Sprecher*innen: Cathlen Gawlich, Anika Mauer, Frank Arnold
Regie: Klaus-Michael Klingsporn
Ton: Hermann Leppich
Redaktion: Dorothea Westphal
Verlage entdecken vergessene Bücher
Daniel Brühl (l.) als Escherich und Brendan Gleeson als Otto in einer Szene von „Jeder stirbt für sich allein“. Der Roman von Hans Fallada wurde 2016 neu verfilmt. © dpa / X-Verleih / Christine Schroeder
Neues von gestern
29:50 Minuten
Spätestens seit dem Welterfolg von Hans Falladas "Jeder stirbt für sich allein" gehören literarische Wiederentdeckungen zum festen Bestandteil vieler Verlagsprogramme. Doch es gibt auch Verlage, die sich auf Neuveröffentlichungen spezialisieren.
Fernsehserien wie "Babylon Berlin" oder Bücher wie Hans Falladas Widerstandsroman "Jeder stirbt für sich allein" rücken in Zeiten von Fake News und Demokratieskepsis die 1920er, -30er und -40er Jahre wieder in den Fokus. Es sind Filme und Bücher, die zeigen, was passiert, wenn demokratische Strukturen brüchig werden und eine menschenverachtende Ideologie nach und nach die Gesellschaft durchdringt.
Hexenkessel der späten 20er
"Wir haben dort den Hexenkessel der späten 20er. Wir haben Ideologien, Lebenseinstellungen, die sich gegenseitig widersprechen, aber alle in diesem Melting Pot Berlin miteinander eine friedliche Koexistenz suchen, die dann aber doch nicht so friedlich ist auf den zweiten Blick."
Das sagt der Wiener Verleger Albert C. Eibl über den Roman "Leben verboten" von Maria Lazar aus dem Jahr 1932, der zu seinen erfolgreichsten literarischen Wiederentdeckungen gehört: "Wir haben bürgerkriegsähnliche Zustände. Wir haben Weltangst. Wir haben Zukunftsängste, Lärm, einen Weltkrieg, der schon am Firmament der Geschichte zu ahnen ist."
Etwa zeitgleich zur Fallada-Wiederentdeckung begannen kleine Verlage wie der "DVB-Verlag" von Albert C. Eibl, Bücher vergessener Autorinnen und Autoren aus jenen Jahren erneut zu publizieren. Es sei wichtig, Romane aus dieser Zeit zu lesen, meint Eibl, weil man aus solchen Zeitzeugnissen mehr als aus Geschichtsbüchern erfahre.
Neu und ungewöhnlich ist, dass sich Verlage darauf spezialisieren. Was sagt das über unsere Gegenwart? Eibl findet auch, "dass es durchaus eine Lesebewegung gibt hin zum Vergessenen, also dass die Sehnsucht für alte Bräuche, alte Tradition, alte Texte in diesem Zeitalter der digitalen Schnelllebigkeit, auch ein bisschen des oberflächlichen Nihilismus durchaus stärker wird".
Vergessene Bücher
Der Name seines Verlags war von Anfang an Programm. DVB steht für "Das vergessene Buch". Inspiriert wurde Eibl von einem seiner Professoren, der in einer Vorlesung über vergessene österreichische Schriftstellerinnen der Zwischenkriegszeit unter anderem über die jüdische Autorin Maria Lazar und deren expressionistischen Debütroman "Die Vergiftung" sprach. Dessen Neuauflage war der Beginn des Ein-Mann-Betriebs.
Das positive Presseecho war für Albert C. Eibl ein "Glücksfall". Nach der Erstveröffentlichung, die von einem väterlichen Kredit finanziert wurde, konnte er weitere Bücher herausbringen – unter anderem Romane von Else Jerusalem und Marta Karlweis. Warum jüdische Autorinnen, die durch den Nationalsozialismus ins Exil getrieben wurden, nach 1945 in Österreich so gründlich in Vergessenheit geraten sind, darüber kann der Jungverleger nur mutmaßen:
"Mittlerweile weiß man ja auch, dass der Nationalsozialismus hier sehr gut gelitten war und dass eine größere Mehrheit der österreichischen Bevölkerung eher für den Anschluss war als gegen den Anschluss. Und solche Dinge werden da auch zum Tragen kommen, vielleicht auch eine gewisse Nachlässigkeit. Immerhin innerhalb von Deutschland haben wir schon ab den 60er-, 70er-Jahren eine Tendenz, dass man vergessene Autoren wiederentdeckt. Ich kann als Kleinverleger hier wirklich noch eine gewisse bahnbrechende Pionierarbeit sozusagen leisten, indem ich mir wie ein Trüffelschwein der Literatur sozusagen die spannenden Texte ausgrabe."
