Wäre ein anderer Frieden möglich gewesen?
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Um nicht weniger als die Neuordnung Europas und der Welt ging es bei den Friedensverhandlungen 1918/1919 in Paris. Denn die alte Ordnung war mit dem Krieg zusammengebrochen. Eine gigantische Aufgabe, deren Dimension die Beteiligten kaum absehen konnten - mit Folgen bis heute.
Brest, Freitag, 13. Dezember 1918.
"In der bretonischen Hafenstadt erwartete man den amerikanischen Präsidenten. Die Menschen trugen Festtagskleidung, viele die traditionelle Tracht der Bretagne, die Kinder hatten schulfrei und zogen in Gruppen singend durch die Straßen.
Am Bahnhof trafen mehrere Sonderzüge aus Paris ein, denen französische Minister, Abgeordnete, Senatoren, hohe Offiziere entstiegen. Im Hafen nahmen Matrosen und Soldaten Aufstellung."
So beschreibt der Historiker Eckart Conze die Ankunft des amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson in Europa zu den Verhandlungen eines Friedens nach dem verheerenden Weltkrieg, der vier qualvolle Jahre lang vor allem in Europa, aber keineswegs nur hier getobt hatte.
Der Kampf um den richtigen Frieden
Der französische Außenminister Stéphen Pichon begrüßte den amerikanischen Präsidenten mit den Worten: "Wir sind so dankbar, dass Sie herübergekommen sind, um uns den richtigen Frieden zu bringen."
Den richtigen Frieden…
"Er ist hoffnungslos überschätzt worden", sagt Eckart Conze. "Er wird von allen Beteiligten ja als Lichtgestalt, geradezu messiasartig, in Europa, in Deutschland, aber auch außerhalb Europas wie ein Heiliger verehrt.
Der Kampf um den richtigen Frieden wird in Paris ausgefochten - Versailles...
"Ich würde ja insgesamt eher von den Pariser Friedensverträgen sprechen", sagt die Historikerin Birte Förster. Sie hat ein Buch über das Jahr 1919 geschrieben. Untertitel: "Europa erfindet sich neu."
"Versailles steht dafür, dass Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg seinen Friedensvertrag dort geschlossen hat, in einem der Pariser Vororte. Die Friedensverhandlungen fanden in verschiedenen Vororten statt, und der deutsche wird abgeschlossen in Versailles."
Friedensverhandlungen – keine Sache für Frauen
Birte Förster lenkt die Aufmerksamkeit auf einen Aspekt, der in der herkömmlichen Historiografie keine Rolle gespielt hat: Männer haben die Welt in den Krieg geführt – sind sie die richtigen, um die Welt aus dem Krieg herauszuführen?
"Die Internationale Frauenwahlrechtsbewegung schickt Delegierte nach Paris, übrigens nur Delegierte aus den Siegerstaaten, denn nur die durften nach Paris reisen, und die versuchen da, Lobbying zu betreiben. Die wollen, dass eine Frauenkommission eingerichtet wird. Wilson lehnt das ab, weil er sagt, das Frauenwahlrecht ist eine nationale Angelegenheit. Was er so halb befürwortet, ist, dass eine Männerkommission eingerichtet wird, die von Frauen beraten werden darf.
Aber dagegen sperren sich Clemenceau und Lloyd George, die sagen: Friedensverhandlungen, das sind keine Frauenangelegenheiten, das geht gar nicht. Und deswegen spielen Frauen bei den Friedensverhandlungen in Paris keine Rolle. Deswegen machen die eine eigene Frauenfriedenskonferenz in Zürich. Da dürfen nämlich auch die deutschen und die österreichischen Frauen hinfahren."
Nach dem unvorstellbaren Grauen dieses Krieges schöpfen die Menschen wieder Hoffnung. Der schottische Sänger-Star Harry Lauder, der im Krieg seinen einzigen Sohn verloren hat, bringt auf den Punkt, was viele denken, wenn er singt:
"Don't let us sing about war anymore. Just let us sing of love."
Lasst uns nicht mehr über den Krieg singen. Lasst uns über die Liebe singen.
Das Kriegsende bedeutet den Untergang der alten Welt
Paris ist in diesen Monaten die Hauptstadt der Welt. Die Auswirkungen dessen, was hier verhandelt wird, sind unabsehbar.
