Verrückter Jahreswechsel im Hochsommer
Der literarische Anarchist César Aira pfeift auf Organisation und Hierarchie. Mit "Gespenster" ist dem argentinischen Vielschreiber ein wunderbar unlogischer Kleine-Leute-Roman entgegen literarischer Konventionen gelungen.
Die einen behaupten, er sei der legitime Nachfahre des Großmeisters Jorge Luis Borges, andere betrachten sein ganzes Werk als literarischen Witz: Der argentinische Vielschreiber César Aira, Verfasser von zahlreichen Romanen, Stücken, Essays und Gedichten, ist äußerst schwer einzuordnen.
Seine Texte können wie eine Parodie auf Melville klingen oder wie eine Paraphrase der Gaucho-Literatur; er hat historische Romane geschrieben, die eher fantastisch als faktisch sind und durchgeknallte Epen von Pizzafahrern. Sechs seiner Bücher sind bislang ins Deutsche übersetzt und sie haben vor allem gemeinsam: dass sie sich um literarische Konvention, um Handlungsbögen, um Geschlossenheit, um den guten Geschmack nicht scheren - nicht einmal um Logik.
Airas Gespenster-Buch ist eigentlich so etwas wie ein Kleine-Leute-Roman. Er schildert einen Tag auf einer Baustelle in einem der besseren Viertel von Buenos Aires, beginnend mit der Begehung des tür- und fensterlosen Rohbaus durch die betuchten künftigen Bewohner. Langsam zoomt sich die Erzählung sieben Stockwerke nach oben, wo der versoffene Wachmann, ein chilenischer Immigrant, mit seiner Familie auf dem Dach wohnt.
Es ist Silvester, Hochsommer in Argentinien. In der Mittagshitze feiern die Arbeiter bei Grillfleisch und Wein und lauten Scherzen, während nackte, staubige Gespenster lachend in der Luft hängen oder sich auf Uhrzeigern und Satellitenschüsseln niederlassen. Auch sie sehen aus wie Bauarbeiter und schätzen ähnlich schlichte "practical jokes" wie ihre lebenden Kollegen.
Am Abend schließlich feiern die Chilenen ein Familienfest auf ihrem glühheißen Dach am leeren Swimmingpool. Aber bis es soweit ist, werden die von gespenstischer männlicher Nacktheit beunruhigten Träume der 15-jährigen Tochter eingeblendet, verwoben mit überkandidelten Abhandlungen über Architektur und deren soziologische Funktionen, werden die Seltsamkeiten eines Supermarkts aus der Sicht eines pickligen Halbwüchsigen ausgebreitet, Frauengespräche über wahre Männer geführt, Kleider gewaschen und argentinische Klischeevorstellungen von Chilenen (und chilenische von Argentiniern) gepflegt. Und es wird viel getrunken. Am Schluss reichen noch ein paar kurze Sätze, um vom Leben zum Tod und wieder zurückzugelangen.
Keine Schublade passt für dieses wunderbar verrückte Buch, das allen seinen Figuren großen Respekt und viel Neugier schenkt, ebenso allen Schauplätzen, Mahlzeiten und Tätigkeiten. Aira zeigt sich hier wie so oft als literarischer Anarchist, der auf Organisation und Hierarchie pfeift, und das Banale zur großen Kunst erhebt.
Besprochen von Katharina Döbler
César Aira: Gespenster. Roman
Aus dem Spanischen von Klaus Laabs
Ullstein Verlag, Berlin 2010
240 Seiten, 20,80 Euro
Seine Texte können wie eine Parodie auf Melville klingen oder wie eine Paraphrase der Gaucho-Literatur; er hat historische Romane geschrieben, die eher fantastisch als faktisch sind und durchgeknallte Epen von Pizzafahrern. Sechs seiner Bücher sind bislang ins Deutsche übersetzt und sie haben vor allem gemeinsam: dass sie sich um literarische Konvention, um Handlungsbögen, um Geschlossenheit, um den guten Geschmack nicht scheren - nicht einmal um Logik.
Airas Gespenster-Buch ist eigentlich so etwas wie ein Kleine-Leute-Roman. Er schildert einen Tag auf einer Baustelle in einem der besseren Viertel von Buenos Aires, beginnend mit der Begehung des tür- und fensterlosen Rohbaus durch die betuchten künftigen Bewohner. Langsam zoomt sich die Erzählung sieben Stockwerke nach oben, wo der versoffene Wachmann, ein chilenischer Immigrant, mit seiner Familie auf dem Dach wohnt.
Es ist Silvester, Hochsommer in Argentinien. In der Mittagshitze feiern die Arbeiter bei Grillfleisch und Wein und lauten Scherzen, während nackte, staubige Gespenster lachend in der Luft hängen oder sich auf Uhrzeigern und Satellitenschüsseln niederlassen. Auch sie sehen aus wie Bauarbeiter und schätzen ähnlich schlichte "practical jokes" wie ihre lebenden Kollegen.
Am Abend schließlich feiern die Chilenen ein Familienfest auf ihrem glühheißen Dach am leeren Swimmingpool. Aber bis es soweit ist, werden die von gespenstischer männlicher Nacktheit beunruhigten Träume der 15-jährigen Tochter eingeblendet, verwoben mit überkandidelten Abhandlungen über Architektur und deren soziologische Funktionen, werden die Seltsamkeiten eines Supermarkts aus der Sicht eines pickligen Halbwüchsigen ausgebreitet, Frauengespräche über wahre Männer geführt, Kleider gewaschen und argentinische Klischeevorstellungen von Chilenen (und chilenische von Argentiniern) gepflegt. Und es wird viel getrunken. Am Schluss reichen noch ein paar kurze Sätze, um vom Leben zum Tod und wieder zurückzugelangen.
Keine Schublade passt für dieses wunderbar verrückte Buch, das allen seinen Figuren großen Respekt und viel Neugier schenkt, ebenso allen Schauplätzen, Mahlzeiten und Tätigkeiten. Aira zeigt sich hier wie so oft als literarischer Anarchist, der auf Organisation und Hierarchie pfeift, und das Banale zur großen Kunst erhebt.
Besprochen von Katharina Döbler
César Aira: Gespenster. Roman
Aus dem Spanischen von Klaus Laabs
Ullstein Verlag, Berlin 2010
240 Seiten, 20,80 Euro