Mobilität für alle
Der Europa-Parlamentarier Michael Cramer (Bündnis90/Grüne) wünscht sich mehr Einsatz der Bundesregierung für den öffentlichen Nahverkehr. Die Daseinsvorsorge müsse für alle gelten.
Dieter Kassel: Wir beschäftigen uns in dieser Woche hier im Deutschlandradio Kultur schwerpunktmäßig mit Infrastruktur, mit der Bedeutung von Infrastruktur für Deutschland, und natürlich auch mit dem Zustand. Wir haben gestern vor allen Dingen über Bauen und Wohnen geredet. Heute gibt es einen guten Grund, um sich über Verkehrsinfrastruktur, vor allen Dingen über den öffentlichen Verkehr zu unterhalten, denn heute beraten die Verkehrsminister des Bundes und der Länder in Berlin über die Finanzierung des öffentlichen Regionalverkehrs.
Michael Cramer ist der Vorsitzende des Verkehrsausschusses im Europäischen Parlament, kommt seit 1979 ohne Auto klar und ist seit Langem Verkehrsexperte der Grünen. Guten Morgen, Herr Cramer.
Michael Cramer: Schönen guten Morgen!
Kassel: Ich hatte vorhin schon so ein Beispiel: Wenn ein Herr Müller auf dem Land wohnt und da fährt kein Bus und kein Zug, dann hat Herr Müller ein Problem. Aber hat dann wirklich nur Herr Müller ein Problem?
Cramer: Nein, es wird immer gesagt, dann muss er öfter mit dem Auto fahren, weil kein Zug fährt und weil die öffentliche Infrastruktur zum großen Teil abgebaut wurde. Deshalb ist er auf das Auto angewiesen. Und im ländlichen Bereich ist das Auto auch manchmal die ökologischere Sache, denn wenn ich zu dritt im Doppeldeckerbus sitze, dann ist das nicht ökologisch.
Kassel: Nun verhandeln die Länder und der Bundesverkehrsminister heute über Geld. Verteilung, Zuschüsse, alles klar, und die Bundesländer, die besonders viele Einwohner haben, sagen, wir wollen das Geld, das wir kriegen vom Bund für den öffentlichen Regionalverkehr neu verteilen. Bayern und Nordrhein-Westfalen zum Beispiel sagen, wir brauchen mehr als die anderen. Klingt doch logisch: Wo viele Menschen wohnen, braucht man auch mehr Nahverkehr.
Cramer: Ja, aber zunächst mal ist es so, dass der Bund dafür da ist, die Daseinsvorsorge zu sichern. Deshalb kann man nicht sagen, in Mecklenburg-Vorpommern, da wohnen wenig Leute, deshalb bauen wir da die Schiene ab und machen das doppelte Angebot in Nordrhein-Westfalen. Nein, die Daseinsvorsorge gilt für alle, egal, ob sie in dicht besiedelten oder in weniger besiedelten Gebieten wohnen. Und das muss neu organisiert werden. Und das Abschaffen dieser Unterstützung – früher war ja der Bund für den Regionalverkehr im Schienenwesen zuständig – dieses Geld haben die Länder bekommen, und das muss vielleicht neu geregelt werden, aber es wurde ja abgeschafft.
Kassel: Das heißt, öffentlicher Nahverkehr überall, auch in dünn besiedelten Gebieten, ist für Sie quasi auch eine Frage der Freiheit und der Demokratie?
"Ohne Mobilität ist man von der Gesellschaft abgekoppelt"
Cramer: Ja, natürlich. Ohne Mobilität ist man von der Gesellschaft abgekoppelt, wer sich die Mobilität nicht leisten kann. Das gibt es aber auch in Städten, zum Beispiel diejenigen, die sich kein Auto mehr leisten können, aber auch nicht den immer teurer gewordenen öffentlichen Nahverkehr. Die sind aus der Gesellschaft ausgeschlossen – das darf nicht sein.
Kassel: Aber das klingt immer so ein bisschen, als sei der öffentliche Nahverkehr für einen gewissen Rest der Gesellschaft. Müsste unser Ziel nicht sein, auch die Leute, die sich ein Auto leisten können, in den Bus und auf die Schiene zu kriegen?