Eckart Conze: "Zum einen gibt es natürlich Wirkungen von Versailles, der Entscheidungen aus Paris 1919, die bis in unsere Gegenwart hineinreichen. Das reicht vom Nahostkonflikt, der Neuordnung des Nahen und Mittleren Ostens über die Frage der Neuordnung Ost-Mittel-Europas, Südosteuropas, wo wir gerade jetzt in diesen Tagen eine ganze Reihe von hundertjährigen Staatsgründungs-Jubiläen feiern."
Das Ende des Ersten Weltkrieges ist nicht nur das Ende eines Krieges. Es markiert auch den Untergang der alten Welt – mit dem Zerfall der Reiche, dem Abgesang der Monarchien, den Revolutionen, der Globalisierung von Wirtschaft und Politik. Unter diesen Vorzeichen eine Friedensordnung zu entwerfen, ist ein ungeheuer komplexes Unterfangen. Aber – alternativlos. Weil es die alte Ordnung nicht mehr gibt.
"Das reicht aber auch in den Bereich der außereuropäischen Entwicklungen, der außereuropäischen Geschichte: die ganze Frage der Imperien, des Kolonialismus, dann nach 1945 der Dekolonialisierung, also diese wirklich globalen, auch globalhistorischen Entwicklungen, die ja mitnichten 1919 an ihr Ende gelangt sind, sondern wirklich bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts und bis an die Schwelle der Gegenwart weiter erkennbar sind, auch als weltpolitische und internationale Probleme."
Dauerhafter Frieden nur, wenn alle gleich sind
Heerscharen von Lobbyisten und Lobbyistinnen versuchen, auf Diskussionen und Entscheidungen Einfluss zu nehmen – ahnen doch alle, dass hier eine wirkliche Neuordnung zur Debatte steht, Europas und der Welt.
"Die Frauen verfassen verschiedene Resolutionen, und die vier wichtigsten Vertreterinnen aus den Siegerstaaten fahren nach Paris, um das Wilson persönlich zu überreichen", so Birte Förster. "Aber im Grunde hat das in Paris keinen Widerhall. Man muss bei dieser pazifistischen Bewegung, die ja auch – das ist ja auch ganz ungewöhnlich, die hat ganz normal eine Afroamerikanerin, nämlich Mary Church Terrell, als Delegierte, die dort in einer Rede ganz deutlich sagt: Wir können dauerhaften Frieden auch nur dann erreichen, wenn wir den Rassismus überwinden, und appelliert an alle Mütter, ihre Kinder so zu erziehen, dass alle Menschen gleich sind.
Im Grunde bereiten die das vor, was 1948 die Erklärung der Menschenrechte der UNO wird. Ein junger 28-jähriger vietnamesischen Kellner aus Paris schreibt einen Brief an Wilson und bittet darum, dass nun für Vietnam auch die vierzehn Punkte gelten müssen und auch das Selbstbestimmungsrecht der Völker. Und das ist der, der dann später unter dem Namen Ho Chi Minh weltberühmt wird."
Bereits im Januar 1918 hatte Präsident Wilson in den viel zitierten 14 Punkten seine Idee vom Frieden in Europa und in der Welt dargelegt.
Wilsons 14-Punkte-Programm enthielt unter anderem Forderungen nach der Abschaffung der Geheimdiplomatie, der Freiheit der Meere, nach gleichen Handelsbedingungen für alle Staaten, Rüstungsbeschränkungen und die Idee eines Selbstbestimmungsrechts der Völker.
"Das er ja nie präziser definiert hat: daraus resultiert zum einen natürlich die Attraktivität dieses Konzepts, dieser Vorstellung, zum anderen dann aber auch die Problematik, 1919 auf der Grundlage dieser Vorstellung des Selbstbestimmungsrechts eine Ordnung zu schaffen", sagt Eckart Conze. "Was meint denn dieses Selbstbestimmungsrecht? Ist es das Selbstbestimmungsrecht ethnischer Gruppen? Ist es das Selbstbestimmungsrecht politischer Gemeinschaften, vom Bürger her, vom einzelnen Staatsbürger herkommend? Ist es ein territoriales Konzept? Das ist ja völlig undefiniert. Und auch aus den Versuchen, dieses Konzept Selbstbestimmung zu definieren, resultieren natürlich in Paris selbst aber auch weltweit, Konflikte, die sich dann ja weit in die Zwischenkriegszeit hinein ziehen."