Prägnante Milieustudien
Auch bei der neuesten Wiederentdeckung des "DVB Verlages" handelt es sich um eine vergessene jüdische Autorin. Grete Hartwig-Manschinger ist mit ihrem Mann, dem Komponisten Kurt Manschinger, 1938 vor den Nazis nach London geflohen und von dort zwei Jahre später in die USA ausgereist. In ihrem einzigen Roman "Rendezvous in Manhattan", der 1948 im Wiener Rudolf Czerny Verlag erschienen ist, beschreibt sie das Elend des proletarisch-migrantischen Milieus in New York.
"Was mich bei dem Hartwig-Manschinger-Roman fasziniert hat", erzählt Eibl, "sind diese kurzen, prägnanten, psychologisch raffinierten Milieustudien, (…) und natürlich auch Einblicke in dieses proletarische New York der 1930er, -40er Jahre, sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz zum Beispiel."
Inzwischen muss der Verleger seine Bücher oft gar nicht mehr selbst entdecken, sie werden ihm angetragen, erzählt Eibl:
"Ich bekomme verschiedene Tipps und wähle dann praktisch aus und prüfe das auch ziemlich genau. Ist dieser Text wirklich zu Unrecht vergessen? Kann ich den noch gewinnbringend für den Leser und für den Verlag wiederentdecken? Hat das ein Lesepublikum? Oder gibt es vielleicht Gründe, warum man den jetzt nicht mehr wiederentdecken sollte?"
Wie auf dem Flohmarkt
"Das ist ja ein bisschen wie beim Flohmarktgehen", sagt Peter Graf: "Man findet irgendetwas und das findet man erst mal schön oder interessant. Und dann will man mehr darüber erfahren, und so habe ich mich auch immer auf die Suche nach bestimmten Texten begeben."
Peter Graf ist einer von vier Verlegern, die 2017 den Verlag "Das kulturelle Gedächtnis" ins Leben gerufen haben. Viele Jahre lang hat er Gegenwartsliteratur verlegt, doch er möchte, wie er sagt: "Unabhängig von irgendwelchen Geldgebern oder von irgendwelchen größeren Strukturen die Sachen machen, die ich mache. Und deshalb konzentriere ich mich jetzt fast ausschließlich auf diese Wiederentdeckungen."
Der Verlag mit dem ebenfalls programmatischen Namen "Das kulturelle Gedächtnis" hat seinen Sitz in einem kleinen Ladenbüro im Berliner Bezirk Prenzlauer Berg. In hohen Holzregalen, in denen noch viel Platz ist, stehen Bücher, die Peter Graf und seine Mitstreiter, Tobias Roth, Thomas Böhm und Carsten Pfeiffer, in den vergangenen Jahren herausgebracht haben – Schriften von Voltaire und Erasmus von Rotterdam, eine Sammlung zur Gartenstadtbewegung, oder ein Roman über das Leben osteuropäischer Juden im Berliner Scheunenviertel der 1920er-Jahre. Eine ziemlich bunte Mischung also.
Eine beglückende Mischung
"Es gibt halt auch unterschiedliche Interessen", erzählt Graf. "Das Großartige an dieser Art, miteinander Bücher zu verlegen, ist, dass eben all unser Wissen da einfließt und wir gemeinsam dann dieses Programm machen. Das ist tatsächlich sehr beglückend."
Seine bislang erfolgreichste Wiederentdeckung hat Peter Graf allerdings nicht im Verlag "Das kulturelle Gedächtnis" herausgegeben. Der Roman "Der Reisende" von Ulrich Alexander Boschwitz ist 2018 bei Klett-Cotta erschienen und wurde mittlerweile in 28 Sprachen übersetzt. Manchmal reichten die Vertriebsstrukturen eines Kleinverlages einfach nicht aus, um einem Buch die ihm gebührende Aufmerksamkeit zu verschaffen, erklärt Peter Graf.
