Ein Opfer des Fortschritts
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Güterverkehr von der Straße auf die Schiene verlagern – die meisten Menschen sind sich einig, dass das eine gute Idee sei. Doch die Verkehrswende hat ihren Preis: Sie kommt nicht ohne gesundheitliche Folgen. Und die müssen vor allem die Anrainer tragen.
Sarah Scheer lebt mit ihrer Familie südlich von Koblenz nahe dem Bahnhof Niederlahnstein an Europas zentraler Güterverkehrsstrecke von der Nordsee ans Mittelmeer. Ende August entgleiste hier der Güterzug eines Berliner Bahnunternehmens auf dem Weg von Rotterdam nach Basel.
"Wir haben zu der Uhrzeit draußen gestanden", beschreibt Scheer die Situation. "Wäre das Unglück 200 Meter weiter passiert, würde ich hier heute nicht mehr stehen und meine Tochter würde auch nicht mehr unter uns weilen, weil der Zug genau auf uns geknallt wäre."
Ein Unfall mit Folgen
Rund 100.000 Liter Diesel versickerten aufgrund des Unfalls im Grund. Die Deutsche Bahn als Trassenbetreiberin baggerte 20.000 Tonnen verseuchtes Erdreich ab, verriet aber auf einer eigens einberufenen Bürgerversammlung in der geräumigen Alten Feuerwache nicht genau, wieviel Diesel im Boden blieb.
Abpumpen will sie ihn über Jahre hinweg. Die Anwohner bleiben skeptisch und bemängeln fehlende Transparenz. Sie malen sich aus, was geschehen wäre, hätten die Kesselwagen statt Diesel Explosives geladen.
Wer soll so schlafen?
Doch selbst ohne die Gefahr müssen Scheer und die anderen Anrainerinnen und Anrainer der Trasse einiges mitmachen:
"Der tagtägliche Lärm der Bahn fängt morgens beim Aufstehen an, ob das morgens um vier, um fünf, um sechs oder sieben Uhr ist – es ist ständiges Gequietsche auf der Bahn. Das geht den ganzen Tag so durch, auch in der Nacht. Das ist da besonders anstrengend, wenn man abends schlafen will. Man ist im leichten Dämmerschlaf und wird jedes Mal vom Bremsen der Bahn wieder rausgerissen."
Der Lärm plagt neben den Anwohnern auch Touristen, die im Mittelrheintal wandern, mittelalterliche Burgen erkunden und handgelesene Weine aus Steillagen trinken wollen. Denn übernachten müssen sie in den langgestreckten Orten oft nah an der Bahntrasse. Platz für Lärmschutzwände findet sich im engen Tal nicht überall. In 17 zusätzlichen Orten will die Bahn in den kommenden Jahren Schallschutz bauen, doch wer oberhalb der schützenden Wände wohnt, profitiert nicht davon.
Deutsche Bahn gibt Probleme zu
Das Traditionsweingut der Familie Lanius im linksrheinischen Oberwesel ist ein massiver Backsteinbau. Aber, sagt der Winzer und Vorsitzende der lokalen Bürgerinitiative "Zukunft trotz Bahn", während die Oberleitung an der Trasse surrt:
"Im Sommer möchte man natürlich nicht immer nur mit geschlossenen Fenstern dort sein. Die Hauptbelastung ist aber definitiv in den Nachtstunden. Weil gerade nachts überwiegend Güterzüge fahren, ist auch die Beeinträchtigung am größten. Gefühlt fahren auch die lautesten Züge in den Nachtstunden. Zwischen drei und vier Uhr werden die Güterzüge abgewickelt, die man über Tag niemandem mehr zumuten kann."
Die Bahn ist in der Weltkulturerbe-Region Oberes Mittelrheintal zum Entwicklungshemmnis geworden, glauben Lanius und seine Mitstreiter. Leerstände zeugen von Wegzug. Die Deutsche Bahn selbst zählt das Mittelrheintal "zu den Brennpunkten von Schienenverkehrslärm in Deutschland".