"Der Völkerbund wird das schon richten"
Auch die Idee eines Völkerbunds ist schon in Wilsons 14 Punkten enthalten.
"Das setzt er auch an die Spitze der amerikanischen Verhandlungsziele, das wird mit großer Priorität in den erste Konferenzwochen behandelt. Im Übrigen auch, weil Wilson schon sieht und auch schon ahnt, man wird in den anderen Fragen nur zu unbefriedigenden Ergebnissen kommen. Und immer wieder ist seine Idee und sein ceterum censeo, der Völkerbund wird das schon richten."
Über 10.000 Menschen sind zur Konferenz nach Paris gereist: Staatsoberhäupter, Regierungschefs, Minister, Wirtschaftsexperten, Völkerrechtler, nicht zu vergessen die Kartografen. Dazu unzählige Diplomaten, Abgesandte aus den 27 Ländern, mit denen sich das deutsche Kaiserreich und seine Verbündeten, die k.u.k. Monarchie Österreich-Ungarn und das Osmanische Reich, noch vor wenigen Monaten in einem erbitterten Krieg befunden hatten.
Es tagen 58 Ausschüsse. Allein der Viererrat, bestehend aus den Verhandlungsführern Amerikas, Frankreichs, Englands und Italiens, trifft sich über hundert Mal – wobei sich der französische Ministerpräsident Clemenceau und der amerikanische Präsident in herzlicher gegenseitiger Abneigung verbunden sind. Clemenceau lästert:
"Wilson ödet mich an mit seinen 14 Punkten, selbst der Allmächtige hat nur zehn."
Eckart Conze: "Die ganze Komplexität, das wird den Teilnehmern erst sukzessive bewusst, wie man dieser Dinge überhaupt Herr werden kann. Und am Ende eben nicht Herr wird. Es geht ja um nicht mehr und nicht weniger als um die Neuordnung der Welt tatsächlich, und das innerhalb weniger Wochen oder Monate. Eine komplette Überforderung… Also, da ist schon die erste Illusion: die Idee, man könne innerhalb weniger Wochen, weniger Monate derart komplexe internationale, globale Fragen regeln, dauerhaft regeln, das ist wirklich die allererste Illusion, die enttäuscht wird schon nach relativ kurzer Zeit."
Die große Illusion
Eckart Conze hat seinem Buch "Versailles 1919 und die Neuordnung der Welt" einen Titel vorangestellt, den er einem legendären Meisterwerk der Kinogeschichte entlehnt hat: "Die große Illusion".
Jean Renoirs Film "Die große Illusion" spielt im Ersten Weltkrieg. Gedreht wurde er in einigem Abstand zu den Ereignissen. Er wurde bei den Filmfestspielen von Venedig 1937 ausgezeichnet und in jenem Jahr für den Oscar als bester Film vorgeschlagen.
Als Die große Illusion 1937 in die Kinos kommt, zeichnet sich schon ab, dass der Friede von Paris nicht halten wird:
"Es sind sozusagen mehrfache, multiple Illusionen und deren Desillusionierungen: der Versuch, der gescheiterte Versuch, aus divergierenden nationalen Interessen eine internationale Ordnung zu schaffen. Das misslingt. Und es misslingt auch der Versuch dann, auf der Basis dessen, was man erreicht hat, so prekär es gewesen sein mag, im weiteren Verlauf der 20er-Jahre diese stabile internationale Ordnung zu schaffen. Das ist die nächste Ebene von Illusion und Desillusionierung.
Und hinzu treten schließlich diese Risiken, diese enormen Erwartungen aus den Gesellschaften, die dann doch ganz anderes als 1815 beim Wiener Kongress, als moderne Massengesellschaften mit sozusagen am Verhandlungstisch sitzen und natürlich auch das Handeln der Politiker beeinflussen in einer ganz anderen Form auch von Medialität, von medialer Beobachtung, auch Versuchen, ganz modern eigentlich, Medien zu steuern. – Informationen, die durchgestochen werden, Fake news, die verbreitet werden, das sind ja alles ganz neue, für die damalige Zeit auch ungewohnte Dimensionen dieses Friedensschlusses."
Auch in dieser Hinsicht sind die Friedensverhandlungen von Paris der Aufbruch in eine neue welthistorische Ära.
