„Da kann man nichts mehr sagen", empört sich ein Kundenbetreuer der Niederbarnimer Eisenbahn, der anonym bleiben möchte. "Das ist einfach nur hirnrissig.“ Er arbeitet auf der Regionalbahnlinie 63, der sogenannten Schorfheide-Bahn, auf dem Abschnitt zwischen Joachimsthal und Templin. Die Stadt in der Uckermark ist vor allem bekannt dafür, dass Ex-Kanzlerin Angela Merkel dort ihre Jugend verbracht und ihr Wochenendhaus hat.
Das Land Brandenburg will den Probebetrieb auf der Linie zum Fahrplanwechsel im Dezember 2022 einstellen.
Im Dezember 1898 fährt die Schorfheide-Bahn das erste Mal die 30 Kilometer zwischen Joachimsthal und Templin. 2006 wurde sie eingestellt, Ende 2018 jedoch wieder reaktiviert. Damals hatte man auf rund 300 Fahrgäste am Tag gehofft. Aktuell liegen die Zahlen bei täglich rund 100 Reisenden. Das ist der Grund, weshalb die Bahn ihren Probetrieb Ende des Jahres einstellt.
Stiefkind Regionalverkehr
Man solle mal die Fakten etwas nüchtern sehen, sagte Mitte Mai im Brandenburger Landtag Rainer Genilke, CDU. Er ist der Staatssekretär im Landesverkehrsministerium. „Derzeit ist die Zugverbindung unattraktiv, weil sie genauso lange dauert wie mit dem Bus.“ Er wolle mal damit aufräumen zu glauben, dass nur das ein guter öffentlicher Verkehr sei, der über die Schiene läuft. „Da haben wir uns getäuscht.“
Der Amtsdirektor der Gemeinde Joachimsthal, der Christdemokrat Hans-Joachim Blomenkamp, kann diese Logik nicht nachvollziehen: „Wenn man die Verkehrswende will, die Verkehre auf die Schiene bringen will, macht es natürlich wenig Sinn, den Dieselbus nebenher tuckern zu lassen.“ Da müsse man als Politik ehrlich sein und sagen, was man wolle. Ihn ärgere, dass der Regionalverkehr immer als Stiefkind der Bahn behandelt werde: „Verkehrswende ja – Regionalverkehre werden eingestellt. Ein Widerspruch in sich.“ Der Jurist Blomenkamp könne Menschen verstehen, die letztlich sagen: „Ich setze mich lieber ins Auto.“ Denn er weiß: Angebot schaffe Nachfrage, diese Logik müsse endlich auch bei den Verantwortlichen ankommen.
1898 fuhr die Schorfheide-Bahn das erste Mal die 30 Kilometer zwischen Joachimsthal und Templin. 2006 wurde sie eingestellt, Ende 2018 wieder reaktiviert. Ende des Jahres soll es sie erneut nicht mehr geben. © Deutschlandradio / Christoph D. Richter
Der Betrieb der Schorfheide-Bahn kostet nach Angaben des Brandenburger Verkehrsministeriums für den Abschnitt zwischen Joachimsthal und Templin jährlich 2,2 Millionen Euro. Um die Strecke dauerhaft und sinnvoll zu betreiben, müsse zunächst in die Schieneninfrastruktur investiert werden, heißt es. Momentan könnten aufgrund des maroden Streckenzustandes weitgehend nur 40 bis 60 Stundenkilometer gefahren werden. Um das zu ändern, müssten – inklusive der Sicherungstechnik – rund 40 Millionen Euro investiert werden. Viel Geld, weshalb man immer die Frage nach der Wirtschaftlichkeit stellen müsse, heißt es im Potsdamer Verkehrsministerium.
Petition mit 5000 Unterschriften
Die Menschen vor Ort hingegen schütteln verständnislos mit dem Kopf angesichts des Vorhabens, zum Jahresende den Probebetrieb der Schorfheidebahn einzustellen. Nicht nur Berufspendler sind auf den Zug angewiesen, auch Schülerinnen und Schüler. Eine 16-Jährige sagt: „Für mich ist er sehr wichtig, weil ich fast jeden Tag nach Berlin fahre. Und weil ich da zur Schule gehe.“ Dass man die Menschen von der Regionalbahn abkoppelt, finde sie doof. Dann brauche man auch kein Neun-Euro-Ticket für die Bewohner auf dem Land einführen.
Der Nordostdeutsche Bahnkundenverband hat vor vier Wochen eine Petition zum Erhalt der Bahn gestartet und binnen kürzester Zeit mehr als 5000 Unterschriften eingesammelt.
