Ein Weihnachtsmärchen

Driving home for Christmas with Deutsche Bahn

Fahrgast im Hauptbahnhof von Frankfurt Main geht am Gleis an einem Zug vorbei.
Schon bevor die Zugfahrt losgeht, beginnen die Probleme: Verspätung. © picture alliance / Daniel Kalker
Gedanken von Timo Rieg |
Autor Timo Rieg ist überzeugter Bahnfahrer. An diesem Weihnachten verzichtet er lieber - angesichts der vielen Streckensperrungen, Zugausfälle und Verspätungen. Doch er malt sich aus, wie eine Bahnreise in diesen Tagen wohl verlaufen wäre.
"Nie wieder nehmen wir den Zug! Kannst du vergessen. Da können noch so viele Baustellen sein, mit dem Auto sind wir trotzdem schneller und müssen nicht durch dieses Scheißwetter laufen!" Als mir jener wutschnaubende Mann mit Familienanhang am Bahnsteig entgegenkommt, bin ich noch guter Dinge. Aber meine Resilienz wird in den folgenden 14 Stunden von der DB noch auf die Probe gestellt werden.

Verspätung – cica 120 Minuten

Es schlägt schon etwas aufs Gemüt, wenn mir als Willkommen die Blechelse am Bahnsteig in ihrer unnachahmlich trockenen Art verkündet: "Information zu ICE Fünfhundertirgendwasweißnichtmehrgenau nach Düsseldorf Hauptbahnhof, Abfahrt 09:17, heute circa 120 Minuten später. Wir bitten um Entschuldigung."
Ein Stellwerksausfall sei schuld, hat die Automatenstimme dann mehrfach gesagt. Also steht man sich die Beine in den Bauch. Komfort für den Wartebereich hat die Bahn noch nicht entdeckt. Mir drückt das nasskalte Wetter auch auf die Blase. Mit Koffer, Rucksack und dem großen Geschenkkarton für die Eltern auf ein öffentliches Klo zu gehen, ist mir eigentlich schon Abenteuer genug. Doch als ich zurück zum Gleis komme, wartet niemand mehr auf meinen Zug. Er ist bereits weg. Ja, das dürfe man nie so genau nehmen mit der Verspätungsansage, meint die Bahnfrau am Info-Schalter. Deshalb heiße es auch immer circa. "Circa 120 Minuten später."

Toiletten ausgefallen

Nach einer weiteren Stunde Wartezeit kommt ein Zug, der mich wenigstens grob in die richtige Richtung bringen soll. Noch beim Einsteigen begrüßt uns der Zugchef mit der Nachricht, dass sämtliche Toiletten in diesem Zug ausgefallen seien und doch bitte wieder aussteigen solle, wer für den Rest des Tages nicht sicher einen Bedarf ausschließen könne. Er expliziert, es könne schon mal vorkommen, dass ein Zug für lange Zeit auf freier Strecke zu halten gezwungen sei. Notgedrungen setze ich auf Risiko und bleibe im Zug – stehen. An einen Sitzplatz ist nicht zu denken, und sollte einer frei werden, gehöre ich noch nicht zu einer priorisierten Anspruchsgruppe. 
Im Verlauf unserer Fahrt bleibt der Zug immer wieder außerplanmäßig stehen, die Verspätung wächst deutlich. Einmal haben wir eine polizeiliche Ermittlung im Zug, wegen eines Schwarzfahrers, wie man so hört. Dann streikt das Ausfahrtssignal am Bahnhof. Mal lassen sich die Türen nicht schließen, und mehrfach müssen wir irgendwo warten, damit uns andere Züge überholen können, eine Kohlelieferung zur Erzeugung von Bahnstrom eingeschlossen.

Der letzte Bus ist schon längst weg

Nach einem Personalwechsel ermuntert uns die neue Zugchefin mit dem Hinweis, im Bordbistro gebe es kostenlose Trinkwasserpäckchen, "aber bitte jeder nur eines". Auf die Kollision mit unserem Toilettenproblem weist sie erst später in einer weiteren Durchsage hin.
Mit dem Umstieg in eine Regionalbahn lerne ich die Schleichfahrt auf Schienen kennen. Spielende Kinder an den Gleisen seien gemeldet worden, verkündet der Lokführer, deshalb müsse er auf Sicht fahren. Dem Tempo nach zu urteilen ist er stark kurzsichtig.
Am Ende der Bahnreise ist der letzte Bus in mein Heimatdorf längst weg. Mit dem Taxi fahre ich zum Haus meiner Jugend. Meine Eltern sind zum Glück nicht so dusselig, dass sie ihren Wohnungsschlüssel unter einem Blumentopf vor dem Haus verstecken, sodass mir die Herberge verschlossen bleibt. Aber in den Geräteschuppen im Garten kommt man so. Dort habe ich wenigsten ein Dach überm Kopf für die Nacht.
Nach dem ersten Hahnenschrei läute ich an der elterlichen Haustür, und nun sitzen wir beisammen am altbekannten Küchentisch und haben den ersten Kaffee vor der Nase – und ein paar Plätzchen für die Weihnachtsstimmung. Ein wenig graut mir natürlich jetzt schon vor der Rückreise. Aber noch ist da auch die Hoffnung, dass mir meine Eltern in diesem Jahr endlich ihr Auto schenken. Es gibt hier nämlich seit Neustem einen Bürgerbus, der alte Leute zum Einkaufen und zu den Ärzten fährt – und zum Bahnhof.

Timo Rieg ist Buchautor und Journalist. Seine zuletzt erschienenen Bücher sind „Demokratie für Deutschland“ und der Tucholsky-Remake „Deutschland, Deutschland über alles“. Zum Thema „Bürgerbeteiligung per Los“ bietet Timo Rieg zudem eine Website mit Podcast an.

Porträtaufnahme des Autors Timo Rieg
© privat
Mehr zum Thema