"Ein begründungsbedürftiger Akt polizeilichen Zwangs"
Das neue Asylverfahrensrecht soll die Abschiebung abgelehnter Asylbewerber erleichtern. Der Soziologe Albert Scherr hält das für menschenrechtlich problematisch und plädiert stattdessen für mehr Anreize zur freiwilligen Rückkehr.
Schnellere Anerkennungsverfahren, Sachleistungen statt Geld und eine verschärfte Abschiebungspraxis - das neue Asylverfahrensrecht bringt für die Betroffenen einiges an Verschärfungen mit sich.
Der Migrationsforscher Albert Scherr (PH Freiburg) kritisiert insbesondere die Regelungen zur Abschiebung abgelehnter Asylbewerber. Abschiebungen seien ein "sehr gravierender Einschnitt in die Lebensrealität von Menschen" und ein "Akt polizeilichen Zwangs oder polizeilicher Gewalt, der hoch begründungsbedürftig ist", sagt er. Vor allem wendet er sich dagegen, dass Abschiebungen künftig nicht mehr angekündigt würden. Dadurch könnten sich Familien auf diesen Akt nicht mehr vorbereiten. "Sie werden in einen Zustand von Unsicherheit versetzt und müssen nach Ablauf der Ausreisefrist quasi jeden Tag und jede Nacht damit rechnen, dass irgendwann die Polizei in ihre Wohnung eindringt, sie festnimmt und außer Landes verbringt."
Schnellverfahren an der Grenze wären "absurd"
Statt Abschiebung plädierte der Freiburger Soziologe für mehr Anreize zur freiwilligen Rückkehr. Eine gute Rückkehrförderung könne den Menschen Perspektiven in ihren Herkunftsländern eröffnen. Entsprechende Ansätze gebe es in der Schweiz: "Es gibt so was wie eine Rückkehrberatung, die sehr gezielt eine kleine Investitionsförderung für Kleinunternehmertum ermöglicht."
Auch von den geplanten Asyl-Schnellverfahren an der Grenze hält Scherr nichts. "Die Kriterien dafür, wer ist wirklich ein Flüchtling und wer ist kein Flüchtling, sind keineswegs so klar, wie es auf den ersten Blick aussieht." Oft stelle es sich erst nach vielen Jahren in einem Verfahren heraus, ob der Anspruch auf Asyl oder Anerkennung als Flüchtling berechtigt sei oder nicht. "Und darum ist die Idee, man könnte in Schnellverfahren an der Grenze rechtsstaatlich legitim und unter Beachtung von Menschenrechten herausfinden, wer es nun wirklich ist und wer es nicht ist, die ist absurd."
Das Interview im Wortlaut:
Ute Welty: Mit diesem heutigen Tag ändert sich einiges für Asylbewerber: Sie sollen künftig deutlich länger als bislang in Erstaufnahmeeinrichtungen bleiben, sie sollen dort, wenn möglich, nur Sachleistungen bekommen und sie sollen schneller abgeschoben werden können. Diese Regelungen sind Teil eines umfangreichen Gesetzespakets mit zahlreichen Verschärfungen im Asylrecht, das, wie gesagt, heute in Kraft tritt.
Die Bundesregierung hatte das Paket im Eiltempo durch das parlamentarische Verfahren gebracht, denn Eile scheint geboten. Viele Städte und Gemeinden sind inzwischen durch die große Zahl an Flüchtlinge überfordert, es fehlt an Unterkünften, Kleidung, Perspektiven. Ob Abschiebung dazu beitragen kann, die Situation zu entspannen, darüber spreche ich jetzt mit dem Migrationsforscher Albert Scherr. Er leitet das Soziologische Institut der Pädagogischen Hochschule in Freiburg, und er ist Mitglied im Rat für Migration. Guten Morgen, Herr Scherr!
"Gravierende Eingriffe in die Lebensrealität von Menschen"
Albert Scherr: Guten Morgen!
