ihre eigenen Regierungen. "Deshalb glaube ich, dass die EU möglichst hart sein wird gegenüber Großbritannien, um nicht die Gefahr von Ansteckung in anderen Ländern hervorzurufen."
Das Interview im Wortlaut:
Liane von Billerbeck: Die Briten werden aus der EU austreten, so hat es die Mehrheit der britischen Bürger entschieden im Referendum. Das ist jetzt klar, da ist nichts mehr dran zu ändern, Großbritannien wird also künftig nicht mehr Mitglied der EU sein. Allerdings dauert dieses Prozedere ein bisschen und man kann es vergleichen mit einer Ehe, die am Ende ist, jedenfalls hat das der CDU-Europaabgeordnete Elmar Brok getan.
O-Ton Elmar Brok: Draußen ist draußen, damit es keine Nachahmereffekte gibt. Jetzt finden zwei Jahre lang Scheidungsverhandlungen statt, da muss man sehen, wie es weitergeht. Und wenn sie eine Norwegen-Lösung fahren wollen, gern sind wir dazu bereit, aber das bedeutet, dass Großbritannien alle Regeln des Binnenmarktes übernehmen muss, dass sie die Freizügigkeit der Arbeitnehmer aus Europa akzeptieren müssen, dass sie ihre Beiträge zahlen müssen für die Strukturpolitik von Zentral- und Osteuropa. Das heißt, sie wären dann schlechter dran als vorher, sie müssen alles erfüllen ohne Ausnahme, haben aber kein Stimmrecht mehr.
von Billerbeck: Elmar Brok war das, CDU-Europaabgeordneter. Bei mir im Studio weiter bis acht Nicolai von Ondarza, mein Analyst sozusagen, mein privater hier von der Stiftung Wissenschaft und Politik. Diese Scheidungsverhandlungen, die Elmar Brok da beschrieben hat, das klang ja so ein bisschen so, als ob er die Instrumente vorzeigt. Also, ihr könnt viel weniger, ihr müsst aber alles tun, was ihr bisher auch tut. Das klingt nicht gut für die Briten.
Nicolai von Ondarza: Ich kann mir durchaus vorstellen, dass das wie am Ende einer zerrütteten Ehe sehr, sehr harte Verhandlungen werden. Denn wirtschaftlich, trotz des Votums auszutreten sind die Briten eigentlich darauf angewiesen, Zugang zum Binnenmarkt zu behalten, sei exportieren weiterhin knapp 50 Prozent in die Europäische Union. Und auf der anderen Seite kann die EU ihr Kronjuwel, den Binnenmarkt, nicht leichtfertig ausgeben. Und deswegen erwarte ich in der Tat, dass wir in den nächsten Monaten, Jahren möglicherweise sehr, sehr harte, interessensgeleitete Diskussionen mit den Briten haben werden und alle Staats- und Regierungschefs dabei auch gleichzeitig auf ihre eigene Bevölkerung gucken werden, wie stehen die zu Europa, wie kann ich dieses Europa zusammenhalten.
Und deswegen glaube ich, dass die EU möglichst hart sein wird gegenüber Großbritannien, um nicht die Gefahr von Ansteckung in anderen Ländern hervorzurufen. Wir haben mittlerweile schon nicht nur aus den Niederlanden, sondern jetzt auch aus Frankreich von Marine Le Pen die Forderung nach einem solchen Austrittsreferendum gehört. Das heißt, das wird ein politischer Kampf sein, der in vielen EU-Staaten auch parallel in den nächsten Jahren geführt werden muss.
Misstrauensvotum gegenüber der EU
von Billerbeck: Aber nun ist es ja so, dass die EU ja etwas ist, das viele Bürger als bürokratisches Monster empfinden. Sie finden vieles undemokratisch, die EU-Kommission steht in der Kritik, das EU-Parlament habe zu wenig Macht. Das heißt ja auch, diese Entscheidung der Briten, die kann ja nicht bedeuten, dass die EU so bleibt, wie sie ist, sondern das muss eigentlich dazu führen, dass sich auch in der EU etwas ändern muss. Was kann sich denn ändern kurzfristig und was muss sich ändern langfristig?
von Ondarza: Das wird sehr schwierig sein. Das ist ein Misstrauensvotum gegenüber der Europäischen Union und die Argumente, die die Brexit-Befürworter in der Kampagne benutzt haben – Souveränität, Migration und Identität, demokratische Legitimation –, das sind all die Punkte, die auch von vielen anderen EU-skeptischen Parteien und auch von vielen Bürgern vielleicht nicht in der Schärfe, aber zumindest im Grundsatz geteilt werden. Und ich glaube nicht, dass die Europäische Union jetzt die Flucht nach vorne suchen kann und noch mehr Integrationsschritte vorschreiben, sondern es ist sehr viel Geduld gefordert und auch der Nachweis gegenüber den Bürgern, dass diese Europäische Union funktionieren kann.
Und das ist der EU in den letzten Jahren, in der Eurokrise, Flüchtlingskrise, sehr, sehr schlecht gelungen, und das hat sicherlich zu diesem Austrittsvotum beigetragen. Und das wird ein langer Weg sein, nicht nur die Verhandlungen mit den Briten zu führen, sondern auch die Bürger in den anderen Staaten zu überzeugen, dass diese Europäische Union tatsächlich Mehrwert bringen kann und dass die britische Entscheidung vielleicht für Großbritannien eine ist, aber nicht eine, die auch für die anderen Staaten gelten sollte.
Umdenken in Brüssel erwartet
von Billerbeck: Glauben Sie an die Selbstreformation der EU-Institutionen in einer überschaubaren Zeit?
von Ondarza: Ich glaube schon, dass ein Umdenken stattfinden wird. Ein Austrittsvotum Großbritanniens … Wir haben zwar alle die Umfragen gesehen, aber der Schock in Brüssel wird tief sein heute. Und wir haben schon in den letzten Tagen und Wochen teilweise neue Stimmen gehört wie beispielsweise von Ratspräsident Donald Tusk, der gesagt hat, wir haben mit der europäischen Integration die Bürger überfordert und wir müssen auch in den anderen Staaten zeigen, dass wir nicht noch mehr, weitere Souveränitätsrechte nach Brüssel transferieren. Und ich glaube, dieser Umdenkungsprozess, der wird auch in Brüssel stattfinden.
von Billerbeck: Einschätzungen von Nicolai von Ondarza, stellvertretender Leiter der EU/Europa-Abteilung in der Stiftung Wissenschaft und Politik.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.