Verklärter Blick auf den deutschen Bauernhof
Es gibt sie - die deutsche Dorfforschung. Gerhard Henkel, Professor für Humangeographie, hat dazu in dem Buch "Das Dorf" eine 500.000-jährige Historie verfasst. Zudem beschreibt er trotz Kritik die Vorzüge der ländlichen Gemeinschaft.
Henkel ist emeritierter Professor für Humangeographie, gilt als Nestor der deutschen Dorfforschung und lebt selbst von Kindesbeinen an in einem Dorf. Seinen reichen Erfahrungsschatz hat er in einem umfangreichen Werk zusammengefasst, dessen Fazit überraschend optimistisch ausfällt:
"Die Chance und Besonderheit des ländlichen Raumes liegt in den kleinen überschaubaren Einheiten: der Familie, der Nachbarschaften, der Vereine, der Kirchengemeinde, des Dorfes und der Region. Lassen wir uns anstecken von dieser Zuversicht!"
Henkel will mit diesem Aufruf keineswegs das Landleben verklären. Aber er macht auch keinen Hehl daraus, dass er trotz aller negativen Symptome der dörflichen Entwicklung als Betroffener Partei ergreift und für mehr Anerkennung der ländlichen Region wirbt.
Und man lässt sich tatsächlich gerne anstecken: Über 300 Fotos, Karten und Grafiken visualisieren sein Anliegen.
Motiviert von der bunten Bilderpracht, steigt man in die etwa 500.000 Jahre alte Geschichte des Dorfes ein und erfährt zunächst Altbekanntes – zum Beispiel, dass es die "gute alte Zeit" kaum gegeben hat, stattdessen extreme Armut, Leibeigenschaft, Abhängigkeit von Klerus und Adel, blutige Bauernaufstände oder bedrohliche Naturgewalten.
Zwar sind auch Phasen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Aufschwungs dokumentiert. Doch erst im 19. Jahrhundert, als die Ideen der Aufklärung auch das Land erreichten, gelang den Bauern die Befreiung aus ihren mehrfachen Abhängigkeiten.
Weniger bekannt ist, dass insbesondere das Dorf erhebliche Beiträge zur Geschichte der europäischen Zivilisation geleistet hat und selbst – neben der Stadt – ein Erfolgsmodell der europäischen Kulturgeschichte ist. So war schon im 18. Jahrhundert die politische Selbstverwaltung auf dem Lande weit vorangeschritten.
Sie umfasste u.a. die dörfliche Infrastruktur sowie die Wasser- und Energieversorgung. Und auch die heute viel gepriesene Idee der Genossenschaft haben wir dem Dorf zu verdanken.
"Genossenschaften gehörten zu jedem mittelgroßen Dorf wie die Kirche oder Schule. Sie sind typisch ländliche Einrichtungen der wirtschaftlichen Selbsthilfe."
Ohne sie hätte das Dorf nach Meinung Gerhard Henkels den Übergang von der klassischen Agrargesellschaft zur modernen Industriegesellschaft nicht schaffen können.
Für die politische Selbstverwaltung des Dorfes war die zunehmende Marktorientierung ein entscheidender Rückschlag, der im Westen durch die kommunalen Gebietsreformen der letzten Jahrzehnte noch unterstützt wurde.
"Mit der Gebietsreform ist die große Mehrheit der westdeutschen Dörfer zu ohnmächtigen ’Ortsteilen’ abgesunken (schon dieser oft gebrauchte, vom Wortsinn aber falsche Begriff zeigt die Diskriminierung). Die Konsequenz der nun fehlenden lokalen Selbstbestimmung ist der politisch nicht mehr gefragte und daher inaktive Dorfbürger. Für den ländlichen Raum, aber auch für den Staat insgesamt hat die Gebietsreform somit einen gewaltigen Demokratieverlust bewirkt."
Zwischen 1965 und 1976 fielen etwa 16.000 Gemeinden dem so genannten "Konzept der zentralen Orte" zum Opfer; das sind zwei Drittel aller westdeutschen Dörfer.