Sein Unternehmen arbeite mit Hochdruck an dem Problem, betont Klaus Vornhusen bei der Niederlahnsteiner Bürgerversammlung. Vornhusen ist DB-Konzernbevollmächtigter für Rheinland-Pfalz und das Saarland, zum Konzern gehört auch DB-Cargo als größtes europäisches Güterverkehrsunternehmen.
Die Bahn verspricht halbierte Lautstärke
"Im Güterverkehr herrscht intensiver Wettbewerb zwischen den Betreibern, darunter ist die Deutsche Bahn, darunter sind auch andere. Wir werden aber gerade zu Ende dieses Jahres einen wirklich sehr, sehr großen Schritt machen, dadurch, dass in Deutschland nur noch leise Bremssohlen zugelassen sind."
Um bis zu zehn Dezibel soll die Verbundstoffbremse, auch "Flüsterbremse" genannt, das Rollgeräusch reduzieren. Das Ohr nimmt das als halbierte Lautstärke wahr. Vom Fahrplanwechsel ab 13. Dezember an sind laute Güterzüge mit quietschenden Bremsen im deutschen Netz laut Schienenlärmschutzgesetz verboten.
Die Schweiz als Vorbild
Auch deshalb übrigens, weil die Schweiz mit Verboten für ihr Territorium Druck machte und als Vorbild fungiert. Kaum eine Veranstaltung der vielen Anti-Lärm-Bürgerinitiativen, zu der nicht ein Protagonist der Alpenrepublik eingeladen wird. Warum, erklärt Karl Weis von der Bürgerinitiative Oberwesel:
"Die Schweiz ist in verschiedener Hinsicht unser Verbündeter. Die Schweiz hat bei sich durchgesetzt, dass Schienenlärm drastisch zu reduzieren ist. Das wird in der Schweiz aber auch sauber exekutiert. Das ist hier nicht der Fall. Hier hat man das Gefühl, dass man immer wieder hingehalten wird, dass aber nicht an Lösungen gearbeitet wird."
Anwohner glauben der Bahn nicht
Von wegen hinhalten – DB Cargo liege mit der Umrüstung der Güterwagen im Zeitplan, meint der Konzernbevollmächtigte Klaus Vornhusen:
"Und dann wird es für die Bürger auch für die letzten lauten Wagen, die heute noch fahren, eine große Beruhigung sein, dass man nur noch leise Güterzüge hat. Natürlich wird man die aber noch weiter hören."
Sarah Scheer, die Trassen-Anwohnerin in Niederlahnstein, hat aber ganz und gar nicht den Eindruck, dass nur noch vereinzelt laute Güterzüge fahren. Im Gegenteil:
"Wir haben das Gefühl, dass es von Mal zu Mal immer lauter wird. Gerade das letzte dreiviertel Jahr sind die Bremsgeräusche so immens laut geworden, dass man sich tatsächlich draußen nicht mehr unterhalten kann. Auch wenn man nah aneinander steht, muss man die Gespräche unterbrechen, um abzuwarten, bis der Bahn-Zug irgendwann mal durchgefahren ist. Das kann unter Umständen 40, 50 Sekunden dauern, sogar anderthalb Minuten, je nach Länge des Zuges."
Lärmmessungen liefern ernüchternde Ergebnisse
Auf der anderen Rheinseite in Oberwesel fahren Personenzüge zwischen Mainz und Koblenz, aber auch Güterzüge. Karl Weis, Vize-Chef der Bürgerinitiative "Zukunft trotz Bahn":
"Wir haben Messungen, was das Thema Lärm betrifft, permanent gemacht. Wir wissen, dass die Bahn mittlerweile 87 Prozent ihrer Güterwagen umgestellt hat und wir gehen davon aus, dass dieser Anteil jetzt auch schon lärmreduziert durch das Tal rollt. Was wir aber sehen, ist zumindest am Messpunkt Oberwesel, dass bei gleichem Zugaufkommen der Lärm nicht gesunken ist. Marginal vielleicht im Bereich von einem Dezibel, aber nicht im Bereich der versprochenen zehn Dezibel."