Welty: Der Rat für Migration hat sich zur Aufgabe gemacht, die Bundesregierung in Migrationsfragen kritisch zu begleiten, und das schließt natürlich auch das Instrument der Abschiebung ein. Warum ist diese Praxis für Sie kein probates Mittel?
Scherr: Abschiebungen sind erst mal sehr gravierende Eingriffe in die Lebensrealität von Menschen, von Familien. Sie sind ein Akt polizeilichen Zwangs oder polizeilicher Gewalt, der hochbegründungsbedürftig ist, und die Frage stellt sich ja auch, Abschiebung wohin. Wenn Menschen mit polizeilichem Zwang in das Elend zurückgebracht werden, aus dem sie gekommen sind, muss man sich fragen, ist das ein legitimes und vor allem ein humanitär akzeptables Instrument.
Welty: Fragen muss man sich aber auch, ob es nicht eine klare Unterscheidung geben muss zwischen denen, die bleiben dürfen und denen, die eben die Voraussetzungen für Asyl nicht erfüllen, und muss diese Unterscheidung nicht eben auch Konsequenzen haben?
Scherr: Das Problem liegt in dem Wort eine klare Unterscheidung: Dass es eine Unterscheidung geben kann und muss zwischen denen, die aufgenommen werden müssen und denen, die nicht aufgenommen werden können, das ist unstrittig. Bloß in den konkreten Einzelfällen – und wir reden ja immer über konkrete Einzelfälle –, die Kriterien dafür, der ist nun wirklich ein Flüchtling und der ist kein Flüchtling, sind keineswegs so klar, wie es auf dem ersten Blick aussieht. Wenn Sie mal Gerichtsverfahren sich anschauen und die Bescheide des Bundesamtes, sind das sehr, sehr komplizierte Abwägungsprozesse, und es stellt sich oft erst nach vielen Jahren in einem Verfahren heraus, war der Anspruch auf Asyl oder auf Anerkennung als Flüchtling nach der Genfer Konvention berechtigt oder nicht berechtigt. Darum ist die Idee, man könnte im Schnellverfahren an der Grenze rechtsstaatlich legitim unter Beachtung von Menschenrechten rausfinden, wer es nun wirklich ist und wer es nicht ist, die ist absurd.
Menschenrechtliche und rechtsstaatliche Prinzipien müssen gewahrt werden
Welty: Was haben die Menschen auf der anderen Seite davon, wenn sie in Deutschland nicht adäquat untergebracht und versorgt werden können, weil es einfach zu viele sind – von Integration wollen wir an dieser Stelle noch gar nicht reden?
Scherr: Ich sage Ihnen das mal am Fall von Romaflüchtlingen aus dem Westbalkan, mit denen ich viel zu tun habe – die sagen, na ja, jede Woche, in der ich meine Wohnung heizen kann und in der meine Kinder satt zu essen haben, ist allemal besser als jede Woche, in der meine Kinder hungern und ich nicht heizen kann.
Welty: Und inwieweit ist Abschiebung nicht auch ein souveräner Akt eines Landes, weil dieses Land eben durchaus das Recht haben sollte, darüber zu entscheiden, wer bleibt und wer geht?
Scherr: Ja, klar hat der Staat das Recht, da zu entscheiden, aber dann doch bitte unter Wahrung von menschenrechtlichen Prinzipien und rechtsstaatlichen Verfahrensprinzipien.
Jederzeit kann die Polizei kommen
Welty: Das genau sichert der Innenminister, der zuständige Minister Thomas de Maizière, ja zu. Er sagt, Abschiebungen sollen human und fair verlaufen.
Scherr: Aber die Frage, was ist eine humane Abschiebung, ist meistens relativ schwer zu beantworten. Ich mache es nur mal an einem Beispiel von Baden-Württemberg: Baden-Württemberg hat sich in der grün-roten Landesregierung auf eine humanitäre Flüchtlingspolitik verpflichtet und dann gesagt, zum Beispiel, das heißt, wir schieben nicht mehr nachts ab, sondern nur noch tagsüber, was ein kleiner Fortschritt ist. Im neuen Asylgesetz gibt es nun die Regelung, dass Abschiebung gar nicht mehr angekündigt werden, das heißt, Familien können sich auf diesen Akt der Abschiebung gar nicht mehr vorbereiten ...