Aber es gab auch "Rebellendörfer" beziehungsweise "Protestgemeinden" wie Emmershausen in Unterfranken oder Horgau in Bayern, die erfolgreich für ihre Eigenständigkeit gekämpft haben – was die Dörfler zusammengeschweißt und zu einem Aufblühen des lokal-politischen Lebens geführt hat.
Aber Dorf ist nicht gleich Dorf. In zahlreichen Gemeinden wird der Alltag nicht von "Aktivkultur" bestimmt – also von dem, was auch als "soziales Kapital" bezeichnet wird, sondern von Überalterung, Abwanderung und mangelnder Infrastruktur. Deshalb wird Gerhard Henkel nicht müde zu betonen, dass er mit seinem Buch nicht weniger als die Quadratur des Kreises versucht und man von dem Dorf schlechthin gar nicht sprechen kann.
Und genau das macht die Lektüre irgendwann einmal ermüdend. Denn in seinem Bemühen, mehr Licht als Schatten zu sehen, spricht Gerhard Henkel Probleme nur oberflächlich an, spielt sie immer wieder herunter, anstatt sie zu analysieren – und gelangt zu Allgemeinplätzen wie:
"Insgesamt haben die vielfältigen Fortschritte der modernen Landtechnik zu einer gewaltigen Steigerung und Verbesserung der landwirtschaftlichen Produktion geführt."
Dass etwa beim Stichwort "Produktivitätssteigerung" die Auswüchse der Massentierhaltung nur am Rande erwähnt werden, ist ärgerlich.
Mehr als ärgerlich ist, dass Gerhard Henkel nicht einmal ein einziges Wort verliert über den Kampf, den auf dem Markt der Pflanzen- und Saatgutzüchter Kleinbauern und kleinere Agrarunternehmen gegen Biotechnikkonzerne wie Monsanto, Syngenta, Bayer und BASF führen.
Ebenso schweigt er sich aus über die Proteste der Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft AbL gegen den Anbau gentechnisch veränderter Pflanzen zum Beispiel in Sachsen-Anhalt.
Was ist mit den Zehntausenden von Saisonarbeitern aus Rumänien oder Polen, die ab März zur Spargelernte kommen und nach Erdbeer-, Wein-, Apfel- und Möhrenernte erst im November wieder zurückkehren? Ohne sie läuft in deutschen Agrarbetrieben wenig bis gar nichts.
Dessen ungeachtet liegt der Stundenlohn im Durchschnitt bei knapp über sechs Euro. Brutto. Auch diese Wanderarbeiter kommen bei Henkel nicht vor.
Selbst ein auf den ersten Blick harmloses Kapitel wie der Exkurs über die Darstellung des Landlebens in Literatur, Malerei und Film führt nach wenigen Absätzen zum ratlosen Kopfschütteln. Eduard Mörike wird zitiert, auch Georg Büchner, Adalbert Stifter und Gottfried Keller.
Aber dann gibt es eine große Lücke, vielmehr einen gewaltigen Sprung von der Zeit um 1900 mitten hinein in die 1960er Jahre. Hoppla, wo ist denn Hermann Böhme geblieben, wo Hermann Claudius? Wo die völkische Blut-und-Boden-Literatur des "Dritten Reiches", in der die Dorfgemeinschaft als nationalsozialistischer Mikrokosmos propagiert wird?
Doch muss man Gerhard Henkel eines zugute halten: Schon im Vorwort nimmt er jeglicher Kritik an seinen Auslassungen, Relativierungen und Verallgemeinerungen den Wind aus den Segeln.
"Tatsächlich könnte über jedes der 60 Kapitel ein dickes Buch geschrieben werden."
Hätte er es doch getan. Oder besser noch, weil weniger mitunter mehr ist: Hätte Gerhard Henkel doch auf ein paar Redundanzen verzichtet, die Anzahl der erwähnten Dörfer um mindestens die Hälfte reduziert, die Vielzahl der Themen besser zugespitzt und Widersprüche ausgelotet anstatt sie zu nivellieren – es wäre sicherlich ein "Genuss" gewesen, das Buch zu lesen.