Das bestätigt das rheinland-pfälzische Landesamt für Umwelt fürs Frühjahr 2020.
Die Bahn selbst beweist, dass es besser ginge
Jörg Lanius, der Oberweseler Winzer und Bürgerinitiativen-Vorsitzende, kritisiert:
"Die sogenannte Flüsterbremse ist nicht der aktuelle technische Stand. Das ist der Stand von 30, 40 Jahren. Der aktuelle Stand ist wie bei jedem Personenwagen oder beim Lkw eine Scheibenbremse am Rad. Allerdings ist diese Technik natürlich deutlich teurer. Aber sie wirkt bei den neuen Personenzügen. Die summen nur so vorbei, damit können wir gut leben, die sind überhaupt kein Problem."
Es gibt auch Güterzüge, die so leise surren. Einer davon ist der firmeneigene Zug des Ludwigshafener Chemieriesen BASF, der mit explosivem Gefahrgut dicht an den Orten vorbeifährt. Ein Problem. Aber lärmtechnisch ist der Konzern Vorreiter, so Lanius.
Zugverkehr nimmt immer weiter zu
Immer mehr Züge donnern durch das enge Mittelrheintal – bis zu Pandemiebeginn waren es 400 bis 500 täglich. Auch die Ladung wird immer schwerer und die Wagenreihen immer länger. All das macht zusätzlich Krach.
Ist also das Schienenlärmschutzgesetz das Papier nicht wert, auf dem es steht? Die Länder wollen die Minderungseffekte kontrollieren. Ulrike Höfken, grüne Umweltministerin von Rheinland-Pfalz, fordert, "dass es ein Monitoring gibt, das die ganze Entwicklung beobachtet und immer wieder dafür sorgt, dass das Ganze eine wirksame und tatsächliche Lärmminderung gibt."
Doch wie, wenn international immer mehr Waren von der Straße auf die Schiene gebracht werden? Der neue Ceneri-Basistunnel im Tessin geht im Dezember in Betrieb. Er komplettiert dann gemeinsam mit St.-Gotthard- und Lötschberg-Basistunnel die Neue Eisenbahn-Alpen-Transversale durch die Schweiz.
Zuglängen von 750 Metern Länge
Damit entsteht eine gerade Linie zwischen dem Mittelmeerhafen Genua und dem Nordseehafen Rotterdam. Die Achse gilt als Quantensprung beim Versuch, Lkw-Staus aufzulösen und klimaschädliches Kohlendioxid einzusparen. Willi Pusch führt die Bürgerinitiative Mittelrhein gegen Umweltschäden durch die Bahn und weiß, was jetzt kommt:
"Nach und nach erhöht sich der Verkehr. Die Züge werden 150 Meter länger. Wir haben jetzt Züge von 600 Metern und die werden auf 750 Meter anwachsen."
Ladungen von bis zu 2.100 Tonnen pro Zug dürften Lärm, Erschütterungen, Schäden an der Bausubstanz und Unfallgefahren vervielfachen. Der prognostizierte Zuwachs auf 700 Züge pro Tag ist für Logistiker eine Verheißung. Doch absolut nicht für die Bewohner des engen Mittelrheintals. Anders als der Schwerlast-Straßenverkehr dürfen die Güterzüge auch nachts mit Tempo 100 durch die Ortschaften donnern.
Mehr, mehr, mehr
Weitere internationale Projekte erhöhen den Güterverkehr, weiß Pusch. Die chinesischen Mehrheitseigner bauen den Tiefseehafen Piräus in Athen aus. Der griechische Containerhafen gehört zu den weltweit am stärksten wachsenden. Und:
"Der Brenner-Basistunnel ist 2026 fertig. Das heißt, von Piräus kommen dann ebenfalls Güterzüge durch den Kosovo durch, durch den Brenner Richtung Deutschland, und da werden wir unseren Teil von abbekommen."