Mit 15 km/h nach Paris
Die Deutschen sind zu den Gesprächen nicht geladen. Am Ende wird der Versailler Vertrag ein Kompromissfriede sein. Aber nicht etwa, wie zu erwarten gewesen wäre, ein Kompromiss zwischen den Siegermächten und dem besiegten Deutschen Reich.
"Es war ein Kompromissfrieden, ein Kompromiss eben nicht zwischen Siegern und Besiegten, sondern ein Kompromiss mit allen Widersprüchen und Inkonsistenzen zwischen den Alliierten. Das ist ja auch einer der Gründe, warum die Deutschen überhaupt nicht dazu gebeten werden, weil man genau weiß auf alliierter Seite, man hat so viele Probleme und Konflikte und Spannungen im eigenen Lager, die Deutschen werden das gnadenlos ausnutzen, werden versuchen, die alliierte Front zu spalten, um für sich bessere Bedingungen zu erzielen. Auch das ist ein Grund, warum man sie gar nicht zu mündlichen Verhandlungen nach Paris bittet, sondern sie eben dann zitiert im Mai 1919 zur Entgegennahme der Friedensbedingungen."
Das Tempo des Sonderzugs, mit dem die deutsche Delegation nach Paris reist, wird hinter der Grenze auf 15 Stundenkilometer gedrosselt. Victor Schiff, sozialdemokratischer Journalist, ist Mitglied der Delegation. Er notiert über die quälend langsame Fahrt:
"Tergnier, Chauny, Noyon - überall dasselbe Bild des Schreckens: keine Häuser, nur notdürftige, nach dem Waffenstillstand errichtete Wellblechbaracken... Und im Übrigen: eine tiefaufgewühlte Erde, keine Bäume, keine Äcker, nur ein Granattrichter neben dem anderen – und Steine, Steine, Steine."
Mit dieser Inszenierung der Anreise will man den Deutschen vorführen, was sie angerichtet haben – und es beginnt eine Serie gezielter Demütigungen der deutschen Delegation, zu der auch die Wahl des Spiegelsaals von Versailles als Ort der Verkündung des Vertrags gehört – eben jenes Saals, in dem 1871 jenes Deutsche Reich gegründet worden war, dessen Vernichtung sich einige der an den Verhandlungen Beteiligten wünschen, allen voran der französische Ministerpräsident.
Keynes' vernichtendes Urteil über den Versailler Vertrag
Der Wirtschaftsprofessor John Maynard Keynes ist Mitglied der britischen Delegation. Sein Urteil über den Friedensvertrag, der künftig mit der Chiffre Versailles belegt sein würde, fällt vernichtend aus:
"Der Friedensvertrag enthält keine Bestimmungen zur wirtschaftlichen Wiederherstellung Europas, nichts, um die geschlagenen Mittelmächte wieder zu guten Nachbarn zu machen, nichts, um die neuen Staaten Europas zu festigen, nichts, um Russland zu retten. (…) Über die Ordnung der zerrütteten Finanzen Frankreichs und Italiens oder den Ausgleich zwischen den Systemen der alten und der neuen Welt konnte man sich in Paris nicht verständigen. Der Rat der Vier schenkte diesen Fragen keine Aufmerksamkeit, da er mit anderen beschäftigt war – Clemenceau, das Wirtschaftsleben seiner Feinde zu vernichten, Lloyd George, ein Geschäft zu machen und etwas nach Hause zu bringen, was wenigstens eine Woche lang sich sehen lassen konnte, der Präsident, nur das Gerechte und Rechte zu tun."
Schließlich kommt Keynes auf den entscheidenden, bald alles überstrahlenden – besser muss man wohl sagen, den alles überdeckenden und schließlich verdunkelnden Punkt dieses Friedens:
"Wiedergutmachung war das Hauptinteresse auf wirtschaftlichem Gebiet, und sie behandelten sie als eine Frage der Theologie, der Politik, der Wahltaktik, kurz, von jedem anderen Gesichtspunkt als dem der wirtschaftlichen Zukunft der Staaten, deren Schicksal in ihrer Hand lag."
Keynes schrieb dies, wohlgemerkt, noch im Jahr 1919, in einer Schrift mit dem Titel "Die wirtschaftlichen Folgen des Vertrags von Versailles" – im Jahr 2014 auf Deutsch neu herausgegeben unter dem Titel "Krieg und Frieden".
