Verloren im Strudel im Zeit

Von Stefan Keim |
Mit "Zornig geboren" hat Armin Petras einen Text der Schweizer Theaterautorin Darja Stocker inszeniert. Darin wird das Engagement einer jungen Frau für afrikanische Flüchtlinge mit Szenen aus der Geschichte kontrastiert. Werner Fritsch versucht in "Bring mir den Kopf von Kurt Cobain" in die Gedankenwelt des Nirvana-Sängers einzutauchen.
Darja Stocker ist keine Schnellschreiberin. Zwei Jahre ist es her, dass ihr Debütstück "Nachtblind" Aufsehen erregte und ihr eine Einladung zu den Mülheimer Theatertagen einbrachte. Fast alle jungen Dramatikerinnen hätten zeitnah einen neuen Text nachgelegt, den frischen Ruhm genutzt, um sich zu etablieren. Darja Stocker ließ sich Zeit. Die Schweizerin - Jahrgang 1983 – ging nach Berlin und studiert dort szenisches Schreiben. Nun hat Armin Petras einen neuen Text von ihr bei den Ruhrfestspielen uraufgeführt, "Zornig geboren", ein Stück über den Sinn politischen Engagements, erzählt auf verschiedenen Zeitebenen.

Die Gegenwart: Eine junge Frau bricht mir ihrem Freund, einem Maler, auf, um afrikanischen Flüchtlingen zu helfen. Sie geraten in einen Albtraum aus Menschenverachtung und Tod. Frankreich während der Besatzung durch die Nazis: Die Oma der jungen Frau arbeitet für die Résistance, wird gefangengenommen, kommt in ein Konzentrationslager. Die französische Revolution: Olympe de Gouges streitet für die Frauenrechte und wird dafür guillotiniert. Die drei Handlungen nebst zahlreichen Unterhandlungen verschachtelt Darja Stocker nicht nach den erprobten Regeln der Hollywood-Dramaturgie. Sie nimmt in Kauf, dass manche Szenen unverständlich bleiben oder sich erst später erschließen. Der Text wirkt unfertig, fragmentarisch, es macht viel Mühe, sich durch ihn hindurchzubeißen.

Armin Petras wollte es den Zuschauern einfacher machen. Aber er verwirrt noch mehr. Alle Szenen spielen zwischen in Plastik zusammengepackten Wasserflaschen, die Schauspieler wechseln dauernd Maske und Kostüme, pudern sich die Gesichter und zwängen sich in Reifröcke für die Revolutionsszenen, sind im nächsten Moment Straßenhuren. Petras arbeitet mit Fotos, Videos und lauten Musikeinsätzen. Viel Emotionsschmiere für einen Text, der Ruhe und Klarheit braucht, um zu wirken. Petras hat stark gekürzt, lässt die Schauspieler improvisieren und nimmt oft Zuflucht zu abgenutzten Bildern. Wenn die junge Sophie (Britta Hammerstein) so richtig zornig ist, schmeißt sie ein paar Wasserflaschen über die Bühne. Und Jürgen Lingmann stellt Brutalität in grotesken Verrenkungen dar, was zwar Hochachtung vor seinen akrobatischen Fähigkeiten auslöst aber auch den Gedanken "Jetzt kommt das schon wieder…"

Trotzdem schafft das fünfköpfige Ensemble des Berliner Maxim Gorki Theaters auf seinem Premierenausflug zu den Ruhrfestspielen immer wieder starke Szenen, intensive Blickkontakte, Momente, in denen sie plötzlich drin sind, in welcher Situation auch immer. Es steckt Potenzial im Stück und in den Schauspielern, doch um es zu nutzen, haben alle noch viel Arbeit vor sich. Die Berliner Premiere ist erst Ende September, vielleicht wird sie zur richtigen Uraufführung von Darja Stockers neuem Stück.

Die Chronologie ist auch im neuen Stück von Werner Fritsch aufgehoben. "Bring mir den Kopf von Kurt Cobain" ist der Versuch, in die Gedankenwelt des Nirvana-Sängers einzutauchen, der sich vor 15 Jahren umgebracht hat. Fritsch schreibt Cut-Ups, Gedichtfetzen ohne logischen Zusammenhang, wie sie auch Cobain für seine Songs genutzt hat. Viele Legenden um seinen Tod spiegelt der Text. Neben Cobain (Frank Siebenschuh) und seiner Witwe Love (Viola Neumann) steht der geheimnisvolle Mr. X (Siegfried Bühr) auf der Bühne. Erst ist er ein Auftragskiller, den Love auf ihren Gatten angesetzt hat. Dann verwandelt er sich in den Autor und schließlich in William S. Burroughs, der Cobain auffordert, doch auch einmal das Wilhelm-Tell-Spiel zu machen, mit dem Tod zu spielen. Burroughs hat seine Frau bei so einer Aktion erschossen, Cobain erschießt sich lieber selbst, nicht ohne von Burroughs erklärt zu bekommen, das sei die einzige Hilfe gegen Gedankenkontrolle durch die Regierung.

Werner Fritsch schreibt expressiv, verdichtet, bewegt sich hart am Rande des Kitsches. Wenn sich die Schauspieler allzu kunstvoll auf die Sätze setzen, könnte der Text ins Hirnrissige rutschen. Doch das hervorragende Ensemble des Zimmertheaters Tübingen bleibt bodenständig und spielt zugleich die Brüche absolut präzise. Regisseur Patrick Schimanski, der schon oft mit Fritsch zusammengearbeitet hat, schafft eine flirrend surreale Atmosphäre.

Unterstützt durch eine live gespielte Bühnenmusik aus Elektroklavier und präpariertem Schlagzeug, das unwirkliche Geräusche hervorbringt, wenn der Musiker zum Beispiel mit einem Bogen über den Rand eines Gongs streicht. Nur ein Song von Cobain wird kurz verzerrt angespielt, die berühmte Melodie von "Smells like teen spirit". Fritsch setzt sich deutlich ab von der Erwartung, ein biographisches Stück oder ein Nostalgiemusical zu fabrizieren.

Es entsteht eine dichte Performance mit mythischen Andeutungen. Love fühlt sich als Wiedergängerin der ägyptischen Göttin Isis, die die auf mehrere Länder verstreute Leiche ihres Gemahls Osiris wieder zusammensetzt. Neue Erkenntnisse bietet dieser Blick in Kurt Cobains Kopf nicht. Aber der assoziative Strudel der Zeitebenen funktioniert besser als in Darja Stockers neuem Stück, weil ein einziger Mensch im Zentrum steht, und vielleicht noch Love, die den Geist des Geliebten heraufbeschwört. Schließlich sitzt sie auf ihm und umschlingt ihn mit ihren Beinen. Da werden all die Worte und Begierden, die Werner Fritsch mühevoll und kunstbeladen aufgeschrieben hat, zu körperlicher Realität.

Service:
"Zornig geboren", Berliner Premiere am 24. September 2009 im Maxim Gorki Theater.
Bring mir den Kopf von Kurt Cobain, Zimmertheater Tübingen 12., 13. 14., 27. Juni 2009.