"´Der Reisende`", so Graf weiter, "ist die früheste literarische Auseinandersetzung mit den Novemberpogromen. Und Boschwitz, selbst Jude, der schon auf der Flucht war, als dieses Buch entstand, schildert halt fiktional, aber sehr nah an den Geschehnissen das Schicksal eines Kaufmanns, der aus seiner Wohnung vertrieben wird."
Susanne Kerckhoffs "Berliner Briefe"
Auf Susanne Kerckhoff stieß Peter Graf bei einer Recherche im Archiv der Akademie der Künste. Ihr Buch, das im "Literarischen Quartett" in den höchsten Tönen gelobt wurde, stammt aus dem Jahr 1948 und heißt schlicht "Berliner Briefe". Darin setzt sich die damals 30-jährige, aus einem bürgerlich-liberalen Milieu stammende Autorin mit der Schuld der Deutschen am Nationalsozialismus auseinander – auch mit der eigenen. Zwei Jahre später beging sie Suizid und geriet in Vergessenheit.
Graf erzählt: "Ich habe mir dann besorgt, was es von ihr noch antiquarisch zu lesen gab, ‚Die verlorenen Stürme‘, die ‚Berliner Briefe‘, Lyrik, was es so gab, und hab dann eben entschieden, zusammen mit meinen Mitstreitern, dass wir zuerst die ‘Berliner Briefe‘ machen. Und das ist dann eben auch immer die Frage: Was ist der beste Türöffner? Und das waren in dem Fall eindeutig die ‚Berliner Briefe‘, wo wir das Gefühl hatten, das kann viel Aufmerksamkeit bekommen. Und so war es dann auch."
Finnischer Nobelpreisträger
Das Ladenbüro des Guggolz Verlages befindet sich in einer ruhigen Seitenstraße von Berlin-Schöneberg. Schon von Weitem sieht man die blauen Tür- und Fensterrahmen, die farbigen, liebevoll gestalteten Bücher und Plakate des Ein-Mann-Verlages von Sebastian Guggolz. Die Bücher, die hier verlegt werden, stammen von verstorbenen und größtenteils vergessenen Autoren und Autorinnen aus nord- und osteuropäischen Ländern, zum Beispiel von dem finnischen Nobelpreisträger Frans Eemil Sillanpää, mit dem Sepastian Guggolz 2014 sein Verlagsprogramm startete, wie er erzählt:
"Da war Finnland Gastland bei der Buchmesse in Frankfurt. Und ich war mir sicher, dass die Rechte schon vergeben sind. Ich habe dann aber einfach mal bei dem Originalverlag angefragt. Und dann sagte der, nein, es hätte noch niemand sich um diese Rechte gekümmert. Und das war natürlich ein Glücksfall für mich. In jedem Artikel über den Gastlandauftritt stand dann: Und dann gibt es diesen kleinen neuen Verlag, und der hat den einzigen finnischen Nobelpreisträger. Das war natürlich toll."
Übersetzungen ohne Patina
Bevor sich Sebastian Guggolz mit seinem Verlag selbstständig machte, hatte er als Lektor bei "Matthes & Seitz" gearbeitet. Das Startkapital bekam er von der Hausbank seiner Eltern. Als es aufgebraucht war und der Verlag sich noch immer nicht selbst trug, bewarb sich Guggolz bei der ZDF-Samstagabendshow "Quizchampion 2015" mit Johannes B. Kerner und gewann 250.000 Euro. Seitdem ist es für den Verleger leichter, vier bis fünf Wiederentdeckungen von hierzulande meist unbekannten Autorinnen und Autoren rauszubringen und dafür Übersetzungen in Auftrag zu geben, ohne auf Förderungszusagen zu warten. Denn auf eines legt Sebastin Guggolz größten Wert: Alle seine Bücher sind Erst- oder Neuübersetzungen.
