Verkehr in Berlin

Auf Verschleiß gefahren

Eine entgleiste S-Bahn in der Nähe des Bahnhofs Hoppegarten (Brandenburg) schief im Gleisbett.
Eine entgleiste S-Bahn in der Nähe des Bahnhofs Hoppegarten (Brandenburg) schief im Gleisbett. © dpa / picture alliance / Paul Zinken
Von Wolf-Sören Treusch |
Berlin wächst: Nach Prognosen könnte die Hauptstadt im Jahr 2030 vier Millionen Einwohnern beherbergen. Für die Herausforderungen, die das verkehrspolitisch mit sich bringt, glaubt sich der Senat gerüstet. Die Opposition sieht das anders.
"Wir haben gerade erst ein Fahrzeug zur Verschrottung freigegeben, weil es solche Schäden durch den Betrieb des Fahrzeuges hatte, nicht etwa durch einen Unfall oder so, dass es also nicht mehr reparabel ist. Das Fahrzeug war 50 Jahre alt."
Wenn Andreas Neuner den Daumen senkt, darf der Zug nicht mehr raus. Der Ingenieur ist verantwortlich für die Fahrzeugtechnik der Berliner U-Bahn. Zwei Dutzend gelbe Wagen stehen aufgebockt in einer riesigen Instandsetzungshalle, fast jeder Reparaturplatz ist besetzt. Nebenan in der Halle seien es noch einmal genauso viele, sagt Neuner. Die Werkstattquote der Berliner Verkehrsbetriebe liegt bei 15 Prozent. Normal sind 10 Prozent.
"Wir haben zwei wesentliche Probleme. Das eine sind die Risse im Drehgestell, und das zweite Problem ist Korrosion im Wagenkasten. Wir haben zwar Aluminium-Fahrzeuge, Aluminium rostet ja nicht, aber es korrodiert und bildet ähnlich wie Stahl dann Löcher, und wir haben dann dieselben Probleme, die ein Autofahrer mit seinem alten Auto hat."
Die U-Bahn hat weniger Wagen, aber höhere Fahrgastzahlen
Es kann einem schon mulmig werden, die vielen Markierungen an den Drehgestellen zu sehen, die geschweißt werden müssen. Die Berliner U-Bahn wurde viel zu lange auf Verschleiß gefahren. In den vergangenen zwei Jahrzehnten ging die Zahl der Wagen um ein Viertel zurück. Sie wurden aussortiert und nicht wieder ersetzt. Aktuell sind es noch 1.238. Parallel dazu stiegen die Fahrgastzahlen stetig an. Auf inzwischen 950 Millionen im Jahr.
Der Berliner Senat reagiert. 58 Millionen Euro stellt er nun bereit für den Kauf von elf neuen Zügen. Endlich, sagt Ingenieur Neuner. Allerdings hat die Sache einen Haken.
"Diese Ad-Hoc-Aktion hilft nicht so richtig weiter, weil wir keine geeigneten Fahrzeuge dafür haben. Die müssen erst konstruiert werden, die gibt es noch nicht auf dem Markt. Und demzufolge nehmen wir Kleinprofil-Fahrzeuge und bauen die fürs Großprofil um, aber so, dass wir die nach ein paar Jahren wieder ins Kleinprofil zurückrüsten können."
Die BVG kauft, was auf dem Markt zu bekommen ist. Und wird deshalb die neuen Züge für die Strecken mit größerer Spurbreite selbst umbauen. Dort ist der Fahrzeugmangel besonders groß.
"Die Politik hätte uns geholfen, wenn wir schon vor langer Zeit über eine kontinuierliche Schienenfahrzeug-Neubeschaffung bei uns nachgedacht hätten."
Bisher hat der Senat gespart - jetzt macht er wieder Geld locker
In den vergangenen Jahren fuhr der Senat jedoch einen rigiden Sparkurs. Jetzt verfügt er über einen Haushaltsüberschuss in Höhe von mehr als einer Milliarde Euro. Die Hälfte davon fließt ins "Sonderprogramm Infrastruktur Wachsende Stadt", kurz SIWA, damit dringend benötigte Investitionen getätigt werden können, wie eben der Kauf von elf U-Bahn-Wagen. Der Opposition ist das viel zu spät und viel zu wenig. Antje Kapek, eine der beiden Fraktionschefinnen von Bündnis 90/Die Grünen im Abgeordnetenhaus:
"Es gibt Forderungen der BVG für Investitionszahlungen von 150 Millionen pro Jahr, die notwendig wären, um den Fuhrpark auf einen erträglichen Stand zu bringen, da reichen die rund 60 Millionen aus dem SIWA bei langem nicht. Das heißt: Es wirkt ein bisschen so, als hätte der Senat auf die Wunden dieser Stadt, also auf die, die am offensichtlichsten sind, Pflaster geklebt, aber an die Ursachen der Krankheit geht man nicht heran."
