Arnd Pollmann schreibt Bücher über Integrität und Unmoral, Menschenrechte und Menschenwürde. Er ist Professor für Ethik und Sozialphilosophie an der Alice-Salomon-Hochschule Berlin und Mitherausgeber des philosophischen Onlinemagazins Slippery Slopes.
Der Wille zum Missverständnis
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Aufbauschen, skandalisieren, beschimpfen: Unsere Gesprächskultur verkommt immer öfter zu strategischer Kommunikation. Das funktioniert, indem gezieltes Falschverstehen zur Taktik wird, meint Arnd Pollmann.
Wissen Sie, wer Hermes war? Kein Paketlieferant jedenfalls, sondern ein Götterbote. Hermes hatte die Aufgabe, die oft verschlüsselten Botschaften der Götter des Olymps zu überbringen und verständlich auszulegen. Damit ist er zum Namenspatron der Hermeneutik geworden, die sich die Kunst der Vermittlung auf die Fahne geschrieben hat. Und besonders wichtig ist ihr eine Tugend, die "hermeneutisches Wohlwollen" genannt wird: Lese und kritisiere stets so, dass du aus Texten jederzeit das Bestmögliche herausholst!
Drei Formen der mutwilligen Fehldeutung
Diese großzügige Tugend sucht man heute oft vergebens. Kein kommunikativer Trend ist so auffällig wie der sich in den sozialen Medien, in Talkshows und auf Demos austobende Hang zur rechthaberischen Fehlinterpretation. Zum Einsatz kommen dabei vor allem drei rhetorische Kampftechniken.
Die erste ist die Strategie der Nicht-Interpretation: Man weigert sich, "zwischen den Zeilen" zu lesen, nimmt jedes Wort für bare Münze. Damit geht jegliche Doppelbödigkeit des Gesprächs verloren, auch alles Hintergründige und vor allem jede Ironie. Im Streit um populäre Satiriker_innen war das zum Schreien unkomisch.
Taube Ohren: Den Subtext überhören
Deren Wortbeiträge wurden als Tatsachenbehauptungen gedeutet. Dabei sagen Ironiker_innen meist genau das Gegenteil von dem, was sie meinen. Jemand fragt: "Wie gehts?". Und die Person antwortet: "Suuuper". Das ist nicht unbedingt witzig. Aber es ist ironisch. Und das muss man schon heraushören wollen. Sonst überhört man etwas.
Die zweite Taktik ist die gezielte Falschinterpretation. Audi wirbt mit einem Kind vor dem Kühler, das eine Banane isst. Die Werbung soll andeuten, dass sich auch Kinder auf die neue Bremstechnologie verlassen können.
Diskursive Zerrbilder: Bewusste Falsch-Interpretation
Der Shitstorm im Netz kulminiert in dem Vorwurf: "Ich sehe hier eine pädophile Anzeige. Und Kindesmissbrauch. Ekelhaft und verwerflich". Glaubt ernsthaft jemand, bei Audi würden pädophile Neigungen ausgelebt? Nun, wenn es nicht das ist, was die Kritikerin sagen wollte, dann muss sie es eben anders sagen.
Die dritte Technik ist die Überinterpretation. Was sonst nur Karikaturen können, ist auf Twitter Modus Vivendi: Wer die Absage einer Hygiene-Demo begrüßt, ist Anhängerin der Merkel-Diktatur, wer auf die Demonstrationsfreiheit pocht, ist ein "Covidiot". Und wer Kant gegen den Vorwurf des Rassismus verteidigt, verteidigt zugleich auch den Rassismus, nicht wahr.
Zur Unkenntlichkeit gesteigert: Über-Interpretation
Die attackierte Position wird bis zur Unkenntlichkeit überzeichnet, um sie nicht mehr ernst nehmen zu müssen. Und die Frage steht im Raum: Wer will mit solchen Typen noch irgendetwas zu tun haben?
Nehmen wird diesen Kommentar: Irgendjemand wird behaupten, er verteidige neurechte Satiriker_innen. Eine andere Person wird sagen, der Kommentator nehme pädophile Monster in Schutz. Eine dritte wird verkünden, er sei Kantianer. Ein besonders krasses Missverständnis.
"Kein richtiges Lesen im falschen"
Leseschwächen dieser Art wären weniger ärgerlich, wenn sie bloß Ausdruck mangelnder Schulbildung à la Pisa wären. Doch dieser Mangel an Lesekompetenz ist gewollt: Es geht um strategische Landgewinne. Man will der Blase beweisen, auf der richtigen Seite zu stehen. Das eigene Weltbild wird stabilisiert, indem das irritierende Contra ignoriert, verfälscht oder karikiert wird.
Ob man das "Cancel Culture" oder "Political Correctness" nennt, ist egal. Traurig ist, dass die Tugend hermeneutischen Wohlwollens dem Laster des hermeneutischen Generalverdachts weicht: Man ist sich stets sicher, und zwar rechts wie links, dass das Gegenüber ein viel schlechterer Mensch ist, als das aus seinen manifesten Äußerungen hervorgeht. Deshalb will man ihn nicht mehr verstehen.
Allerdings nimmt man sich damit auch selbst etwas. Verweigertes Verstehen macht freudlos und verbissen. Oder um es in Abwandlung einer Sentenz von Adorno zu sagen: "Es gibt kein richtiges Lesen im falschen".