Und "Genuss" wiederum – so haben wir es bei Gerhard Henkel gelernt – ist eng verbunden mit der Geschichte des Dorfes.
Gerhard Henkel: Das Dorf. Landleben in Deutschland – gestern und heute
Konrad Theiss Verlag
"Die Chance und Besonderheit des ländlichen Raumes liegt in den kleinen überschaubaren Einheiten: der Familie, der Nachbarschaften, der Vereine, der Kirchengemeinde, des Dorfes und der Region. Lassen wir uns anstecken von dieser Zuversicht!"
Henkel will mit diesem Aufruf keineswegs das Landleben verklären. Aber er macht auch keinen Hehl daraus, dass er trotz aller negativen Symptome der dörflichen Entwicklung als Betroffener Partei ergreift und für mehr Anerkennung der ländlichen Region wirbt.
Und man lässt sich tatsächlich gerne anstecken: Über 300 Fotos, Karten und Grafiken visualisieren sein Anliegen.
Motiviert von der bunten Bilderpracht, steigt man in die etwa 500.000 Jahre alte Geschichte des Dorfes ein und erfährt zunächst Altbekanntes – zum Beispiel, dass es die "gute alte Zeit" kaum gegeben hat, stattdessen extreme Armut, Leibeigenschaft, Abhängigkeit von Klerus und Adel, blutige Bauernaufstände oder bedrohliche Naturgewalten.
Zwar sind auch Phasen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Aufschwungs dokumentiert. Doch erst im 19. Jahrhundert, als die Ideen der Aufklärung auch das Land erreichten, gelang den Bauern die Befreiung aus ihren mehrfachen Abhängigkeiten.
Weniger bekannt ist, dass insbesondere das Dorf erhebliche Beiträge zur Geschichte der europäischen Zivilisation geleistet hat und selbst – neben der Stadt – ein Erfolgsmodell der europäischen Kulturgeschichte ist. So war schon im 18. Jahrhundert die politische Selbstverwaltung auf dem Lande weit vorangeschritten.
Sie umfasste u.a. die dörfliche Infrastruktur sowie die Wasser- und Energieversorgung. Und auch die heute viel gepriesene Idee der Genossenschaft haben wir dem Dorf zu verdanken.
"Genossenschaften gehörten zu jedem mittelgroßen Dorf wie die Kirche oder Schule. Sie sind typisch ländliche Einrichtungen der wirtschaftlichen Selbsthilfe."
Ohne sie hätte das Dorf nach Meinung Gerhard Henkels den Übergang von der klassischen Agrargesellschaft zur modernen Industriegesellschaft nicht schaffen können.
Für die politische Selbstverwaltung des Dorfes war die zunehmende Marktorientierung ein entscheidender Rückschlag, der im Westen durch die kommunalen Gebietsreformen der letzten Jahrzehnte noch unterstützt wurde.
"Mit der Gebietsreform ist die große Mehrheit der westdeutschen Dörfer zu ohnmächtigen ’Ortsteilen’ abgesunken (schon dieser oft gebrauchte, vom Wortsinn aber falsche Begriff zeigt die Diskriminierung). Die Konsequenz der nun fehlenden lokalen Selbstbestimmung ist der politisch nicht mehr gefragte und daher inaktive Dorfbürger. Für den ländlichen Raum, aber auch für den Staat insgesamt hat die Gebietsreform somit einen gewaltigen Demokratieverlust bewirkt."
Zwischen 1965 und 1976 fielen etwa 16.000 Gemeinden dem so genannten "Konzept der zentralen Orte" zum Opfer; das sind zwei Drittel aller westdeutschen Dörfer.
Aber es gab auch "Rebellendörfer" beziehungsweise "Protestgemeinden" wie Emmershausen in Unterfranken oder Horgau in Bayern, die erfolgreich für ihre Eigenständigkeit gekämpft haben – was die Dörfler zusammengeschweißt und zu einem Aufblühen des lokal-politischen Lebens geführt hat.