Stadtentwicklungs- und Verkehrssenator Andreas Geisel, SPD, lässt derlei Kritik an sich abperlen. Für ihn ist SIWA nur der Anfang. Im Entwurf für den Doppelhaushalt 2016/17, sagt er, seien beispielsweise 360 Millionen Euro mehr für Personal vorgesehen. Eine wichtige Maßnahme, um den Investitionsstau in der Stadt aufzulösen und das Wachstum Berlins zu steuern.
"Wachsende Stadt Berlin heißt, dass wir in den nächsten Jahren um etwa 250.000 Einwohnerinnen und Einwohner wachsen werden, also ein Berliner Bezirk kommt hinzu, und das wird nur zu bewältigen sein, wenn wir auch über das entsprechende Personal verfügen. Deshalb begrüße ich es ganz ausdrücklich, dass neu eingestellt wird, übrigens auch in meiner Verwaltung: Auch ich kann jetzt einen Planer einstellen, eine Planerin einstellen, um Straßenbahnlinien zu planen."
Die gute alte Tram. Im Ostteil der Stadt flächendeckend vertreten, im Westteil nur als Stummel. Das Verkehrskonzept der Zukunft weist ihr eine wichtige Rolle zu. Ein Kilometer Straßenbahn zu bauen, so das Argument des Senators, kostet 10 Millionen Euro, ein Kilometer U-Bahn 300 Millionen. Andreas Geisel will die Tram auch nutzen, um zukünftige Neubaugebiete ans Verkehrsnetz anzuschließen.
"Wir haben mehr Berlinerinnen und Berliner. Wir haben mehr Touristen ... "
Die Hauptstadt wächst, und zwar in einer Größenordnung, die der Berliner Senat nicht vorausgesehen hat. Bis vor kurzem glaubte er den Prognosen, die Einwohnerzahl Berlins werde "nur leicht" ansteigen, mittlerweile haben die Politiker ihre Schätzungen korrigiert: Vier Millionen Einwohner im Jahr 2030 seien möglich.
"... und klar ist: der Ort, der Platz, den wir dafür in Berlin haben, reicht nicht für alle Aktivitäten."
Wie kann die Mobilität stadtverträglich gestaltet werden?
Ein neues Verkehrskonzept muss her. Im Zentrum steht die Frage: Wie kann die Mobilität stadtverträglich gestaltet und ausgebaut werden? Noch gilt Berlin als autogerecht. Auf die A100, die meist befahrene Autobahn Deutschlands, und auf die zahlreichen mehrspurigen Verkehrsachsen und Magistralen werden die Menschen kaum verzichten wollen. Aber was geschieht im übrigen öffentlichen Raum? Die zuständige Senatsverwaltung beginnt umzudenken. Zumindest laut nachzudenken.
"Ich werde immer wieder aufgefordert: Weise doch mal auf verkehrsreichen Straßen eine Fahrbahn nur für Radfahrer aus. So 'ne Radfahrer-Autobahn in der Stadt. Das klingt super. Ist aber sehr, sehr problematisch."
In öffentlichen Veranstaltungen definiert Stadtentwicklungssenator Andreas Geisel gern Zielkonflikte. Pkw-Verkehr eindämmen und Radverkehr stärken: Das geht nicht einfach so. Beispiel: die zweispurige Schönhauser Allee im Bezirk Pankow.
"Wenn wir jetzt eine Fahrspur für den Radverkehr freigeben, dann würden wir die Autofahrer auf die Spur lenken, auf der gegenwärtig die Straßenbahn fährt. Und in der Folge würde die Straßenbahn im Autoverkehr stecken bleiben. Wir hätten für die Radfahrer sicherlich Geschwindigkeit gewonnen und Komfort gewonnen, aber den Öffentlichen Personennahverkehr verlangsamt. Keine gute Lösung. Nehmen wir den Parkstreifen in Anspruch, steigen uns die Einzelhändler aufs Dach, weil sie auf die Parkplätze angewiesen sind, weil dort ihre Kunden halten. Auch keine gute Lösung. Was tun? Nichts zu tun und alles lassen, wie es ist, ist auch keine Antwort."