Cramer: Natürlich, da müssen wir uns anstrengen, Angebote zu machen. Ich komme aus Berlin, da hat jeder zweite Haushalt kein Auto. Ich bin kein Exot, dass ich seit 1979 ohne Automobil bin, das ist jeder zweite Haushalt. Und 90 Prozent der Haushalte in Berlin sind nur fünf Minuten per Fuß von der nächsten Haltestelle von Bus, U-Bahn oder Straßenbahn entfernt. Das ist doch wunderbar. Da müssten wir optimieren, damit möglichst viele mit öffentlichem Verkehr fahren. Das dient nicht nur der Mobilität, sondern auch dem Stopp des Klimawandels.
Kassel: Es gibt aber Experten, die sagen, gerade in einem Land wie Deutschland, wo die Bevölkerung abnehmen wird in den nächsten Jahren und Jahrzehnten, ist es absolut unrealistisch, auch auf dem flachen Land öffentlichen Nahverkehr zur Verfügung zu stellen. Wir müssen da andere Lösungen finden, so was ist nicht finanzierbar.
Straßen werden nicht zurück gebaut
Cramer: Also, öffentlicher Nahverkehr, da gehört ja viel zu. Einmal, nicht finanzierbar: Wir haben seit der Bahnreform 20 Prozent der Bahnstrecken abgebaut, der Schienenstrecken. Aber ich kenne keine einzige Straße, die zurück gebaut wurde, weil da kein Verkehr ist. Dasselbe Problem der wenigen Frequentierung haben wir auch auf der Straße, aber da gibt es die Diskussion nie. Auch die Straßen kosten Geld, wie wir nicht zuletzt durch die Brücke in Leverkusen wissen, über den Rhein, die eben gesperrt wird.
Kassel: Das ist eine interessante Frage mit dem Straßenrückbau. Das klingt natürlich, gerade in Deutschland, erst mal verrückt. Aber gerade gestern habe ich gelesen, dass es ausgerechnet in Nordrhein-Westfalen, kein dünn besiedeltes Land, nach gewissen Berechnungen zu viele Straßen gibt in einigen Regionen. Würden Sie da wirklich sagen, diese Straßen geben wir auf?
Cramer: Bei der Schiene wäre das kein Thema. Was nicht genutzt wird, müssen wir überlegen, ob wir es weiter instand halten, denn Instandhaltung kostet Geld. Wir haben in den letzten 20 Jahren, 30 Jahren, ohne Rücksicht auf Verstand immer mehr investiert in neue Straßen, ohne zu wissen, dass wir das, was wir haben, erhalten müssen. Und das bräuchten wir. Ich kann Sie daran erinnern, Hans-Jochen Vogel hat damals als junger Oberbürgermeister in München zum Beispiel gesagt, 1972, vor 42 Jahren: "Das Auto mordet unsere Städte. Wer Straßen sät, wird Verkehr ernten". Wenn wir das befolgt hätten und hätten eine andere Linie eingeschlagen, den öffentlichen Verkehr gefördert, dann wären wir weiter. Denn wir wissen, in den Städten, 70 Prozent der klimaschädlichen Emissionen werden durch den Verkehr verursacht. Aber wir wissen auch, und das ist eine Zahl vom Peter Ramsauer, dass 90 Prozent aller Autofahrten in den Städten kürzer als sechs Kilometer sind. Und wenn wir da einen guten öffentlichen Nahverkehr hätten, könnten wir so viel Geld sparen, dass wir auch in den dünn besiedelten Regionen den öffentlichen Verkehr garantieren könnten.
Kassel: Wenn heute verhandelt wird zwischen den Verkehrsministern von Bund und Ländern, dann werden wahrscheinlich vor der Tür in Berlin Menschen stehen und protestieren, Mitarbeiter der Bahn nämlich. Es ist ja tatsächlich so, dass in den Fernverkehr in der Bahn schon noch ein bisschen was gesteckt wird, das ist ein wichtiges Projekt auch für das kommerzielle Unternehmen Bahn AG, aber wo steht denn unser Regionalverkehr, der ja, das muss man immer wieder erklären, das entscheidet nicht die Bahn, wie viel da fährt, das bestellen die Länder. Wo steht der Verkehr?
