Verkehrte Welt

Von Eberhard Straub · 14.09.2010
Mut und Unerschrockenheit gehörten nie zu den bürgerlichen Tugenden. Beides wurde vom Soldaten und Aristokraten verlangt. Der Bürger zahlte Steuern und fügte sich den Gesetzen, in der Erwartung, dass der Staat als Gegenleistung für öffentlichen Ruhe und Sicherheit sorgen werde.
Der Bürger musste keine Selbstverteidigungskurse besuchen oder sich darin üben, möglichst geschickt bei Störungen auf Straßen, in Bahnhöfen oder in Eisenbahnen zu reagieren. Die Polizei, sein Freund und Helfer, und andere Ordnungshüter nahmen ihm das ab. Darauf konnte er sich verlassen. Die Zeiten des Faustrechtes waren gottlob überwunden.

Ruhe ist des Bürgers erste Pflicht, wie es 1806 nach der Niederlage von Jena und Auerstedt in Berlin hieß. Das meinte, den Anweisungen der französischen Besatzungsmacht zu folgen, die jetzt die staatlichen Hoheitsrechte wahrnahm, und nicht etwa an Ungehorsam und Selbstgerechtigkeit zu denken. Die heute so heftig geforderte Zivilcourage stand unter dem Verdacht der Willkür. Den Begriff gab es deshalb damals noch gar nicht.

Der Staat zieht weiterhin Steuern ein und verlangt alle möglichen Abgaben, aber er hat sich längst der Verpflichtung entzogen, die öffentliche Sicherheit zu gewährleisten. Schließlich ist er mit dem "Krieg gegen den Terror" genug ausgelastet und mit der Überwachung seiner Bürger, um jene möglichst sofort aus dem Verkehr zu ziehen, die sich wegen einer Barttracht oder eines Kopfschmuckes verdächtig machen.

Die Polizei, einst als Schutzmann überall präsent, ist unsichtbar geworden. Bahnhöfe, Bahnen, Plätze und Straßen, sind nicht zu rechtsfreien Räumen geworden, aber zu Räumen, in denen sich das Faustrecht als gutes, altes Recht allmählich wieder durchsetzt. Unter dem Beifall der Politiker und Rechtssetzer, die mahnen, Zivilcourage zu zeigen – also wenn es sein muss, mit den Fäusten die Ordnung zu schützen und vor Angriffen zu bewahren.

Gerade ist ein solcher Faustkämpfer zum Vorbild erhoben worden, dem wir alle nacheifern sollen. So hatte der Bürger einst nicht gewettet, als er sich dem Staat eingliederte und unterwarf. Er wollte gerade der Mühe enthoben sein, für seine Sicherheit und die seiner Mitbürger zu kämpfen. In der Absicht, Raufereien aus dem Wege zu gehen, zeigt sich keineswegs Mangel an Zivilcourage. Darin äußert sich nur ein Appell der Steuerzahler – ruhiger Bürger – an den Staat, seinen Verpflichtungen nachzukommen, eine relative Ruhe und Ordnung zu garantieren.

Im Übrigen hatte Zivilcourage, als das Wort um 1835 in Paris aufkam, nichts mit Selbstjustiz oder Selbsthilfe zu tun. Paris war gewiss keine ungefährliche Stadt, aber die Polizei war allgegenwärtig, und irgendwelche Unregelmäßigkeiten wurden rasch behoben, ohne den bürgerlichen Lebensgenuss irgendwie nachhaltig einzuschränken. Zivilcourage beruhte noch nicht auf Muskelkraft oder dem Vermögen, als ein geschickter Regisseur bei Auseinandersetzungen im öffentlichen Raum aufzufallen.

Sie sollte als geistige Kraft wirken, um Bequemlichkeiten, Opportunismus, Korruption und Vetternwirtschaft bloßzustellen und in ihrer Macht einzuschränken. Schillers Marquis Posa – auch über Verdis Oper – veranschaulichte diese Unabhängigkeit, Selbstständigkeit und den Mut, den beides verlangt. Dessen Forderung im Gespräch mit Philipp II. "Geben Sie Gedankenfreiheit" resümierte, was einmal unter Zivilcourage, bevor dies Wort überhaupt aufkam, verstanden wurde.

Von diesem Mannesmut vor Königsthronen ist heute nicht mehr die Rede. Verständlicherweise, weil jeder, der einmal ein öffentliches Amt übernehmen möchte, vorsichtig seine Karriere planen muss und sich nur auf Mutproben einlassen kann, wenn er eine Mehrheit hinter sich weiß, die er zuvor geschickt arrangierte. Jeder ehrgeizige Streber wäre verloren, bewiese er Mut.

Gemeinsam sind wir stark, mit Kumpanen und politisch immer Korrekten. Die Politiker in ihrer ganz eigenen Parallelgesellschaft fahren im Dienstwagen an der Wirklichkeit vorbei und rufen den in ihr Befangenen zu: "Seid mutig! Trainiert! Greift ein! Schafft Sicherheit! Aber vergesst nicht, Steuern zu zahlen und uns zu wählen!" Früher – es war einmal, wie im Märchen – hätte man das die verkehrte Welt genannt.

Eberhard Straub, geboren 1940, studierte Geschichte, Kunstgeschichte und Archäologie. Der habilitierte Historiker war bis 1986 Feuilletonredakteur der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und bis 1997 Pressereferent des Stifterverbandes für die Deutsche Wissenschaft. Heute lebt er als freier Journalist in Berlin. Buchveröffentlichungen: u.a. "Die Wittelsbacher", "Drei letzte Kaiser", sowie "Das zerbrechliche Glück. Liebe und Ehe im Wandel der Zeit" und "Zur Tyrannei der Werte".
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