Welty: Oder sich dem entziehen.
Scherr: Oder sich dem entziehen. Heißt aber auch, sie werden in einen Zustand von Unsicherheit versetzt und müssen nach Ablauf ihrer Ausreisefrist quasi jeden Tag und jede Nacht damit rechnen, dass irgendwann die Polizei in ihre Wohnung eindringt, sie festnimmt und außer Landes verbringt. Das Problem muss man sich klarmachen, an dem kann man nicht vorbeireden. Wenn man abschieben will, dann muss man auch klar sagen, das ist ein sehr gravierender und gewaltförmiger Eingriff in die Lebensrealität, und das dann human zu nennen, halte ich für eine Verschleierung eines Problems.
Das Bild von Sammeltransporten will niemand sehen
Welty: Tatsache ist nur, ein kleiner Teil der Menschen, die abgeschoben werden müssten, auch nach bisherigen Regelungen, werden bisher tatsächlich abgeschoben – ist also die heutige Verschärfung des Asylrechtes auch nichts weiter als eine Nebelkarte, weil sich in der Praxis gar nicht so viel ändern wird?
Scherr: Wenn man das wirklich bereit ist zu tun, was man angekündigt hat – Abschiebungen nicht anzukündigen, sehr schnell im Verfahren abzuschieben, ohne den Ausgang von Verwaltungsgerichtsverfahren abzuwarten, die Bundeswehr als Mittel der Abschiebung durchzusetzen –, dann kann man die Zahl der Abschiebungen wahrscheinlich steigern. Man könnte sie – ich sage Ihnen jetzt mal was Böses am frühen Morgen –, man könnte sie natürlich auch für den Westbalkan einfach durch Sammeltransporte mit Zügen von den Bahnhöfen aus steigern. Bloß will dann wahrscheinlich niemand das Bild aufrufen, wir treiben Roma aus den Westbalkanstaaten zusammen, packen sie in Züge und fahren sie weg.
Welty: Was ist Ihrer Meinung nach die Alternative zur Abschiebung? Lässt sich zum Beispiel ein finanzieller Anreiz setzen über den bisher genannten oder geregelten hinaus?
Scherr: Es ließen sich Anreize setzen, zum Beispiel durch eine doch gute Rückkehrförderung, den Leuten Perspektiven in ihren Herkunftsländern eröffnen. Da gibt es in der Schweiz Ansatzpunkte, die das zum Teil macht.
Vorbild Schweiz?
Welty: Wie macht die Schweiz das?
Scherr: Es gibt so was wie eine Rückkehrberatung, die sehr gezielt auch eine kleine Investitionsförderung für Kleinunternehmertum ermöglicht. Man muss aber sagen, der Punkt ist, wir reden im Augenblick über die Folgen von Problemen, die sich in den letzten 20, 30 Jahren aufgestaut haben. Die ganzen Fluchtursachen, über die wir reden, die sind ja nicht gestern und vorgestern entstanden. Das sind die Probleme der globalen Ungleichheiten, der politischen Entwicklung, die sich seit vielen, vielen Jahren aufgestaut haben. Und jetzt für ein langfristig angebahntes und mit zu verantwortendes Problem eine kurzfristige Lösung zu suchen, das kann nicht funktionieren, wenn man, wie gesagt, sich an menschenrechtliche und rechtsstaatliche Prinzipien halten will.
Welty: Das Asylrecht wird verschärft, und der Migrationsforscher Albert Scherr hält wenig davon. Ich danke für dieses Gespräch hier in Deutschlandradio Kultur!
Scherr: Gerne! Guten Morgen auch noch!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.