Guggolz sagt: "Übersetzungen sind natürlich immer auch Übersetzungen in eine gewisse Zeit hinein, und deswegen altern auch Übersetzung und kriegen dann Patina. Und deswegen ist es für mich entscheidend, weil ich eben die Leser und Leserinnen unmittelbar ansprechen möchte, dass ich Neuübersetzung mache.
Es gibt immer ein aktuelles Nachwort, das das Buch einordnet, auch aus heutiger Perspektive. Das ist wirklich ganz wichtig, dass ich Bücher mache für die jetzige Zeit."
Erfolg mit dem finnischen Roman "Die Vögel"
Hinrich Schmidt-Henkel wurde im Frühjahr 2021 für seine im Guggolz Verlag erschienene Übersetzung von Tarjei Vesaas Roman "Die Vögel" aus dem Norwegischen für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert und erzählt: "Ich arbeite wahnsinnig gern mit Sebastian Guggolz zusammen, der ist ständig auf der Pirsch nach eben älteren Autorinnen und Autoren, die es wieder zu entdecken lohnt."
Bei Übersetzungen von älteren Werken stellt sich für Hinrich Schmidt-Henkel auch die Frage: Wie sehr muss die Übersetzung dem heutigen Sprachgebrauch entsprechen, um nicht verstaubt zu wirken und eine heutige Leserschaft anzusprechen, und wie modern darf sie sein, um nicht die Atmosphäre der Entstehungszeit zu zerstören?
Eine beinahe zeitlos wirkende, poetische Klarheit zeichnet Hinrich Schmidt-Henkels Übersetzung von Tarjei Vesaas‘ Roman "Die Vögel" aus, der die Wirklichkeit aus der Perspektive eines in seiner eigenen Welt lebenden Außenseiters zeigt. Über die Zeitlosigkeit seiner Sprache macht sich der Übersetzer jedoch keine Illusionen, wie er sagt: "Meine Bemühungen, zeitlos zu schreiben, sind mit Sicherheit begrenzt in ihrer Wirkung. Und man wird in 20-30 Jahren sagen: Ja, ja, so haben die halt übersetzt Anfang des 21. Jahrhunderts. Das ist vollkommen normal und richtig. Es wird vielleicht auch dann wieder Neuübersetzungen solcher Texte geben."
Begeisterung und Entdeckergeist
"Deutscher Herbst" heißt die Wiederentdeckung des Guggolz Verlages aus dem Herbst 2021 – ein Buch des schwedischen Schriftstellers und Journalisten Stig Dagerman, der 1946 durch das zerstörte Deutschland reiste und seine Beobachtungen und Gedanken festhielt.
Guggolz ist begeistert von der literarischen Qualität des Buches, wie er sagt: "Es ist ein ganz starker literarischer Zugang. Er beschreibt aber auch einfach, was er sieht, also diese Prozesse, wo es darum ging, zu entscheiden, wie stark war derjenige in den Nationalsozialismus verwickelt – und inwiefern? Oder inwiefern wird er davon reingewaschen? Wie er das beschreibt, das hat ja fast schon dramatische Aspekte."
Dass literarische Wiederentdeckungen ein Publikum finden, haben passionierte Verleger in den vergangenen Jahren eindrucksvoll bewiesen. Ihrem Entdeckergeist ist es zu verdanken, dass Stimmen zu Unrecht vergessener Autorinnen und Autoren wieder gehört, und weiße Flecken auf der literarischen Landkarte gefüllt werden.
(DW)
Literaturhinweise:
Maria Lazar "Leben verboten!", DVB Verlag, 380 Seiten, 26 Euro
Grete Hartwig-Manschinger "Rendezvous in Manhattan", DVB Verlag, 288 Seiten, 24 Euro
Ulrich Alexander Boschwitz "Der Reisende", Klett-Cotta, 303 Seiten, 20 Euro
Susanne Kerckhoff "Die verlorenen Stürme", Verlag Das kulturelle Gedächtnis, 208 Seiten, 22 Euro
Tarjei Vesaas "Die Vögel", aus dem Norwegischen von Hinrich Schmidt-Henkel, Guggolz Verlag, 276 Seiten, 23 Euro
Stig Dagerman, aus dem Schwedischen von Paul Berf, Guggolz Verlag, 190 Seiten, 22 Euro