Aber Dorf ist nicht gleich Dorf. In zahlreichen Gemeinden wird der Alltag nicht von "Aktivkultur" bestimmt – also von dem, was auch als "soziales Kapital" bezeichnet wird, sondern von Überalterung, Abwanderung und mangelnder Infrastruktur. Deshalb wird Gerhard Henkel nicht müde zu betonen, dass er mit seinem Buch nicht weniger als die Quadratur des Kreises versucht und man von dem Dorf schlechthin gar nicht sprechen kann.
Und genau das macht die Lektüre irgendwann einmal ermüdend. Denn in seinem Bemühen, mehr Licht als Schatten zu sehen, spricht Gerhard Henkel Probleme nur oberflächlich an, spielt sie immer wieder herunter, anstatt sie zu analysieren – und gelangt zu Allgemeinplätzen wie:
"Insgesamt haben die vielfältigen Fortschritte der modernen Landtechnik zu einer gewaltigen Steigerung und Verbesserung der landwirtschaftlichen Produktion geführt."
Dass etwa beim Stichwort "Produktivitätssteigerung" die Auswüchse der Massentierhaltung nur am Rande erwähnt werden, ist ärgerlich.
Mehr als ärgerlich ist, dass Gerhard Henkel nicht einmal ein einziges Wort verliert über den Kampf, den auf dem Markt der Pflanzen- und Saatgutzüchter Kleinbauern und kleinere Agrarunternehmen gegen Biotechnikkonzerne wie Monsanto, Syngenta, Bayer und BASF führen.
Ebenso schweigt er sich aus über die Proteste der Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft AbL gegen den Anbau gentechnisch veränderter Pflanzen zum Beispiel in Sachsen-Anhalt.
Was ist mit den Zehntausenden von Saisonarbeitern aus Rumänien oder Polen, die ab März zur Spargelernte kommen und nach Erdbeer-, Wein-, Apfel- und Möhrenernte erst im November wieder zurückkehren? Ohne sie läuft in deutschen Agrarbetrieben wenig bis gar nichts.
Dessen ungeachtet liegt der Stundenlohn im Durchschnitt bei knapp über sechs Euro. Brutto. Auch diese Wanderarbeiter kommen bei Henkel nicht vor.
Selbst ein auf den ersten Blick harmloses Kapitel wie der Exkurs über die Darstellung des Landlebens in Literatur, Malerei und Film führt nach wenigen Absätzen zum ratlosen Kopfschütteln. Eduard Mörike wird zitiert, auch Georg Büchner, Adalbert Stifter und Gottfried Keller.
Aber dann gibt es eine große Lücke, vielmehr einen gewaltigen Sprung von der Zeit um 1900 mitten hinein in die 1960er Jahre. Hoppla, wo ist denn Hermann Böhme geblieben, wo Hermann Claudius? Wo die völkische Blut-und-Boden-Literatur des "Dritten Reiches", in der die Dorfgemeinschaft als nationalsozialistischer Mikrokosmos propagiert wird?
Doch muss man Gerhard Henkel eines zugute halten: Schon im Vorwort nimmt er jeglicher Kritik an seinen Auslassungen, Relativierungen und Verallgemeinerungen den Wind aus den Segeln.
"Tatsächlich könnte über jedes der 60 Kapitel ein dickes Buch geschrieben werden."
Hätte er es doch getan. Oder besser noch, weil weniger mitunter mehr ist: Hätte Gerhard Henkel doch auf ein paar Redundanzen verzichtet, die Anzahl der erwähnten Dörfer um mindestens die Hälfte reduziert, die Vielzahl der Themen besser zugespitzt und Widersprüche ausgelotet anstatt sie zu nivellieren – es wäre sicherlich ein "Genuss" gewesen, das Buch zu lesen.
Und "Genuss" wiederum – so haben wir es bei Gerhard Henkel gelernt – ist eng verbunden mit der Geschichte des Dorfes.
Gerhard Henkel: Das Dorf. Landleben in Deutschland – gestern und heute
Konrad Theiss Verlag