Birte Förster: "Als die Friedensbedingungen bekannt geworden sind, von denen sehr wenig nach außen gedrungen ist vor Bekanntgabe dieser Bedingungen, war die deutsche Öffentlichkeit sehr schockiert, und zwar über alle Parteigrenzen hinweg."
Die Regierung Scheidemann tritt zurück mit der Bemerkung: "Welche Hand müsste nicht verdorren, die die Unterschrift unter diesen Vertrag setzt!"
Fritz Fischer - Christopher Clark: zwei Deutungen des Kriegsausbruchs
Vor allem mit drei Punkten hatte man in dieser Form nicht gerechnet: mit den Gebietsabtretungen, den Reparationsforderungen und mit Paragraph 231, in dem es heißt:
"Die alliierten und assoziierten Regierungen erklären, und Deutschland erkennt an, daß Deutschland und seine Verbündeten als Urheber für alle Verluste und Schäden verantwortlich sind, die die alliierten und assoziierten Regierungen und ihre Staatsangehörigen infolge des Krieges, der ihnen durch den Angriff Deutschlands und seiner Verbündeten aufgezwungen wurde, erlitten haben."
"Klar hängt die Beurteilung des Friedens sehr stark ab auch von dem Urteil über den Beginn des Krieges", sagt Eckart Conze. Er geht auf zwei der einflussreichsten Werke in der Wahrnehmungsgeschichte des Ersten Weltkriegs ein:
Fritz Fischer, Griff nach der Weltmacht. Die Kriegszielpolitik des kaiserlichen Deutschland 1914/1918, erschienen 1961. Und: Christopher Clark, Die Schlafwandler. Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog, erschienen 2013.
"Wenn man eher Fritz Fischer folgt mit seinen Thesen, auch einer aggressiven Politik des Kaiserreichs und einer doch deutlichen Verantwortung des Kaiserreichs, man muss nicht unbedingt von Schuld sprechen, aber doch einer deutlichen, einer signifikanten Verantwortung des Kaiserreichs für den Krieg, dann wird in diesem Licht natürlich auch das Urteil über Versailles anders ausfallen. Wenn man eher Christopher Clark folgt oder bestimmten Interpreten auch Clarks, das war ja nun gar nicht unbedingt Clarks entscheidende Absicht, und sagt, dieser Kriegsbeginn 1914 ist eher das Ergebnis eines systemischen Versagens ohne präzise Verantwortlichkeiten, dann fällt natürlich in diesem Licht auch das Urteil über Versailles anders aus."
Mit dem Versailler Vertrag war niemand zufrieden
"Vernichtungsfrieden", nennt – nein, nicht einer der Feinde der Weimarer Republik den Vertrag von Versailles, sondern: Kurt Tucholsky.
"Diese Gebietsabtretungen sind durchaus üblich, und auch, dass man in Versailles tagt, ist vielleicht angesichts der Tatsache, dass das deutsche Kaiserreich 1871 in Versailles ausgerufen wurde, nicht so arg verwunderlich", so Birte Förster. "Was ganz neu ist, ist der Umfang der Reparationszahlungen, und da tun sich dann Lloyd George und Clemenceau zusammen, weil die eben versuchen, die ganzen Kriegskosten abzuwälzen auf das Deutsche Reich. Und die umfassen jetzt eben nicht nur die Kriegskosten, die man kannte, auch das ist eigentlich üblich, Reparationszahlungen sind üblich, aber die umfassen jetzt eben Dinge wie Invalidenvorsorge, die Kriegswitwenfürsorge und so fort. Und das ist neu. Und das ist ja auch etwas, was von sehr vielen Teilnehmern der Konferenz kritisiert wird, allen vorweg John Maynard Keynes."
"Es gibt ja keine beteiligte Partei, weder auf der Seite der Sieger noch auf der Seite der Besiegten, die nach dem Abschluss dieser Verträge in irgendeiner Form zufrieden ist mit diesem Ergebnis", sagt Eckart Conze. "Die Tinte ist noch nicht trocken, und schon beginnt im Grunde die Kritik. John Maynard Keynes ist ja nur das prominenteste Beispiel."
Birte Förster: "Die Frauen kritisieren den Versailler Vertrag sehr scharf, und zwar nicht, weil ihnen Deutschland so wahnsinnig leid tut, sondern weil sie sagen: So lässt sich Friede dauerhaft nicht garantieren. Die Gefahr von reaktionären Gegenbewegungen, die durch diesen Frieden geschaffen ist, ist viel zu groß."