In diesem Fall hat der Verkehrssenator ein dänisches Architektur- und Stadtplanungsbüro in die Diskussion eingebunden. Immerhin kann das Büro als Referenz vorweisen, den Times Square in New York Radfahrer- und Fußgängerfreundlich umgestaltet zu haben.
Pankows Baustadtrat Jens-Holger Kirchner von Bündnis 90/Die Grünen glaubt, dass die Autofahrerlobby in der Stadt immer noch zu stark ist. Ohne, wie er findet, jegliche Berechtigung.
"Was mir absolut auf den Nerv geht im Moment, das ist der quasi gefühlte grundgesetzliche Anspruch auf einen kostenlosen Stellplatz vor der Tür. Das ist einer der Punkte, wo wir wirklich ernsthaft diskutieren müssen, ob wir uns das wirklich noch leisten können, Hektarweise öffentliches Land dafür zur Verfügung zu stellen, dass privates Blech einfach entgeltfrei abgestellt wird. 23 Stunden am Tag."
Das Auto ist nicht mehr der wichtigste Verkehrsträger in Berlin
Laut einer Studie der Technischen Universität Dresden ist das Auto tatsächlich nicht mehr der wichtigste Verkehrsträger in Berlin. Die Spitzenposition nehmen die Fußgänger ein. Ihr Anteil am Straßenverkehr beträgt 31 Prozent, während Autofahrer nur noch 29,6 Prozent ausmachen. Besonders stark zugelegt hat in den vergangenen fünf Jahren der Öffentliche Personennahverkehr. Sein Anteil stieg deutlich von 24 auf 27 Prozent. Die Radfahrer sind mit 13 Prozent am Berliner Straßenverkehr beteiligt.
Das sind Zahlen, die den Berliner Senat in seiner Verkehrspolitik bestärken: weg vom Auto, hin zu ÖPNV, Fahrrad- und Fußgängerverkehr. Mobilität in Berlin, so heißt es im Stadtentwicklungskonzept für das Jahr 2030, das der Senat im März veröffentlicht hat, ist "postfossil".
"Wenn wir aber die Stadt real verändern wollen, dann geht das nur, wenn wir Autoverkehr tatsächlich real zurückdrängen. Und die Debatte, ob wir das wollen, (Applaus) ... und die Debatte, ob wir das wollen, die müssen wir intensiv miteinander führen. Denn wenn wir es entschieden haben, ist es zu spät. Dann hilft kein Meckern mehr."
So wie beispielsweise im Bezirk Schöneberg. Im Herbst wird dort eine wichtige Kiezstraße zur verkehrsberuhigten Begegnungszone. Nach knapp drei Jahren Planungsvorlauf. Fußgänger haben Vorfahrt, es gilt Tempo 20, damit sich Auto- und Radfahrer daran halten, wurde die Fahrbahn schmaler und zudem verschwenkt. 700.000 Euro hat das Pilotprojekt gekostet. In den kommenden Jahren werden zwei weitere Begegnungszonen in Berlin eingerichtet. Ein eilig vorbei hastender Passant nennt das Verkehrsbehinderungspolitik.
"Projekte gibt es viele, Modelle auch, ich halte nur viel davon, Wirtschaft, Industrie und Handel nicht künstlich zu blockieren, das ist das, was bei uns Steuern und Arbeitsplätze bringt. Diese Überreglementierung, fast planwirtschaftlich, das haben wir ja anderenorts überwunden, das führen wir jetzt wieder ein."
Ein Verkehrskonzept aus einem Guss? In Berlin ist das kaum möglich. 27.000 neue Fahrradabstellplätze ließ der Senat beispielsweise in den vergangenen Jahren in der Stadt bauen. Wo immer sich eine Lücke bot. Aber kein einziges Parkhaus für Fahrräder entstand an zentralen S- und U-Bahnhöfen. Genau das aber würde es noch attraktiver machen, verschiedene Beförderungsmittel miteinander zu kombinieren.
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