"Alexijewitsch ist eine Symbolfigur für ein neues Belarus"
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Heute muss die belarussische Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch zum Verhör. Sie ist die berühmteste Stimme der Opposition. In ihrer Vorladung sieht der Osteuropahistoriker Ingo Petz eine Warnung des Lukaschenko-Regimes.
Stephan Karkowsky: In Belarus, da tut sich was. Die Behörden haben Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch zur Vernehmung einbestellt. Hintergrund sei ein Strafverfahren gegen den oppositionellen Koordinationsrat, wie es hieß. Alexijewitsch ist 72 Jahre alt und Mitglied dieses Koordinationsrates, sie soll heute noch vernommen werden. Erst 2015 hatte sie den Nobelpreis für Literatur bekommen.
Wie man diese Vorladung zu deuten hat, das frage ich Ingo Petz. Der Osteuropahistoriker und Kulturjournalist kennt auch Belarus und die Literatur von Alexijewitsch bestens. Ist die für heute geplante Vernehmung der Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch eine Überraschung gewesen für Sie?
Ingo Petz: In gewisser Weise natürlich schon. Ich meine, dass das Regime Lukaschenko sich tatsächlich traut, eine weltweit derart bekannte Person, Literaturnobelpreisträgerin, einzubestellen, um sie zu vernehmen, ist natürlich schon eine Überraschung.
Aber wenn man das Regime ein bisschen besser kennt, dann weiß man, dass da wenig Hürden und Vorbehalte bestehen. Das ist sicherlich auch ein Zeichen, diese Vernehmung, diese Einbestellung, die ja heute passiert, an den Koordinationsrat, an die Leute, die auf die Straße gehen, dass sie vorsichtig sein sollen, weil ihnen einiges blühen kann.
Alexijewitsch demaskiert das Totalitäre
Karkowsky: Alexijewitsch gilt in Belarus als moralische Stimme. Warum ist das eigentlich so?
Petz: Das ist eigentlich ganz leicht. Swetlana Alexijewitsch hat ja auch viel in Belarus gearbeitet, sie ist da auch zur Reporterin geworden Ende der 70er-Jahre, ist dann Anfang der 80er-Jahre mit ihren ersten Büchern in Erscheinung getreten. Ihr Vorbild für ihre dokumentarische, collagenhafte Literatur ist tatsächlich Ales Adamowitsch, ein anderer sehr berühmter Schriftsteller und Reporter in Belarus.
Durch ihr ganzes Werk zieht sich dieses Aufklärerische, das Freiheitliche. Sie versucht, das Totalitäre zu demaskieren, zu entlarven. Das ist das eine, also ihr Werk an sich selbst, das von Freiheit geprägt ist-
Und das andere ist natürlich, dass sie sich immer wieder gegen Lukaschenko positioniert hat, vor allem, seitdem sie aus ihrem Exil zurückgekehrt ist, ich glaube, seit 2015 ist sie auf jeden Fall wieder ständig in Belarus. Sie hat also sich sehr kritisch gegen Lukaschenko geäußert. Jetzt auch erst letztens hat sie gesagt, er soll doch zurücktreten, besser früher als zu spät.
Karkowsky: Sie ist damit auch das prominenteste Mitglied im so genannten oppositionellen Koordinationsrat, der sich gegründet hat, nachdem man vermutet hat, die Wahlen waren gefälscht. Welche Rolle hat sie denn persönlich in diesem Gremium, wissen Sie das?
Petz: Sie ist in dieses Führungsgremium auch des Koordinationsrates gewählt worden. Das war keine Überraschung, wie Sie eben gesagt haben, sie ist eine große moralische Stimme für die Belarussen. Sie ist wahrscheinlich die bekannteste lebende Belarussin, wenn man so will.
Ich glaube, sie hat tatsächlich sowas wie eine symbolische Position da. Sie ist eine Symbolfigur für ein neues Belarus und natürlich jemand, auf den die Belarussen gucken und auf die Welt guckt.
Die Opposition will ein offeneres, freieres Belarus
Karkowsky: Hat denn dieser Koordinationsrat in Belarus auch tatsächlich Einfluss?
