Alte Männer und junge Lämmer
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Tausende Dörfer in Spanien sind verlassen. Vor allem die Jungen und die Frauen ziehen in die Stadt, zurück bleiben alte Männer. Aber es gibt auch diejenigen, die sich hier eine Existenz aufbauen wollen, weil sie den Wert des Landlebens schätzen.
Zum Dorffest wird die Glocke noch von Hand geläutet. Das lassen sich Ricardo und Fortu nicht nehmen. Ricardo ist 77 Jahre alt und Fortu 92, und der Aufstieg über die morsche Holztreppe im Kirchturm gerät jedes Jahr wieder zur Zitterpartie. Aber das Geläut ist Ehrensache, da können die besorgten Familien protestieren, wie sie wollen. Tradition verpflichtet, findet Fortu. Das Dorffest von Diustes ist nun mal der Höhepunkt des Jahres.
"Ich komme ins Dorf rauf, so lange ich noch kann. 'Was bedeutet das Dorf für dich?' Freude, vor allem Freude. Und dann, mit meinen alten Freunden zusammen zu sein."
"Mi pueblo", mein Dorf. Das "pueblo" haben Spanier immer bei sich. Auch wenn sie in die Stadt ziehen - es bleibt ein Teil von ihnen. Ricardo kommt so oft es geht nach Diustes, um sein Elternhaus zu pflegen. Alle machen das hier so, sagt er.
"Wenn wir nicht mehr hierher zurückkommen würden – das wäre, als ob wir keine Luft zum Atmen mehr hätten."
Und doch leben sie längst alle woanders. In den Städten - da, wo es Arbeit gibt: in Madrid, Zaragoza oder in der Wein-Hochburg La Rioja. Seit mehr als 30 Jahren ist Diustes nur noch eine Art Teilzeit-Dorf. Ein Stück Heimat fürs Wochenende oder die Sommerferien.
Die Messe zum Dorffest hält Antonio Arroyo, den sie hier nur "Toño, el cura" nennen - Toño, der Pfarrer. 56 Gemeinden betreut Toño. An den Sonntagen heißt das für ihn: drei oder vier Messen im Stundentakt. Und in der Kirchenbank sitzt dann oft nicht mehr als eine Handvoll Menschen, meist Ältere. Aber es sind meine Menschen, sagt Toño. Hier zählt meine Arbeit. Sie mögen es, wenn einer nach ihnen schaut und auf sie aufpasst. Und ich mag sie.
"Die, die jetzt so um die paar-und-sechzig bis 80 sind, deren Leben ist von ganz harter Arbeit geprägt", sagt er. "Das hat sie sehr authentisch gemacht. Sie sind nicht so romantisch und sie haben weniger Flausen im Kopf als die Jüngeren. Es sind starke und ehrliche Leute. Und das ist es, was zählt."
Leben in der einsamsten Gegend Europas
Toños Dienstort liegt drei Autostunden nordöstlich von Madrid. Die Serranía Celtiberica, das keltiberische Bergland, ist etwa so groß wie Bayern. Ein riesiges Gebiet vom Norden Spaniens bis fast ans Mittelmeer, mit nur acht Einwohnern pro Quadratkilometer. Die Einheimischen nennen die Gegend "Spanisch Lappland". Und tatsächlich ist nur noch die Gegend um den Polarkreis ähnlich dünn besiedelt. Die Serranía Celtiberica ist die einsamste Gegend Europas.
Valloria, etwa eine halbe Autostunde von Diustes entfernt. Toño besucht Pedro Revilla. Pedro ist einer, der geblieben ist - er lebt mit seinem Bruder allein in Valloria. Gelegentlich kommen zwar – wie in Diustes - Heimkehrer fürs Wochenende oder für die Sommerferien. Aber abgesehen davon ist Valloria ein Zwei-Mann-Dorf.
Alles soll schick aussehen, wenn Besuch kommt
Toño plant mit Pedro die Sanierung der Kirche. Wenn die Menschen schon weg sind, soll wenigstens Erinnerung an ihre Geschichte bleiben. Außerdem legt Pedro Wert darauf, dass alles tipptopp aussieht, wenn im Sommer die Nachbarn von früher zu Besuch sind, da hat er seinen Stolz:
"Eine Kirchenruine mitten im Dorf – das geht gar nicht. Obwohl ich Freund Toño jetzt mal was beichten muss – ich bin eigentlich gar nicht so fromm. Als Messdiener haben wir immer dem Pfarrer den Wein weggetrunken."