Die Bürgerinitiativen verlangen daher eine Geschwindigkeitsbegrenzung von 70 Stundenkilometern für Güterzüge. Die Bahn lehnt das ab, denn das lege auch den Personenverkehr lahm. Zu viele Überholstrecken habe die Deutsche Bahn in den vergangenen Jahren abgebaut, kontern die Lärmgeplagten.
Könnte ein Tunnel helfen?
Fortschritt in einem anderen Punkt verkündet der Konzernbevollmächtigte Rheinland-Pfalz und Saarland auf der Bürgerversammlung in Niederlahnstein: Das Bundesverkehrsministerium habe die mehrfach verschobene Machbarkeitsstudie für eine Tunnel-Umgehung des Mittelrheintals ausgeschrieben. Doch mit schnellen Ergebnissen rechnet Klaus Vornhusen nicht:
"Wenn ich es richtig verstehe, werden in der Untersuchung Varianten geprüft, und ich muss so geduldig sein, bis Ende nächsten Jahres gesagt wird, welche Variante am plausibelsten ist."
Experten haben die plausibelste Variante längst benannt, kontern die Bürgerinitiativen. Seit Jahren fordern sie die knapp 110 Kilometer lange Ausweichstrecke zwischen Bonn und Mainz, in Teilen parallel zur ICE-Trasse Köln-Frankfurt durch Westerwald und Taunus. Mutmaßliche Kosten: neun Milliarden Euro. Aber tauglich, um das Rheintal vom mörderischen Transitverkehr auf der Schiene zu entlasten, so Franz Breitenbach, Aktivist aus Bad Hönningen nördlich von Koblenz:
"Das heißt, dass der Tunnel 600 bis 700 Züge am Tag aufnehmen könnte, alles andere könnte ja durch das Rheintal weiterfahren wie bisher, dann wäre das Rheintal wieder lebenswert, und vielleicht würde sich die Wirtschaft im Rheintal dann langsam wieder erholen."
Nur "potentieller" Bedarf im Plan des Bundes
Im Bundesverkehrswegeplan 2030 steht die Strecke, aber nur unter potentiellem, nicht unter vordringlichem Bedarf. Roger Lewentz wohnt in Kamp-Bornhofen selbst an der lauten Trasse. Der langjährige Innenminister, mit zuständig früher für Verkehr, heute für Landesplanung, stellt sich auf der Niederlahnsteiner Bürgerversammlung an die Seite der Initiativen. Warum der Sozialdemokrat in knapp zehn Jahren keinen Fortschritt beim Tunnelprojekt bewirkt hat, das er selbst favorisiert? Lewentz attackiert die Bundespolitik:
"Weil das CSU-geführte Verkehrsministerium sich dem seit Jahr und Tag verweigert. Das ist nicht mehr zumutbar, es ist gefährlich in diesem Tal. Wir sind eine Industrienation, der Zuwachs an Fracht wird hier nicht zu bewältigen sein. Man muss die Entscheidung jetzt treffen."
Auch das Alpenmassiv wurde untertunnelt
Fiele sie bald, so glaubt Aktivist Willi Pusch, dann könnte der Tunnel mit Hilfe des neuen Planungsbeschleunigungsgesetzes in weniger als zwei Jahrzehnten fertig sein. Vertrösten lassen wollen sich Bürgerinitiativen und Lokalpolitik nicht mehr. Minister Lewentz nimmt das Ergebnis der Machbarkeitsstudie für die Untertunnelung von Taunus und Westerwald vorweg:
"Machbar ist das. Ich war mit den Bürgerinitiativen im Gotthard-Tunnel, wir haben uns das vor Ort angeschaut. Wenn man das Alpenmassiv untertunneln kann, dann kann man das auch bei uns hinbekommen."