Vernunft statt Vernebelung
Die deutsche Europa-Debatte ist zwischen Realitätsverweigerung, Allgemeinplätzen und Gesundbeterei eingemauert. Es herrscht eine Feigheit des Denkens, die Angst vor dem Blick auf die Wirklichkeit hat.
Viele Jahre lang war Europa für die große Mehrheit seiner Bürger zum Gähnen, gerade gut genug für Sonntagsreden, staubtrockene Filmberichte aus Brüssel und hämische Bemerkungen über Gurkenverordnung und Glühbirnenverbot. Nicht einmal die Aufhebung der Grenzen und die Einführung des Euro konnten etwas daran ändern: Europa war ungefähr so spannend wie eine Predigt auf dem Evangelischen Kirchentag.
Plötzlich aber soll Europa unser Schicksal sein. Ein Drama, bei dem es angeblich um Krieg oder Frieden geht, um Alles oder Nichts. Die Apokalypse scheint nah, und die Rettungsschirme werden immer monströser. Politiker, Wirtschaftsexperten und Journalisten, die sonst nicht gerade durch revolutionäres Charisma auffallen, wiederholen seit Monaten ihr ultimatives Credo: Mehr Europa! Vollendet die Politische Union! Her mit der zentralen Wirtschaftsregierung! Vorwärts immer, rückwärts nimmer!
Wer in dieses Rettungs-Mantra nicht freudig einstimmt, ist ein "Abweichler" und "Euro-Skeptiker", ein gefährlicher Anti-Europäer und unverbesserlicher Nationalist. Die "Fresse halten" sollen gefälligst all jene, die Zweifel und Skepsis äußern. Was einst die hervorragenden Merkmale der europäischen Aufklärung waren, gilt nun als rückwärtsgewandtes Denken, Verrat am Fortschritt. Hinweise aufs Grundgesetz und die ständige Verletzung der Europäischen Verträge durch ihre eigenen Institutionen werden mit Fäkalbegriffen belegt.
Schlimmer noch als dieses Freund-Feind-Denken, das eher an Carl Schmitt als an Carlo Schmid erinnert, ist die offiziöse Rhetorik der Vernebelung und Beschönigung, die den Mainstream in Politik und Massenmedien durchzieht. Hier wird erst gar nicht mehr versucht, die konkreten Gründe der katastrophalen Verschuldung zu analysieren – von Portugal bis Griechenland, von Irland bis Italien. Deshalb können sinnvolle Handlungsoptionen gar nicht diskutiert werden. Stattdessen schwelgt man in schlechten Abstraktionen und einem vollautomatisierten Politsprech, der wie ein Narkosemittel wirkt.
So bleibt die Unwissenheit über die europäische Realität gewaltig und sorgt dafür, dass die meisten Bürger nur Bahnhof verstehen. Sogar Bundestagsabgeordnete, die ebenso tapfer wie ahnungslos für die Ausweitung der ominösen "Europäischen Finanz-Stabilisierungs-Faszilität", kurz: EFSF gestimmt hatten, konnten nicht einmal den groben Finanzrahmen beziffern. Augen zu und durch. Bloß nicht zu viel Information. Selber denken ist ein Privileg, das sich nicht jeder leisten will.
Und so ist der Ideologie-Vorwurf, der an die Adresse der sogenannten "Euro-Skeptiker" gerichtet wird, an die Rettungs-Rhetoriker zurückzugeben. Was bedeutet zum Beispiel die Floskel "Mehr Europa!"? Das darf ja nur heißen: Weniger Griechenland, also weniger Korruption, Schlamperei und Betrug, dafür mehr Effizienz, Rechtssicherheit und Kontrolle – kurz: mehr Deutschland, Finnland und Holland.
Und was ist mit "mehr Solidarität"? Die kann doch nicht bedeuten, dass slowakische Arbeiter, die weniger verdienen als ihre griechischen Kollegen, nun für Athens Staatsschuld haften sollen, weil milliardenschwere Großreeder aus Thessaloniki keine Steuern zahlen.
Und ist nicht sowieso offenkundig, dass Europa – ökonomisch, politisch und mentalitätsmäßig – viel heterogener und wahrhaft multikultureller ist, als alle Zentralisierungs-Apostel weismachen wollen? Das könnte durchaus ein Anlass zur Freude sein. Es wird aber lieber totgeschwiegen, um sich nicht offen mit den Folgen für die ideologische Fiktion eines Europa konfrontieren zu müssen, das nur noch von "Stabilitätskommissaren", Rettungsrittern und ihren zentralistischen "Durchgriffsrechten" beherrscht wird.
Wie kommt es also, dass man sich in der deutschen Europa-Debatte derart zwischen Realitätsverweigerung, Allgemeinplätzen und Gesundbeterei eingemauert hat?
Von Aristoteles bis Kant brauchte die europäische Vernunft stets den Mut, sich der eigenen Verstandeskräfte zu bedienen. In unseren Tagen aber herrscht eine Feigheit des Denkens, die Angst vor dem Blick auf die Wirklichkeit hat.
Der Schlaf der Vernunft aber gebiert Ungeheuer.