Auch das Taufbecken soll aufgearbeitet werden. Eigentlich braucht es keiner mehr. Toño hat im Schnitt nur noch eine Taufe pro Jahr – und dafür 30 Beerdigungen. Er findet das aber nicht weiter schlimm. Es seien eben fast nur noch ältere Menschen hiergeblieben. Und dann kämen noch Verstorbene aus der Stadt dazu, die unbedingt im "Pueblo" ihre letzte Ruhe finden sollen.
"In der Stadt wird es immer anonymer. Aber die Menschen, die mit der Dorfkultur aufgewachsen sind, die sind es noch gewohnt, dass man sich um die Eltern kümmert. Und wenn die Eltern dann sterben, hat es auch etwas Tröstliches, sie zur Beerdigung in die Heimat zurückzubringen. Hier haben sie das alles noch: die Würde, die Nähe, die Zuneigung."
Pedro ist Schäfer, wie die meisten in der Gegend. Seine Herde würde er am liebsten verkleinern. Die Arbeit ist knüppelhart, sagt er, und sie wirft kaum noch etwas ab. Ohne Subventionen aus Brüssel könnte hier keiner überleben – aber Weggehen, wie die anderen, das ist für Pedro undenkbar.
"Ich kann nichts anderes. Was sollte ich sonst machen? Die jungen Leute haben es ja schon schwer genug. Wie sollte ich da noch was finden? Ich gehe hier in Rente."
Der Frauenmangel verschärft die Situation
Die Landflucht ist nicht neu. Sie hat schon in den 1950er Jahren begonnen - und die Frauen gingen als erste. Für sie gab es Arbeit in der Stadt. Als Dienstmädchen oder Putzfrau, später dann als Verkäuferin oder Lehrerin. Viele Männer dagegen hingen an der Landwirtschaft – und blieben. Der Frauenmangel hat das Problem der schleichenden Entvölkerung noch verschärft.
Die Zahl der Geburten ging zurück. Und im Lauf der Jahrzehnte gaben dann auch immer mehr Männer auf. Sie zogen den Frauen – und der Arbeit - hinterher. In ganz Spanien sind mittlerweile mehr als 3000 Dörfer komplett verlassen, weitere 1000 stehen auf der Kippe. Und hier, im nördlichen Hochland, ist das Problem am drängendsten.
Wieder eine halbe Autostunde weiter. In der Dorfschule von Yanguas besingen die Kleinen, die Drei- bis Sechsjährigen, mit Hingabe die Wochentage. Die Großen, acht bis zehn Jahre alt, müssen sich derweil allein beschäftigen. Sie schreiben an einem Aufsatz. Der Auftrag der Lehrerin: Beschreibe eine Kuh. Später, wenn sie mit den Kleinen fertig ist, wird sie mit den Großen die Arbeiten nochmal durchgehen. Neun Kinder werden so gemeinsam unterrichtet.
Im Stockwerk unter der Zwergschule teilt sich der Bürgermeister von Yanguas mit seiner Sekretärin ein Büro. Für José Rico geht jeden Sommer wieder das Zittern los. Dann muss er genau abzählen: Kommen nach den Ferien noch genug Kinder zusammen? Es müssen mindestens fünf sein, sonst machen die Behörden die Schule dicht.
"Du bist ständig davon abhängig, ob noch genug Familien mit Kindern hier bleiben, um die Schule offenzuhalten. Aber im Moment funktioniert es. Und die Kinder sind die große Freude unseres Dorfes. Die werden uns mal voranbringen."
Familien aus Marokko und Rumänien
José Rico geht bald in den Ruhestand. Als er 15 war, gab es nur noch eine Familie in Yanguas, seine. So soll es nie wieder werden, hat er sich geschworen. Jetzt sind acht der neun Schüler Migrantenkinder. Aber das ist völlig in Ordnung so, sagt der Bürgermeister. Er kämpft um jede Familie, und es ist ihm egal, ob sie aus Spanien, aus Marokko oder sonst woher kommt.
