Verklemmte Jahre in Friedberg

08.10.2013
Auch in seinem dritten Roman begibt sich Andreas Maier auf die Spuren einer Kindheit in den 1970er-Jahren – sein Thema ist das erwachende sexuelle Interesse des zwölfjährigen Andreas, für den die Aufklärungsbriefe des Dr. Sommer in der "Bravo" zur Bibel werden. Das Buch ist ein höchst aufschlussreiches Sittenporträt der Zeit.
Der 1967 in Bad Nauheim geborene Andreas Maier betreibt in seinem mehrere Bände umfassenden Romanprojekt über die Wetterau eine besondere Form von Heimatkunde. Er ruft den Ort Friedberg in Erinnerung, der durch eine Ortsumgehungsstraße droht, vernichtet zu werden. Begonnen hat Maier das Vorhaben mit dem Roman "Das Zimmer" (2010). Es folgte 2011 "Das Haus" und nun liegt mit "Die Straße" der dritte Teil vor. In allen drei Teilen ist es "Problemandreas", der sich auf die Spuren seiner Kindheit und Jugend begibt.

Im neuen Roman kommt etwas zur Sprache, wofür es in der Zeit, als Maiers zentrale Figur pubertierte, keine Sprache gab. Als der Erzähler etwa zwölf Jahre alt ist, eröffnen sich ihm nach ersten, durchaus unschuldigen Einblicken in die Geschlechterwelt immer überraschendere und tiefer gehende Eindrücke.

Niemand aber spricht mit ihm darüber. Die Sprache, mit der sich bezeichnen ließe, was einen Pubertierenden zu interessieren beginnt, ist abwesend. Für das, was er sieht, fehlt es an Worten. Da man aber der Tatsache, dass es zwei Geschlechter gibt, nicht aus dem Weg gehen kann – geradezu aufmüpfig drängt sie sich ebenso wie das eigene Geschlecht ins Blickfeld –, wird der Erzähler zum naiven Zeugen. Er registriert, was es an Staunenswertem gibt.

Vertrieben aus einem paradiesischen Zustand der Unschuld scheint kein Weg an der Lust und an der Begierde vorbeizuführen. Dabei erweist sich die "Bravo" als Bibel. Denn in diesem Jugendmagazin stehen die Worte, an denen in der Sprache der Erwachsenen so großer Mangel herrscht. Das Jugendmagazin und insbesondere Dr. Sommer – zuständig für den Aufklärungsteil – übernimmt eine Stellvertreterrolle, wenn es zur Sprache bringt, was sonst ungesagt bleibt. Den Eltern ist es sehr recht, dass sie "damit" nichts zu tun haben. Sie müssen nichts bereden, sondern lediglich aufpassen, dass ihre Kinder nicht praktizieren, worüber die "Bravo" unterrichtet.

Aufbrechende Gefühle, für die es keine Worte gibt
Die Schwester von Maiers Protagonist bringt eines Tages einen amerikanischen GI mit nach Hause. Aber allein lässt man beide nicht. Mit Argusaugen werden sie vom sittenstrengen Vater bewacht. Zu dritt sehen sie schließlich fern, wobei keiner Gefallen an dem findet, was er sieht und jeder an etwas ganz anderes denkt.

Das Buch ist ein höchst aufschlussreiches Sittenporträt der Zeit. Seine komischen Momente ergeben sich aus den unschuldigen Blicken des Zwölfjährigen, die der Autor kommentiert, ohne sich auf das Erkenntnis- und Sprachniveau seines jugendlichen Helden zu begeben. Der Junge schaut auf die Generation seiner Eltern, die damals etwa so alt waren, wie der Autor heute, der sich in die Rolle dessen begibt, der er einmal war.
Kaum etwas, worüber in dem Buch gesprochen wird, hat sich so ereignet und dennoch ist Maiers lesenswerter Roman autobiografisch. Ihm geht es bei seiner Erkundungsarbeit um das "Atmosphärische". Die von ihm angelegte Textstraße führt zu einzelnen Häusern und in sehr verschiedene Wohnungen.

Es gibt auffällige Unterschiede, die der jugendliche Held registriert. Aber nicht zu übersehen sind auch die Gemeinsamkeiten. Friedberg ist auffällig anständig und nur die Auffälligen, die, die anders sind, sind mit einem Makel behaftet. Seltsam verklemmt und unterdrückt wird ein Thema, das vorhanden ist und sich in den Vordergrund drängt. Es bahnt sich schließlich über Männermagazine und Pornofilme seinen Weg. Das ist das Problem, dem ausgewichen wird, indem der zum Problem gemacht wird, dem es auffällt.

Besprochen von Michael Opitz

Andreas Maier: Die Straße
Suhrkamp Verlag, Berlin 2013
193 Seiten, 17,95 Euro