Petz: Das versucht man natürlich gerade. Es ist ohnehin gerade eine sehr schwierige Situation. Das Regime will seine Macht nicht aufgeben, und der Koordinationsrat versucht, zu signalisieren, auch an das Regime selbst, an die ganzen Beamten, die es da gibt, hier sind Leute, guckt auf die Straße, die Leute gehen auf die Straße. Gestern Abend ist ja auch wieder wahnsinnig demonstriert worden in Minsk. Das haben hier vielleicht gar nicht viele mitbekommen. Also die Demonstrationen finden weiterhin statt.
Das ist ein Signal auch natürlich an viele im Regime selbst, da zu zeigen: überlegt euch, auf wessen Seite ihr euch stellt. Es ist ein Signal, zu zeigen: Hier sind kompetente Leute in der Zivilgesellschaft, Kultur, in der Wirtschaft, die versuchen, ein offeneres, ein freieres Belarus zu organisieren.
Karkowsky: Und das Regime versucht natürlich, die Opposition zu kriminalisieren. Am 20. August, also vor ein paar Tagen erst, hat der belarussische Generalstaatsanwalt ein Strafverfahren angekündigt gegen den Koordinierungsrat, weil das Gremium "eine Bedrohung der nationalen Sicherheit" darstelle. Den Mitgliedern wird eine illegale Machtergreifung vorgeworfen. Weiß man, welche Strafen da drohen?
Petz: Es sind jetzt schon zwei Personen aus dem Führungsgremium verhaftet worden vor zwei Tagen: einmal Sergej Dilevsky, das ist der Führer des Streikkomitees der Minsker Traktorenwerke, also eine sehr prominente und wichtige Figur, weil die Arbeiter eine essenzielle Rolle spielen, weil die Staatswirtschaft immer noch zu 75 Prozent ungefähr vom Staat kontrolliert wird.
Die andere Person ist Olga Kovalkova, das ist die Co-Vorsitzende der belarussischen christlichen Partei. Die sind auch beide schon zu zehn Tagen Haft verurteilt worden.
Das ist – das hatte ich eben schon gesagt –, also das ist tatsächlich ein Zeichen, auch diesen Koordinationsrat auseinanderzutreiben, den Leuten Angst zu machen. Es sind auch Leute aus dem Koordinationsrat, nicht aus dem Führungsgremium, wie der Designer Wladimir Tesla zum Beispiel, die haben auch schon das Land verlassen, weil sie Angst haben vor diesen Repressionen, was man natürlich auch verstehen kann.
Lukaschenko wollte Opposition von Anfang an mundtot machen
Karkowsky: Der Kreml-Kritiker Alexej Nawalny wird derzeit in Berlin behandelt, weil er mutmaßlich vergiftet worden ist. Sie kennen nun Belarus seit 25 Jahren, Herr Petz. Gibt es dort eigentliche Versuche, Oppositionelle nicht nur mundtot, sondern mausetot zu machen?
Petz: Das ist eine lange Geschichte. Also mundtot wird die Opposition eigentlich seit Beginn von Lukaschenko, also spätestens seit 1995, 1996 gemacht. Lukaschenko hat versucht, mit repressiven Mitteln seine Autokratie zu stabilisieren, konsolidieren. Gerade in der Anfangszeit wurden sehr viele Leute tatsächlich auch ins Gefängnis gesteckt, aber man darf auch nicht vergessen, dass dieses Regime einen sehr harten Kern an kriminellen Hardlinern hat.
Viele erinnern sich vielleicht gar nicht, aber 1999, 2000 sind ja auch sehr berühmte Oppositionelle wie Viktor Gontschar, der ehemalige Leiter der Wahlkommission, oder Juri Sacharenko, ehemaliger Innenminister, also die erst auf der Seite von Lukaschenko standen und dann sich abgewandt haben und dann in die Opposition gegangen sind, verschwunden. Man vermutet ja bis heute, sie seien wahrscheinlich von der Todesschwadron umgebracht worden.
Auch das ist ja in den letzten Jahren nicht mehr in dieser harten Form passiert, aber natürlich hat man auch jetzt wieder die ersten Wochen nach dem 9. August, also nach dieser Wahl, gesehen, mit dieser exzessiven Polizeigewalt, den ganzen Foltern in den Gefängnissen, die ja dokumentiert sind – es sind immer noch 70 Leute tatsächlich verschwunden, von denen man nicht weiß, wo sie sind –, dass dieses Regime auch vor nichts tatsächlich zurückschreckt.
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