Mangelndes Mitgefühl für Flüchtlinge
Eine zweite Heimat finden - das ist an sich schon schwer für Flüchtlinge, sagt der Philosoph Christoph Türcke. Sind sie nicht willkommen, werde es umso schwerer. Es fehle an Mitgefühl für jene, die alles Vertraute hinter sich lassen mussten.
Der Philosoph Christoph Türcke beklagt eine mangelnde Empathie für Flüchtlinge. Sich an eine neue Heimat zu gewöhnen, gelinge schlecht, "wenn man so etwas erlebt wie in Heidenau", sagt der emeritierte Professor an der Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig. Dabei würden viele Flüchtlinge zunächst nur eine Zufluchtsstätte suchen, an der sie unversehrt seien:
"Da geht es zum Teil um ganz elementare Überlebensbedürfnisse. Die gehen ja nicht einfach aus Spaß weg. Das wird hier oft viel zu wenig gefühlt. Dafür hat man oft viel zu wenig Empathie hier, was das bedeutet, wenn sich Leute von ihrer heimatlichen, örtlichen Umgebung entfernen, alles dort lassen, womit sie vertraut sind. Heimat hat ganz viel mit elementarer Vertrautheit zu tun."
Heimat ist nach Auffassung Türckes nicht ohne einen bestimmten Ort vorstellbar. Auch Sprache, die manche als ihre eigentliche Heimat bezeichnen, komme immer irgendwo her: "Diesen Ort kann man natürlich sprachlich mitnehmen, wenn man unterwegs ist, auch wenn man vertrieben wurde. Und trotzdem hat der eine örtliche Tinktur, die wird man nicht los."
Das vollständige Interview im Wortlaut:
Liane von Billerbeck: Millionen Menschen sind derzeit auf der Flucht und müssen den Ort verlassen, der ihnen der liebste ist, ihre Heimat. Und sie kommen in der Heimat anderer an, von denen mancher eben genau diese seine Heimat von den Neuankömmlingen bedroht sieht, die eine neue, eine zweite Heimat sich erhoffen.
Was bedeutet Heimat in Zeiten von Globalisierung und Flüchtlingsströmen? Darüber wollen wir reden, und das noch aus einem anderen Grund, denn auf ARTE werden heute die Filme von Edgar Reitz wieder gezeigt, heute Abend "Die andere Heimat", und ab morgen die restaurierte Kinofassung der "Heimat"-Reihe, die ja wahrscheinlich auch ein bisschen dafür gesorgt haben, dass der Begriff Heimat rehabilitiert wurde.
Wir sind jetzt verabredet, um darüber zu reden, über dieses Wort Heimat, mit dem Philosophen Christoph Türcke. Er ist emeritierter Professor an der HGB, der berühmten Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig, und hat sich mit dem Heimat-Begriff auseinandergesetzt und auch ein Buch geschrieben: "Heimat. Eine Rehabilitierung" heißt es. Guten Morgen, Herr Professor Türcke!
Christoph Türcke: Einen schönen guten Morgen!
von Billerbeck: Heimat, der Begriff hatte ja bis zu den 70er-, 80er-Jahren keinen guten Klang, um es ganz vorsichtig auszudrücken. Heute hat sich das verändert. Vielleicht auch ein bisschen wegen der Filme von Edgar Reitz?
Türcke: Zumindest waren die, als die ersten Filme erschienen, doch so etwas wie eine Art Tabubruch. Man nahm damit wirklich eine neue Perspektive ein. Man merkte, da ist etwas, über das müssen wir neu reden. Da kann das, was der Nationalsozialismus mit Heimat angestellt hat, also die Identifizierung mit Blut und Boden, nicht das letzte Wort sein. Und dazu hat Reitz damals durchaus eine neue Tür geöffnet.
"Ich kann mir Heimat schwer ganz ortlos vorstellen"
von Billerbeck: Nun sind Sie ja Philosoph von Haus aus. Wie definieren Sie denn den Begriff Heimat? Ist das ein Ort?
Türcke: Heimat ist zunächst mal das, wo man zu Hause ist, wo man heimisch ist. Und das hat ganz viel mit Kindheit zu tun. Das ist gewissermaßen die erste Umgebung, der Kinder, wenn wir auf die Welt kommen, anwachsen. Das ist ein ganz physischer Prozess, aber natürlich auch ein mentaler Prozess, und insofern kann ich mir Heimat schwer ganz ortlos vorstellen. Es gibt natürlich ...
von Billerbeck: Das heißt, wenn ich in einem Flachland geboren wurde, dann ist es schwer, mich in den Bergen heimisch zu fühlen?
Türcke: In der Tat. Das ist nicht einfach. Ich will nicht sagen, dass es völlig unmöglich ist, aber da müssen dann, sagen wir mal, bestimmte emotionale und mentale Hilfestellungen noch hinzukommen. Es gibt natürlich Leute, die sagen, nein, das hat für mich gar nichts mit einem Ort zu tun. Gerade Schriftsteller sagen oft, "Meine Heimat ist die Sprache." Nun gut. Sie sind sehr heimisch in ihrer Muttersprache geworden, manche auch in einer anderen. Der berühmte Nabokov hat nachher Englisch geschrieben, als wäre es seine Muttersprache.
