Verneigung vor dem Vater

Robert Merle ist als Schriftsteller ein Phänomen: In Frankreich kennt ihn jedes Kind, in der DDR kannte ihn zumindest jeder Intellektuelle, in Westdeutschland kennt ihn fast niemand. Die unterschiedliche Rezeption in beiden Teilen Deutschlands hat mit Merles vielseitigem Oeuvre zu tun.
Im Westen wurde vor allem sein 13-bändiger opulenter historischer Romanzyklus "Fortune de France" wahrgenommen und Merle deshalb als Unterhaltungsschriftsteller abgestempelt. In der DDR dagegen schätzte man Merles linkes politisches Engagement und seine gesellschaftlich engagierten Bücher wie den 68er-Roman "Hinter Glas" oder seine Bücher über Fidel Castro und Ahmed Ben Bella, den algerischen Revolutionär.

Bei der Wahrnehmung der Privatperson Robert Merle ergibt sich ein einheitlicheres Bild: Die ist sowohl in Frankreich als auch bei uns weitgehend unbekannt, weil Merle eine sehr diskrete Person war. So beschreibt es zumindest sein Sohn Pierre, der jetzt als erster eine Biografie seines Vaters geschrieben hat, die Berufliches und Privates zusammenführt.

Das ist natürlich ein heikles Unterfangen, denn einerseits unterstellt man beim Lesen sofort Befangenheit: Wird der Sohn auch ausreichend auf die kritischen Punkte im Leben seines Vaters eingehen? Andererseits hat Pierre Merle Zugang zu Quellen gehabt, die jedem anderen verschlossen geblieben wären: private Briefe seines Vaters, Artikel von Merle und Interviews mit ihm – und nicht zuletzt persönliche Erinnerungen. Alle Zweifel an der Berechtigung dieser Biografie werden bei der Lektüre jedenfalls schnell ausgeräumt. Denn Pierre Merle setzt seinen Vater als veritable Person des 20. Jahrhunderts in Szene.

1908 im algerischen Tébessa geboren, 2004 in Montfort-l'Amaury in den Yvelines gestorben, umfasst Robert Merles Biografie nicht nur vier Ehen, sechs Kinder, ein breites literarisches und publizistisches Oeuvre und eine Universitätskarriere als Englisch-Professor, sondern eben auch alle Stationen des schrecklichen 20. Jahrhunderts: den Verlust des Vaters durch den Ersten Weltkrieg, deutsche Kriegsgefangenschaft im Zweiten, sozialrevolutionäre Träume in den 60ern und 70ern, Zukunftsängste in den 80er-Jahren. Stationen, die auch Robert Merles ungefähr 25 literarische Werke machen, die man heute also als zeitgenössische historische Romane lesen kann. Und zu deren Lektüre oder Wieder-Lektüre das Buch Pierre Merles ein sehr einladendes Entrée bietet.

Das Schreiben, so berichtet sein Sohn, habe den Vater absorbiert: "Über ein halbes Jahrhundert lang waren seine Bücher seine einzigen Vertrauten." Wie der Sohn diese Konkurrenz zum Werk des Vaters erlebte, darüber erfährt man allerdings nichts, Pierre Merle verharrt in respektvoller Distanz. Er charakterisiert den Vater eher so, wie dieser es selbst tat: mit Hilfe von dessen Roman-Protagonisten, auf deren autobiografische Züge Robert Merle immer wieder hinwies. Pierre stellt die Bezüge zwischen den Figuren und ihrem Erfinder her – allerdings setzt er dabei manchmal etwas zu genaue Kenntnisse der Bücher voraus.

Pierre Merle ist es offenbar nicht leicht gefallen, eine Erzählhaltung für diese Biografie zu finden. Stellenweise schreibt er über den Vater wie über einen Fremden, sich hinter der Objektivität von Daten und Fakten verbergend. Andererseits schildert er zum Beispiel in größter Ausführlichkeit die Lebensgeschichten von Roberts Eltern, die es so detailliert vielleicht nicht gebraucht hätte.

Dass diese Biografie eine Verneigung vor dem Vater ist, merkt man auch am Sprachduktus, einer sehr prallen Erzählweise, bild- und wortreich, teilweise etwas altmodisch, die ein bisschen an die "Fortune de France"-Romane erinnert. Pierre hätte Robert Merle kein schöneres Denkmal setzen können.

Besprochen von Dina Netz

Pierre Merle: Robert Merle. Ein verführerisches Leben
Biografie
Aufbau-Verlag 2009
411 Seiten, 22,95 Euro