Verheerende Epidemie

Anfang des 20. Jahrhunderts wütete weltweit die verheerendste Grippeepidemie der Moderne. Die Medizin war ihr gegenüber machtlos: 300.000 Tote in Deutschland, 50 Millionen weltweit. Der Autor erinnert an die aussichtslosen Versuche der Ärzte zu helfen, und er trägt Krankengeschichten zusammen.
Die Spanische Grippe kam nicht aus Spanien. Sie trat im März 1918 zuerst in den USA auf, dann folgten Frankreich, Belgien, Großbritannien und Deutschland. Doch im friedlichen Spanien war die Pressezensur weniger streng als in den kriegführenden Nationen, und so wurde die Influenza spanisch, als im Mai bekannt wurde, der König des Landes sei schwer an ihr erkrankt.

Große Teile der Erde folgten dem König. Die Spanische Grippe, die nicht mit dem grippalen Infekt zu verwechseln ist, war eine Pandemie. Um so erstaunlicher, dass sie bis vor kurzem weitgehend vergessen war. Erst die Vogelgrippe ließ an den Vorläufer denken, dessen Geschichte der Berliner Arzt und Medizinhistoriker Wilfried Witte in "Tollkirschen und Quarantäne" erzählt.

In drei Wellen zwischen 1918 und 1920 ging die Spanische Grippe um die Welt. Seltsamerweise trat sie zunächst im Frühjahr und sowohl bei alten wie bei jungen Menschen auf. Die Kranken litten an hohem Fieber, Schüttelfrost, Gliederschmerzen, Übelkeit, denen häufig eine Lungenentzündung oder eine Gehirnentzündung folgte. In vielen Städten kam das gesellschaftliche Leben zum Erliegen; Schulen, Theater und Kinos schlossen.

Stark wütete die Spanische Grippe in den Kolonien und unter Autochthonen: 80 Prozent der Ghanesen erkrankten, 75 Prozent der nordamerikanischen Indianer und kanadischen Inuits. In der ersten Welle starben vergleichsweise wenige Menschen, die zweite raffte im Herbst 1918 viele binnen kürzester Zeit dahin. Weltweit belaufen sich die Schätzungen auf 27 bis 50 Millionen Opfer.

Die Mediziner konnten keinen Erreger nachweisen und wussten nicht, worum es sich handelte. Die Pest, an die Laien glaubten, weil sich Tote zuweilen schwarz verfärbten, schlossen sie allerdings aus. Also ließen sie zur Ader oder desinfizierten mit Formaldehyd. In Ravenna durften Lastkarren die Straße nicht mehr überqueren. In Großbritannien verschrieb man Alkohol, in Frankreich Buchenholzöl, in San Francisco einen obligatorischen Mundschutz.

Wilfried Witte erzählt von den Auswirkungen mit deutlicher Lust am Katastrophenszenario, während er die Therapie ebenso wie die Symptome erstaunlich kursorisch behandelt. Erschwert wird das Verständnis anfangs durch terminologische Inkonsequenz: Witte will die Influenza nicht als Grippe verharmlost wissen, spricht aber manchmal selbst von Grippe.

Nach einem Blick auf vorhergehende Influenza-Pandemien, deren letzte 1891 beim erneuten Auftreten der Krankheit 1918 schon wieder vergessen war, richtet er seine Aufmerksamkeit auf die medizinische Forschung. In eigenen Kapiteln werden die im Gefolge der Influenza auftretende Lungentuberkulose und Gehirnentzündung betrachtet. Kranken- und Forscherschicksale, darunter die des Schriftstellers Franz Kafka und des bulgarischen Heilkundlers Ivan Raev, der die Tollkirschenkur entdeckte, veranschaulichen die Fortschritte der Wissenschaft. Seit dem Zweiten Weltkrieg wird die Influenza durch die Weltgesundheitsorganisation überwacht.

Witte beschränkt sich, anders als Manfred Vasold in seiner Seuchengeschichte "Grippe, Pest und Cholera", auf nur eine Krankheit, führt seine gut lesbare Darstellung aber bis in die Gegenwart fort. Denn der Anlass für das Interesse an der Seuchengeschichte ist die Vogelgrippe: Möglicherweise ist auch die Spanische Grippe vom Tier auf den Menschen übergesprungen. Wilfried Witte warnt dennoch vor Aktionismus: In Japan, wo viele seit Jahren präventiv ein Medikament gegen Influenza einnehmen, werde der Virus bereits resistent.

Rezensiert von Jörg Plath

Wilfried Witte: Tollkirschen und Quarantäne. Die Geschichte der Spanischen Grippe
Verlag Klaus Wagenbach
126 Seiten, 16,90 Euro