Die Fahrgastzahlen sind gestiegen
Cramer: Der Verkehr hat sich seit der Bahnreform natürlich enorm verbessert. Die Fahrgastzahlen sind gestiegen. Aber sie sind dort gestiegen, im stiefmütterlichen Regionalverkehr. Im Fernverkehr haben wir seit 1994 zwar 80 Milliarden investiert, aber, weil das Angebot nicht so gut ist, wurden die Fahrgastzahlen etwas gesenkt. Wir haben also 80 Milliarden investiert und kaum Erfolge gehabt. Deshalb müssen wir umkehren in den Regionalverkehr. Und da erhebt die Bahn immer höhere Trassenpreise, immer höhere Stationspreise, dass viele Verkehrsverbünde schon 60 Prozent ihrer Gelder, die sie eigentlich haben, um den Betrieb aufrechtzuerhalten, für die Stations- und Trassenpreise aufbringen müssen. Das ist verrückt. Und mittlerweile müssen einige sogar schon bestimmte Bahnlinien abbestellen, weil sie das Geld nicht mehr haben. Auf der einen Seite gibt der Bund also den Ländern das Geld, auf der anderen Seite holt er sich über die Stations- und Trassenpreise das Geld zurück. Das ist verrückt, aber traurige Realität. Das muss sich ändern.
Kassel: Aber der Bund will ja gerne einen ausgeglichenen Haushalt haben. Die meisten Länder sind davon zwar weit entfernt, wollen aber eigentlich auch. Könnte man nicht – es ist ja nicht so, dass der Nahverkehr zusammenbricht im Moment bei uns – könnte man nicht sagen, wir lassen es jetzt, wie es ist, sparen ein bisschen und können uns immer noch in drei, vier Jahren drum kümmern?
Cramer: Nein, das reicht nicht. Wir müssen das ändern, denn die Länder brauchen ja auch eine Sicherheit, die brauchen eine finanzielle Sicherheit für die Zukunft. Und das war ja Kurt Steinbrück – die hatten ja die blöde Idee, praktisch diese Regionalisierungsmittel abzuschaffen. Das muss gestoppt werden, die Länder brauchen Planungssicherheit, und natürlich dann auch die Unternehmen. Und natürlich, zuletzt, wegen der Arbeitsplätze. Ich will Ihnen auch noch eines sagen: Seit der Bahnreform sind 250.000 Arbeitsplätze bei der Bahn abgebaut worden. Da redet keiner drüber.
Kassel: Sie sind Europapolitiker. Gibt es ein gesamteuropäisches Nahverkehrskonzept, das Deutschland helfen kann?
Cramer: Nein, ein gesamteuropäisches nicht, aber für Infrastruktur gibt es Unterstützung mit EU-Geldern. Aber der Bund hat auch in seinem operationellen Programm, hat der den Nahverkehr, den öffentlichen Nahverkehr nicht einbezogen. Das heißt, dann können auch die Bundesländer oder die Städte und Kreise keine EU-Gelder für die Infrastruktur beantragen. Da ist Spanien besser, da sind andere Länder besser. Das sollte sich die Bundesregierung überlegen: Warum diskriminiert sie den öffentlichen Nahverkehr, der für die Daseinsvorsorge wichtig ist, aber auch um den Stopp des Klimawandels. Denn ohne eine Veränderung der Mobilität werden wir den Klimawandel nicht stoppen. Ich will Ihnen dazu eine Zahl nennen: In der Industrie haben wir seit 1990 eine Senkung der CO2-Emissionen um 34 Prozent erreicht. Im Verkehr sind sie im selben Zeitraum um 28 Prozent gestiegen. Das heißt, der Verkehr frisst all das auf, was in anderen Regionen mit Milliarden unserer Steuergelder erreicht wurde.
Kassel: Sagt der Grünen-Politiker und Vorsitzende des Verkehrsausschusses im Europäischen Parlament, Michael Cramer, in unserem "Interview des Tages". Herr Cramer, ich danke Ihnen sehr.
Cramer: Ich danke Ihnen auch!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.