Scharfer Gegenwind für die Brandenburger Pläne kommt jetzt auch aus dem Bundestag in Berlin. Brandenburger Abgeordnete von SPD, Grünen und FDP kritisieren in einem gemeinsamen Schreiben das vorläufige Aus der Schorfheide-Bahn. Wörtlich heißt es:
Gerade für die Verkehrswende im ländlichen Raum, wo um jede Verkehrsanbindung gerungen wird, um den Menschen vor Ort einen Zugang zu Mobilität zu gewährleisten, wäre dies ein falsches Signal. Mit der Existenz eines Grundangebots als Teil der Daseinsvorsorge zeigt sich nicht nur die ökologische, sondern auch die soziale Wirkung der Verkehrswende.
Wo eine fahrtüchtige Schiene liegt, solle auch ein Zug fahren, heißt es weiter.
Wenn man mit der RB-Linie 63 durch das Unesco-Biosphärenreservat Schorfheide-Chorin fährt, geht es – etwa 50 Kilometer nordöstlich von Berlin – durch eine sanft wellige idyllisch-romantische Gegend, vorbei an Strohballen, Feldern, kristallblauen Seen und Wäldern.
Ende des 19. Jahrhunderts wurde die Strecke vom Kaiser eingeweiht. Für Wochenendausflügler aus der Großstadt ist sie eine Bereicherung – für die Bewohner in der Region eine Notwendigkeit.
Umweltverkehr von 40 auf 60 Prozent
Um zu verstehen, welche Bedeutung Bahnverbindungen in der Uckermark haben, dazu lohnt ein Blick in die Statistik. Im Barnim – also dort, wo die Schorfheide-Bahn noch fährt – leben etwas mehr als 75.000 sozialversicherungspflichtig Beschäftigte. Von ihnen pendeln exakt 41.904, also mehr als die Hälfte, zur Arbeit in einen anderen Landkreis. Nachzulesen ist das in der
Pendler-Statistik der Bundesagentur für Arbeit. Viele nähmen das Auto, auch weil die Bahnverbindungen suboptimal seien, sagt Peter Cornelius vom Fahrgastverband Pro Bahn:
„Wenn eine Bahn schon fährt und ein Zug, mit welchem Antrieb auch immer, darauf fährt – natürlich sollte dieser Antrieb möglichst nicht Diesel sein –, dann sollte man aus meiner Sicht alles Mögliche tun, die Fahrgastzahlen zu erhöhen.“
Um das touristische und tägliche Pendlerpotenzial der Schorfheide-Bahn besser auszuschöpfen, müssten der Parallelverkehr mit Bussen, ungünstige Taktungen und Langsamfahrstrecken beseitigt werden. Zugausfälle wegen Personalmangels müssten deutlich reduziert werden. Aber die Kommunen müssten auch etwas tun, sagt Bahnfahrer Cornelius. Sie sollten „denjenigen Leuten, die von ihrem Wohnort zum Bahnhof pendeln wollen, am Bahnhof gute und sichere Unterstellmöglichkeiten für Fahrräder anbieten.“
Auch das grün-schwarz regierte Baden-Württemberg arbeitet an der Verkehrswende und will alte Bahnstrecken wieder flott machen. Bis 2030 sollen doppelt so viele Menschen Bus und Bahn fahren, so das Ziel.
In Oberschwaben ist bereits ein kleiner Zug im Probebetrieb unterwegs, der große Hoffnungen weckt: die sogenannte Biber-Bahn zwischen den Kleinstädten Mengen und Stockach auf dem Weg Richtung Bodensee. Dank der Gemeinden und Ehrenamtlicher fährt der Zug sonn- und feiertags. Ende des Jahres soll es eine Machbarkeitsstudie geben. Das Land finanziert einen Großteil der Kosten für ingesamt 20 solcher Streckenstudien.
Katharina Thoms war mit der Biber-Bahn unterwegs
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Bundesweit ist das Streckennetz seit der Bahnreform 1994, also der Fusion von Bundesbahn und Reichsbahn, um mehr als 5.000 Kilometer geschrumpft. 540 Kilometer hat man seit den 90er-Jahren in Brandenburg stillgelegt, seit 2019 nach Angaben der Bahn davon nur acht Strecken-Kilometer reaktiviert. Jetzt will man bis 2024, so steht es im Koalitionsvertrag, den Anteil des sogenannten Umweltverkehrs, also Fuß-, Rad- und öffentlicher Verkehr, von 40 auf 60 Prozent steigern.
"Die Schorfheide-Bahn muss bleiben"
Wie das mit der Bahn gehen soll? Für Uwe Lux-Machtemes, der an der Strecke wohnt, ist das ein Rätsel. „Ich würde es richtig finden, gerade in den Zeiten, wo die Energie deutlich teurer wird, dass die Strecke bleibt, dass die Züge durchgehend bis Templin fahren.“
Zusammen mit seiner Frau lebt der gebürtige Duisburger im denkmalgeschützten und fast originalgetreu erhaltenen Kaiserbahnhof in Joachimsthal. Wie er genießt auch seine Frau Ingrid, direkt vorm Haus in die Bahn steigen zu können. Sie sagt ganz klar und mit einem Lachen: „Die Schorfheide-Bahn muss bleiben. Unbedingt. Wer anders denkt, ist doof“.