Einem rumänischen Ehepaar hat er eine Wohnung und einen günstigen Stall für dessen Schafherde vermittelt. Das war es ihm wert – schließlich brachten die beiden gleich drei Kinder für die Zwergschule mit:
"Uns fehlen doch ständig Leute. Wenn die Migranten in Ordnung sind und einfach nur arbeiten wollen, dann haben sie meinen Segen. Das ist doch gut für die Dörfer."
Elena Stan ist die rumänische Schäferin, die der Bürgermeister ins Dorf geholt hat. Mit Gepäck für fünf Tage bringt sie ihre beiden Älteren zum Schulbus. David und María sind mittlerweile aus der Zwergschule herausgewachsen. Und weil es in Yanguas keine höhere Schule gibt, pendeln sie in die nächste Kreisstadt. Dort schlafen sie unter der Woche in einem Wohnheim.
"Jetzt sehe ich sie bis Freitag nicht wieder", sagt Elena Stan. "Klar, dass mir das wehtut. Sie sind doch eigentlich noch klein."
"Als wir ankamen, hatte ich erst mal eine Depression"
Elena und ihre zotteligen kleinen Hirtenhunde sind ein eingespieltes Team. Manchmal kommt es ihr vor, als ob sie nie etwas anderes gemacht hätte. Elena liebt das: nur sie, die Hunde und die Schafe - und überall dieser Blick über die endlose Bergkette. Dabei war sie noch bis vor ein paar Jahren Krankenschwester in der Stadt und hatte mit Landleben nichts am Hut.
"Als wir hier ankamen, hatte ich die ersten Monate eine Depression" erinnert sie sich. "Keine Freunde, niemand zum Ausgehen, nichts. Dann wurde mein Mann ziemlich krank, und ich musste mit den Schafen allein raus. Das ging nur in ganz kleinen Schritten – mich ans Leben hier anzupassen.
Mihai Constantinescu, Elenas Mann, ist meistens im Stall, bei den Lämmern und den Mutterschafen. Eins ist gerade in den Wehen und tut sich schwer. Mihai beobachtet ganz ruhig und entscheidet dann: Das schafft die Mutter nicht allein. Zwei, drei Handgriffe, und das Lämmchen ist da. Mihai ist in Rumänien auf dem Land aufgewachsen. Als er in Spanien ankam, landete er erst mal in der Stadt - da, wo es Arbeit gab.
Aber so richtig warm ist er damit nie geworden: "Tiere waren schon immer meine Berufung. Vorher war ich Klempner, aber ein Mal bin ich mit meinem Auto in einer Herde steckengeblieben. Und die hat mich sofort fasziniert, mir hat das schon immer gefallen."
Sonntagnachmittag. Für Toño, den Pfarrer ist es die erste Pause des Tages. Zeit, sich mal einen Kaffee zu gönnen. Drei Gottesdienste hat er schon hinter sich. Jetzt muss er noch zu einem Fußballspiel, die Heimmannschaft anfeuern, dann hat er ein Seelsorge-Gespräch.
Keine Lust auf Endzeitstimmung
Seit 40 Jahren leistet Toño so "Dienst am Menschen", wie er es nennt. Auf Endzeitstimmung hat er keine Lust. Sicher, die Gegend ist entvölkert und überaltert. Aber in den Dörfern entdeckt er immer wieder neue, jüngere Gesichter. Familien, die sich hier eine Existenz aufbauen wollen.
"Sie sagen: Hier sind wir jetzt, und wir sind gekommen, um zu bleiben. Solche Kleinigkeiten werden natürlich nicht die Welt verändern. Aber mir macht es Hoffnung, dass wir hier doch so etwas wie eine Zukunft haben. Jemand hat mal gesagt: Bleiben heißt siegen."
Toño ist letztes Jahr 65 geworden. An Rente ist nicht zu denken. Er muss noch zehn Jahre arbeiten, bis 75 - das sind die Vorschriften der Kirche. Kein Problem, sagt er. So lange Körper und Geist mich nicht im Stich lassen, mach ich das gerne.
Wie war das nochmal? - Bleiben heißt siegen.