Frauen überwinden die Gräben
Es dauert bis Mai 1920, bis die Frauenfriedenskonferenz in Zürich zustande kommt:
"Lutz Döfer attestiert den Pariser Friedensverträgen, dass die mentale Abrüstung nicht gelungen ist. Und das ist etwas, was den Frauen gelingt. Die französischen Frauenrechtlerinnen schreiben einen offenen Brief an die deutschen Frauen und heißen sie willkommen auf der Konferenz, und es gibt ganz viele Metaphern wie: Wir reichen euch die Hand und so weiter.
Als die spätere Präsidentschaftskandidatin von 1946 ankommt, da unterbricht Jane Adams, eine der bekanntesten Frauenrechtlerinnen zu diesem Zeitpunkt, 1931 Friedensnobelpreis, die unterbricht die Konferenz, und Lisa Gustava Heymann, Frauenrechtlerin aus Deutschland, begrüßt sie mit einem Strauß Blumen, und die nehmen sich in den Arm. Und das ist so eine ganz starke Versöhnungsgeste, die diese Konferenz prägt. Die auch Jane Adams direkt in ihren Vorwort schon deutlich macht: Wir wollen hier diese Gräben überwinden und wir wollen gemeinsam trauern."
Birte Förster hat eine Erklärung, warum den Frauen in Zürich diese Überwindung der Gräben gelingt, den Männern in Paris dagegen nicht:
"Ich denke, die Männer in Paris, die hätten nicht sagen können: Wir wollen jetzt gemeinsam trauern, weil das überhaupt nicht den Geschlechtervorstellungen entsprochen hätte."
Wäre ein anderer Frieden möglich gewesen?
Am 23. Juli 1919 gibt der sozialdemokratische Reichsministerpräsident Gustav Bauer - die Amtsbezeichnung Reichskanzler setzt sich erst später durch - vor der Nationalversammlung eine Regierungserklärung ab:
"Meine Damen und Herren! Im Namen der Reichsregierung habe ich Ihnen folgende Mitteilungen zu machen. Die Regierung der deutschen Republik ist bereit, den Friedensvertrag zu unterzeichnen, ohne jedoch damit anzuerkennen, dass das deutsche Volk der Urheber des Krieges sei. Darauf ist dem Gesandten am späten Abend eine ablehnende Antwort zugegangen. Die Alliierten lehnen jede Modifikation und jeden Vorbehalt ab und verlangen unveränderte Annahme des Friedensdiktats.
Damit, meine Damen und Herren, ist die Lage in zwölfter Stunde von Grund aus verändert. Und damit stehen wir unrettbar vor der ungeheuren Frage: ablehnen oder bedingungslos unterzeichnen? Hier wird ein besiegtes Volk an Leib und Seele vergewaltigt wie kein Volk je zuvor."
Birte Förster: "Die Abstimmung über den Versailler Vertrag, das ist der erste Moment, wo sich die Abgeordneten mit dem Ersten Weltkrieg und dem Verlauf des Ersten Weltkriegs und auch dem ständigen Ablehnen von Friedensinitiativen auseinandersetzen. Und dann gibt es einen ganz berührenden Moment, wo Erzberger eine Rede hält und sagt: Wir hätten schon 1917 Frieden schließen können.
Und da sagt ein Abgeordneter in die Stille hinein: Mein Sohn ist danach gestorben. Und viele dieser Abgeordneten – Ebert hat selbst zwei Söhne verloren im Ersten Weltkrieg –, da merkt man, da ist ganz viel in Bewegung, und es gibt dann diesen Vernunftentschluss, diesen Frieden zu unterschreiben, damit man auch weitergehen kann. Und vielen ist es auch gelungen, davon weiterzugehen. Natürlich ist es schwer gewesen. Die letzten Zahlungen sind 2010, glaube ich, gelaufen."
Eckart Conze: "Ich bin nicht sicher, ob man 1919, so dicht am Krieg und so unmittelbar nach dem Kriegsende, ob man in der Lage gewesen wäre, einen anderen Frieden zu schließen unter diesem Druck der immer noch durch den Krieg nicht nur noch propagandistisch aufgepeitschten Öffentlichkeiten, sondern auch unter dem Druck von Gesellschaften, die ja eine Erfahrung des Leidens, des Sterbens, des Tötens hinter sich haben, die wir um Grunde weltgeschichtlich bisher noch nie so gefunden haben. Die Frage ist: Hätte man in den Jahren danach stärker daran arbeiten können, nicht nur den Friedensvertrag weiterzuentwickeln, zu revidieren, wie es dann immer wieder hieß, mit wachsendem Abstand zum Krieg selbst?"
