Florian Goldberg hat in Tübingen und Köln, Philosophie, Germanistik und Anglistik studiert und lebt als freier Autor, Coach und philosophischer Berater für Menschen aus Wirtschaft, Politik und Medien in Berlin. Er hat Essays, Hörspiele und mehrere Bücher veröffentlicht.
Plädoyer gegen geistigen Analphabetismus
Gereizt, genervt, unzufrieden: Ständig optimieren wir uns selbst und merken nicht, wie fremd wir uns dabei werden. Der Philosoph Florian Goldberg warnt vor "geistigem Analphabetismus", der zur inneren Verwahrlosung ganzer Gesellschaften führen könne.
Unlängst - an Pfingsten - rief Papst Franziskus zur Überwindung eines "geistigen Analphabetismus" auf, an dem heutzutage viele Menschen litten. Selbst wenn ich als Agnostiker die naturgemäß christlichen Folgerungen des Papstes nicht teile - zurück zum Leben in Jesu und so weiter - sein Diktum blieb doch haften.
Zumal am selben Wochenende noch eine andere Meldung die Runde machte: In Stralsund hätten Unbekannte vor Angela Merkels Wahlbüro einen Schweinskopf mit beleidigender Aufschrift niedergelegt, um damit ihrem Hass auf die Kanzlerin Ausdruck zu verleihen.
Analphabetismus definiert das Lexikon als "kulturell, bildungs- oder psychisch bedingte individuelle Defizite im Lesen oder Schreiben bis hin zum völligen Unvermögen in diesen Disziplinen."
Unfähigkeit zur Selbstwahrnehmung
Entsprechend könnte man als geistigen Analphabetismus ebensolche Defizite im Entziffern oder Entwerfen des eigenen Inneren bis hin zur völligen Unfähigkeit zur Selbstwahrnehmung bezeichnen. Die Folge sind erhebliche Schwierigkeiten in der Kommunikation, die weitere Frustrationen und Konflikte nach sich ziehen.
Auf die Stralsunder Schweinskopf-Niederleger angewendet, lässt der schriftliche Teil der Beleidigung darauf schließen, dass die Urheber des Lesens und Schreibens zumindest in Grundzügen mächtig sind. Der Gebrauch, den sie von dieser Fähigkeit machen, weist in Richtung unserer Auslegung des päpstlichen Worts: Offenbar handelt es sich um Menschen, die so wenig mit sich in Kontakt sind, dass sie auf Verunsicherungen nur sehr unangemessen reagieren können.
So traurig das für sie und so, gelinde gesagt, unerfreulich es für die meisten anderen ist, allein sind sie damit nicht. In Abstufungen betrifft uns das Phänomen alle.
Alphabetismus kostet Zeit, Mühe und Geld
Die Fähigkeit zu lesen und zu schreiben fällt nicht vom Himmel. Sie ist das Ergebnis gesellschaftlicher und persönlicher Entscheidungen. Sie kostet Zeit, Geld und Mühe. Einmal erlernt, muss sie weiterhin gepflegt und vertieft werden, damit sie einem nicht wieder verkümmert. Institutionen müssen her, die sich um die ständig nachrückenden Generationen kümmern.
Dasselbe gilt auch für einen geistigen Alphabetismus: Auch dieser entwickelt sich in dem Maße, in dem er von möglichst früh auf gefördert wird. Er braucht Zeit, Muße und zweckfreie, spielerische Zugänge zum Leben.
Aber mal ehrlich: Wann haben Sie das letzte Mal Ihr Kind gefragt, wie es in der Schule mit dem Achtsamkeitstraining oder im Bohm’schen Dialogkreis läuft? Wahrscheinlich nie. Seit Jahren befinden sich ja schon die hergebrachten geistigen und musischen Fächer auf dem Rückzug. Weiterentwicklung? Fehlanzeige.
Und Sie selbst? Wann sind Sie das letzte Mal ein paar Stunden im Gras gesessen, um einfach nur in den Himmel zu schauen?
Vom menschlichen Menschen zur menschlichen Ressource
Hatten frühere Bildungs- und damit Gesellschaftsideale noch den homo humanus, also den wahrhaft menschlichen Menschen im Sinn, unterwerfen wir unser Dasein zunehmend der wirtschaftlichen Verwertbarkeit. Es beginnt in Schulen und Universitäten und setzt sich im Berufsleben fort. Human resource statt homo humanus. Es ist zwar ständig von Selbstoptimierung die Rede, aber auch diese zielt im Allgemeinen nur darauf ab, funktionale Faktoren wie Leistunungsfähigkeit, Attraktivität und Fitness zu steigern. Wir machen uns zum Mittel statt Zweck in uns selbst zu sein.
Die Folge ist eine fortschreitende innere Verwahrlosung der Gesellschaft, die sich an den Rändern naturgemäß schneller zeigt als im Zentrum.
Der Extremismus unserer Tage entsteht nicht im luftleeren Raum. Alles hängt miteinander zusammen. Aber es ist leichter, sich über die offensichtlichen Übeltäter von Stralsund zu empören als die vielen kleinen Symptome zu bemerken, die anzeigen, wie fern man sich selbst bereits ist: die latente Gereiztheit im Familienkreis, die Furcht, nicht zu genügen, das hartnäckige Gefühl, es mit lauter Idioten zu tun zu haben. Sie kennen ihre eigenen Beispiele!
Höchste Zeit also für ein paar neue gesellschaftliche wie persönliche Entscheidungen. Zeit für die Frage, welche inneren Fertigkeiten wir unseren Kindern mitgeben und wofür wir selbst leben wollen. Zeit, unser je eigenes geistiges Alphabet - neu - buchstabieren zu lernen.