Reinhard Mohr, geboren 1955, ist freier Journalist. Zuvor schrieb er für Spiegel Online und war langjähriger Kulturredakteur des Spiegel. Weitere journalistische Stationen waren der Stern, Pflasterstrand, die tageszeitung und die Frankfurter Allgemeine Zeitung. Buchveröffentlichungen u. a.: "Das Deutschlandgefühl", "Generation Z", "Der diskrete Charme der Rebellion. Ein Leben mit den 68ern" und "Meide deinen Nächsten. Beobachtungen eines Stadtneurotikers".
Plötzlich aber soll Europa unser Schicksal sein. Ein Drama, bei dem es angeblich um Krieg oder Frieden geht, um Alles oder Nichts. Die Apokalypse scheint nah, und die Rettungsschirme werden immer monströser. Politiker, Wirtschaftsexperten und Journalisten, die sonst nicht gerade durch revolutionäres Charisma auffallen, wiederholen seit Monaten ihr ultimatives Credo: Mehr Europa! Vollendet die Politische Union! Her mit der zentralen Wirtschaftsregierung! Vorwärts immer, rückwärts nimmer!
Wer in dieses Rettungs-Mantra nicht freudig einstimmt, ist ein "Abweichler" und "Euro-Skeptiker", ein gefährlicher Anti-Europäer und unverbesserlicher Nationalist. Die "Fresse halten" sollen gefälligst all jene, die Zweifel und Skepsis äußern. Was einst die hervorragenden Merkmale der europäischen Aufklärung waren, gilt nun als rückwärtsgewandtes Denken, Verrat am Fortschritt. Hinweise aufs Grundgesetz und die ständige Verletzung der Europäischen Verträge durch ihre eigenen Institutionen werden mit Fäkalbegriffen belegt.
Schlimmer noch als dieses Freund-Feind-Denken, das eher an Carl Schmitt als an Carlo Schmid erinnert, ist die offiziöse Rhetorik der Vernebelung und Beschönigung, die den Mainstream in Politik und Massenmedien durchzieht. Hier wird erst gar nicht mehr versucht, die konkreten Gründe der katastrophalen Verschuldung zu analysieren – von Portugal bis Griechenland, von Irland bis Italien. Deshalb können sinnvolle Handlungsoptionen gar nicht diskutiert werden. Stattdessen schwelgt man in schlechten Abstraktionen und einem vollautomatisierten Politsprech, der wie ein Narkosemittel wirkt.
So bleibt die Unwissenheit über die europäische Realität gewaltig und sorgt dafür, dass die meisten Bürger nur Bahnhof verstehen. Sogar Bundestagsabgeordnete, die ebenso tapfer wie ahnungslos für die Ausweitung der ominösen "Europäischen Finanz-Stabilisierungs-Faszilität", kurz: EFSF gestimmt hatten, konnten nicht einmal den groben Finanzrahmen beziffern. Augen zu und durch. Bloß nicht zu viel Information. Selber denken ist ein Privileg, das sich nicht jeder leisten will.
Und so ist der Ideologie-Vorwurf, der an die Adresse der sogenannten "Euro-Skeptiker" gerichtet wird, an die Rettungs-Rhetoriker zurückzugeben. Was bedeutet zum Beispiel die Floskel "Mehr Europa!"? Das darf ja nur heißen: Weniger Griechenland, also weniger Korruption, Schlamperei und Betrug, dafür mehr Effizienz, Rechtssicherheit und Kontrolle – kurz: mehr Deutschland, Finnland und Holland.
Und was ist mit "mehr Solidarität"? Die kann doch nicht bedeuten, dass slowakische Arbeiter, die weniger verdienen als ihre griechischen Kollegen, nun für Athens Staatsschuld haften sollen, weil milliardenschwere Großreeder aus Thessaloniki keine Steuern zahlen.
Und ist nicht sowieso offenkundig, dass Europa – ökonomisch, politisch und mentalitätsmäßig – viel heterogener und wahrhaft multikultureller ist, als alle Zentralisierungs-Apostel weismachen wollen? Das könnte durchaus ein Anlass zur Freude sein. Es wird aber lieber totgeschwiegen, um sich nicht offen mit den Folgen für die ideologische Fiktion eines Europa konfrontieren zu müssen, das nur noch von "Stabilitätskommissaren", Rettungsrittern und ihren zentralistischen "Durchgriffsrechten" beherrscht wird.
Wie kommt es also, dass man sich in der deutschen Europa-Debatte derart zwischen Realitätsverweigerung, Allgemeinplätzen und Gesundbeterei eingemauert hat?
Von Aristoteles bis Kant brauchte die europäische Vernunft stets den Mut, sich der eigenen Verstandeskräfte zu bedienen. In unseren Tagen aber herrscht eine Feigheit des Denkens, die Angst vor dem Blick auf die Wirklichkeit hat.
Der Schlaf der Vernunft aber gebiert Ungeheuer.
Reinhard Mohr, geboren 1955, ist freier Journalist. Zuvor schrieb er für Spiegel Online und war langjähriger Kulturredakteur des Spiegel. Weitere journalistische Stationen waren der Stern, Pflasterstrand, die tageszeitung und die Frankfurter Allgemeine Zeitung. Buchveröffentlichungen u. a.: "Das Deutschlandgefühl", "Generation Z", "Der diskrete Charme der Rebellion. Ein Leben mit den 68ern" und "Meide deinen Nächsten. Beobachtungen eines Stadtneurotikers".