Birte Förster: "Natürlich ist das 1919 eine Demütigungserfahrung. Aber die hält nicht an bis 1933."
Eckart Conze: "Gerade auch auf französischer Seite, aber nicht nur auf französischer Seite, auch von britischer Seite gab es ein massives Interesse dieser symbolischen Demütigung, der symbolischen Erniedrigung. Das ist das eine… Das darf man aber nicht verwechseln mit den Inhalten des Vertrages. Die natürlich vor diesem Hintergrund in Deutschland wahrgenommen worden sind als Schandfrieden, als Schmachfrieden, als Verletzung der nationalen Ehre. Und das hat für einige Jahre zumindest die Eliten, gerade die außenpolitischen Eliten, übersehen lassen, dass dieser Frieden doch Grundlagen durchaus bot für eine Politik der Kooperation, der Verständigung, möglicherweise auch des Ausgleichs und der Versöhnung. Das wird ab '23/24 – Stresemann, Briand – durchaus deutlich."
Keine direkte Linie von Versailles zu 1933
Birte Förster: "Versailles wird dann im Laufe der zwanziger Jahre aber zu einer Chiffre für all jene, die gern die Republik destabilisieren wollen. Und die benutzen Versailles und auch Schlagworte wie Kriegsschuldlüge und natürlich die berühmte Dolchstoßlegende dafür zu sagen, der Frieden ist vollkommen ungerecht, die bösen Republikaner haben ihn unterzeichnet. Das müssen wir ändern, das muss revidiert werden. Und das ist übrigens dann auch ein Programm, mit dem Adolf Hitler aufläuft."
Eckart Conze: "Die Linie ist nicht direkt, die man ziehen kann. Das ist der entscheidende Punkt. Versailles trägt dazu bei, dass die Weimarer Republik sich nur sehr schwer und im Grunde nie richtig stabilisieren kann. Es gibt den Anti-Versailles-Konsens, der verbindet alle politischen Lager. Der reicht ja von ganz rechts bis nach ganz links. Bloß ist dieser Anti-Versailles-Konsens kein politischer Konsens, der in irgendeiner Form zur Stabilisierung der Republik oder zur Stabilisierung der Demokratie beigetragen hätte. Das ist das Problem. Im Gegenteil. Gerade auf der rechten Seite wird nun die Kritik an Versailles und der Vorwurf, diesen Frieden geschlossen zu haben, verwendet, um Republik und Republikaner, Demokratie und Demokraten zu diskreditieren. Das ist gewissermaßen die Logik, in der dann Versailles mit dem Nationalsozialismus verbunden werden kann. Also etwas komplexer als etwa: Versailles führt zu 1933 oder zum Zweiten Weltkrieg 1939. Es ist ein bisschen komplizierter."
Birte Förster: "Und dann ist nochmal die Frage, schaue ich aus dem Container des Nationalstaats und beobachte die Wirkungsgeschichte von Versailles, die eine sehr kritisch zu bewertende ist. Aber gleichzeitig haben wir auch... mit Gustav Stresemann und Aristide Briand geht es in Richtung wieder einer Annäherung in der zweiten Hälfte der 1920er-Jahre. Das heißt auch: Man kann nicht sagen, die ganze Zeit ist diese Krise da."
Eckart Conze: "Versailles ist ja auch der letztlich gescheiterte Versuch, eine multilaterale, regelbasierte institutionenbasierte internationale Ordnung zu schaffen. Das ist gescheitert. Nach 1945 versucht man das neu, mit größerem Erfolg. Aber wir befinden uns doch jetzt, spätestens seit 1990, in den letzten Jahren ganz verstärkt, in einer Phase, wo erneut der nationale Unilateralismus, die Abkehr von internationalen Regeln, von multilateralen Institutionen, auch das internationale System, die internationale Politik charakterisieren. Und im Grunde... ich will nicht sagen, wir bewegen uns wieder auf eine Versailles-Situation zu, aber in manchem ähneln die Entwicklungen unserer Gegenwart durchaus dem Versailler System, wie es sich nach 1919 dann eben entwickelt hat."