Lieber selbstgerecht als stumm
Erfahrungen mit dem Verrat – daraus hat Regisseur Falk Richter mit Schauspielern des Maxim Gorki Theaters ein Stück entwickelt. Es sei zur Ensemble-Selbstbespiegelung geraten, kritisiert André Mumot – geprägt von dem bereits in "Fear" praktizierten Falk-Richter-Ton.
Cigdem Teke hat genug: "Ich will nicht immer nur als Ich hier rumstehen!", so verkündet sie irgendwann in der zweiten Hälfte des Abends. Man kann es ihr nachfühlen. Schließlich ist die neue Falk-Richter-Produktion am Maxim Gorki Theater mal wieder vor allem eins: Ensemble-Selbstbespiegelung.
Sechs Darstellerinnen und Darsteller bewegen sich in einer düsteren Aschelandschaft mit toten Baumstümpfen und sprechen über sich selbst, über ihre Familie, ihre Herkunft, über ihre Zweifel, ihre sexuelle Identität, über ihre politischen Überzeugungen, über Gender-Sprachregelungen und neue Beziehungskonzepte, über ihren Kambodscha-Urlaub und darüber, wie entsetzlich sie es finden, dass in den Vereinigten Staaten Donald Trump ("der Horror-Clown", wie es hier heißt) zum Präsidenten gewählt wurde.
"Verräter – Die letzten Tage" heißt das mit dem Ensemble entwickelte Stück, und es häuft die unterschiedlichsten Verratserfahrungen, die sehr politisch und sehr privat sein können: Mareike Beykirch berichtet davon, wie sie aus ihrer Kindheit und Jugend in Sachsen-Anhalt geflohen ist, aus Arbeitslosigkeit und Plattenbau-Verarmung, und sich seitdem als Verräterin fühlt.
Mehmet Atesci wiederum erinnert sich (in einer starken, beklemmenden Passage), wie er mit seinem Freund Christian in Istanbul Urlaub gemacht hat, als im vergangenen Jahr der Putsch losbrach und Erdogan all seine Bürger aufforderte, gegen die Verräter auf die Straßen zu gehen, sie zurückzuerobern.
Richters intimes Referatstheater
So geht es weiter mit dem intimen Referatstheater, das sich in ein selbstreferentielles Crescendo nach dem anderen hineinsteigert. Daniel Lommatzsch möchte ein Holocaust-Erinnerungsmusical mit Orit Nahmias aufführen und gibt etwas später den Nazi-Maskulinisten, der gegen Frauen und Schwule wettert, der von Männerhorden träumt und sich vor Menstruationsblut ekelt.
Hier ist dann der neue Falk-Richter-Ton zu bestaunen, den er 2015 an der Berliner Schaubühne mit seinem "Fear"-Abend etabliert hat: Mach kaputt, was dich kaputt macht, lautet das Motto – zumindest verbal. Nicht mehr um theatrale Qualität geht es ihm, sondern um Haltung. Richter lässt seine Schauspielerinnen und Schauspieler ihre private Verachtung für den Rechtsruck der Gesellschaft artikulieren, rausschreien, ihre politische wie ästhetische Hilflosigkeit zum Ausdruck bringen. Lieber selbstgerecht sein als stumm.
Eine Inszenierung, die sich selbst zum Thema macht
Was seinerzeit wie ein überfälliger, mutiger und mehr als angemessener Befreiungsschlag gewirkt hat, steckt an diesem Abend allerdings viel zu lange in mauem Authentizitätsgeschwurbel fest. Mal wird mitreißend musiziert, dann erscheinen die zunehmend erregten Dialoge ironisch gebrochen und verspielt, dann wieder quälend privatistisch und beliebig. "I am my own structure", sagt Orit Nahmias am Schluss und meint damit auch die Inszenierung, die sich in achselzuckender Anarchie permanent selbst zum Thema macht, die jeder Kritik zuvorkommt, weil sie unentwegt sagt: "Das ist Absicht!"
Es ist Absicht, dass hier keine stimmige Dramaturgie entsteht, dass das Ensemble weniger glänzt, als sich bekennt, dass es um Sympathie und Zustimmung geht und um die Ablehnung eines politischen Gegners, nicht unbedingt um Differenzierungen, nicht um theatrale Zwischentöne.
Ein weiteres Ritual der gegenseitigen Selbstbestätigung ist dieser Abend, und wahrscheinlich ist er als solches auch nötig. Die virtuosen Selbstbespiegelungsschlaufen jedenfalls drehen sich weiter, und das Publikum ist beglückt, weil sich erneut beweist: Die da oben auf der Bühne sind ja schon wieder und immer noch genauso wie wir.