Aber die Sprache kommt ja irgendwoher, sie wurde irgendwo und von irgendwem gesprochen, immer. Eine Mutter spielt da eine große Rolle, die an einem bestimmten Ort diese Sprache gesprochen hat, und diesen Ort kann man natürlich sprachlich mitnehmen, wenn man dann unterwegs ist, auch wenn man vertrieben wurde. Und trotzdem hat der eine örtliche Tinktur, die wird man nicht los.
von Billerbeck: Nun gibt es ja auch Menschen, die Psychologin Beate Mitzscherlich zum Beispiel, die sagt, Heimat sei ein inneres Konstrukt, also nicht, wie Sie es eben beschrieben haben, ein realer geografischer Ort. Man könne sie auch erreichen durch Yoga, Meditation und Religion. Die könnten auch ein inneres Heimatgefühl geben.
Türcke: Na ja, ein inneres Konstrukt muss ja immer aus etwas zusammengesetzt sein. Konstruktionen sind ja immer Konstruktionen von etwas und nicht einfach pure Erfindungen aus dem Nichts. Und insofern stelle ich mich der inneren Konstruktion Heimat gar nicht abstrakt entgegen, wenn man eben mit bedenkt, da ist aus etwas was konstruiert und verarbeitet und mitgenommen worden. Und da kann in einer bestimmten Umgebung so etwas wie Yoga meinetwegen auch helfen, es kann Stabilität verschaffen. Ob es wirklich Heimat verschafft, ist noch eine andere Frage. Denn auch die Stabilität muss ja irgendwoher kommen und einen Ort haben. Also ganz mit der völligen Ortlosigkeit funktioniert das nicht.
Beim Asyl geht es zum Teil um ganz elementare Überlebensbedürfnisse
von Billerbeck: Nun erleben wir ja derzeit nicht nur hierzulande, sondern vielerorts in der Welt, dass viele Menschen flüchten, ihre Heimat verlassen müssen und sich auf den Weg machen, um eine neue Heimat zu finden. Wie schwer ist das? Wann gelingt das?
Türcke: Das ist sehr schwer. Und es gelingt umso schlechter, je weniger Sie dort willkommen sind, wo Sie ankommen. Das ist ganz selbstverständlich. Da kann man sich dann ganz schlecht dran gewöhnen, wenn man so etwas erlebt wie in Heidenau, und dann ist das mit der zweiten Heimat besonders schwierig. Zum Teil denken die ja noch gar nicht an eine zweite Heimat, sondern zunächst mal an eine Zufluchtsstätte.
Das Asylon ist ja ursprünglich ein sakraler Begriff, das Asyl die Zuflucht in einem Tempel, wo man unversehrt erst mal ist, obwohl man da gar nicht zu Hause ist. Und da geht es zum Teil um ganz elementare Überlebensbedürfnisse. Aber ganz wichtig, wenn Sie sagen, die gehen ja nicht einfach aus Spaß weg. Das wird hier oft viel zu wenig gefühlt, also dafür hat man oft viel zu wenig Empathie hier, was das bedeutet, wenn sich Leute von ihrer heimatlichen, örtlichen Umgebung entfernen, alles dort lassen, womit sie vertraut sind. Heimat hat ganz viel mit elementarer Vertrautheit zu tun.
von Billerbeck: Liegt das vielleicht auch daran, dass Menschen hier, die so aggressiv reagieren, sich vielleicht auch darin bedroht fühlen, dass ihre Heimat sich verändert, weil da eben welche kommen, die ihre Heimat verlassen mussten und hier eine neue suchen?
Türcke: Vollkommen richtig, das kollidiert da. Und da müssen auch beide Seiten, sagen wir mal, lernfähig sein. Nur fehlt denjenigen, die hier die Heimat dann reklamieren, die ihnen ja niemand nimmt, sehr oft jegliche Empathie für diejenigen, die da als Flüchtlinge kommen.
von Billerbeck: Der Philosoph Christoph Türcke über den Heimat-Begriff in Zeiten von Globalisierung und Flüchtlingsströmen. Ich danke Ihnen!
Türcke: Gern!
von Billerbeck: Heute Abend zeigt ARTE ab 20:15 Uhr "Die andere Heimat" von Edgar Reitz, und ab dem 27. August, also ab morgen, in sieben Kapiteln die "Heimat"-Reihe in einer neuen, digital restaurierten Kinofassung.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Der TV-Sender Arte widmet sich auch der Heimat: Heute läuft "Die andere Heimat" von Edgar Reitz, ab morgen in sieben Kapiteln die Heimatreihe in einer neuen, digital restaurierten Kinofassung.