Verschlüsselte Botschaften

Von Evelyn Bartolmai |
Etwa 50 Tage nach Pessach wird das jüdische Erntedankfest begangen, auch Schawuot genannt. Zur Feier wird ein Gebet auf Aramäisch unter Begleitung einer besonderen Melodie gesprochen, das "Akdamut". Was sich dahinter verbirgt, erklärt unsere Autorin Evelyn Bartolmai.
"Akdamut" heißt auf Deutsch eigentlich nur "Vorwort", mit dem man begründet, warum man etwas vortragen möchte. Und die Tradition berichtet gleich von mehreren Gründen, warum der Mainzer Vorbeter Rabbi Meir Ben Jitzhak Nehorai sein Lied verfasst hat. Nach der Legende hatte einst ein Mönch die jüdischen Gemeinden des Rheinlandes mit einem tödlichen Fluch belegt, dem Tausende Menschen in Pogromen zum Opfer fielen und den er nur zurücknehmen wollte, wenn die Juden einen noch mächtigeren Zauberer aufbieten könnten. Rabbi Meir fand diesen Meister im Schattenreich bei den zehn verlorenen Stämmen, und so konnte der teuflische Herausforderer in die Knie gezwungen werden.

Eine etwas weniger mystische Erklärung beruft sich auf die historischen Fakten, und darf daher durchaus als die glaubwürdigere angesehen werden. Das Gedicht wurde während des Ersten Kreuzzuges geschrieben, den Papst Urban II. im Jahre 1095 ausgerufen hatte, um das unter islamische Herrschaft geratene Heilige Land für die Christenheit zurückzuerobern. Es war eine Zeit, in der Kirchenfanatiker ihre jüdischen Nachbarn, soweit sie sie nicht gleich töteten, oftmals zu Streitgesprächen zwangen, in denen die Juden die Vorzüge ihrer Religion darlegen und begründen sollten, warum sie sich nicht dem Christentum anschließen wollten. Meist endete auch ein solcher angeblicher Disput mit dem Tod der betreffenden Juden, denn es ging den Christen ja nicht wirklich um eine Debatte von Sachfragen, sondern einzig darum, einen Anlass zu finden, die Juden der "Gotteslästerung" im christlichen Sinne anzuklagen.

Auch Rabbi Meir, der übrigens ein Lehrer des ebenfalls im 11. Jahrhundert in Worms lebenden Raschi war, wurde zur Teilnahme an einer solchen Disputation gezwungen, und so ist seine "Akdamut", die er den Kirchenleuten dann vortrug, ein erhabener Lobpreis auf den Schöpfer der Welt, die Torah und auf alle, die sie in Ehren halten.

Ein Gedicht als Lobpreis auf den Schöpfer der Welt
Das in Aramäisch verfasste Gedicht besteht aus 90 Versen, die in besonderer Weise gebaut sind und auch dadurch bereits die unbedingte Treue des Autors zu seinem Judentum ausdrücken. Die ersten 44 Verszeilen beginnen je paarweise mit den 22 Buchstaben in der Reihenfolge des hebräischen Alphabetes, also die ersten beiden Verse mit "A", Verse drei und vier dann mit "B" und so weiter. Die Anfangsbuchstaben der weiteren 46 Verse bilden dann ein sogenanntes Akrostichon – das ist eine nicht nur in der jüdischen Literatur sehr beliebte Versform, bei der die von oben nach unten gelesenen Anfangsbuchstaben der einzelnen Verse einen weiteren Sinn ergeben. Bei der "Akdamut" ist es ein Gebet, mit dem Rabbi Meir die Gewissheit ausdrückt, dass Gott ihm die Kraft und die Fähigkeit geben werde, trotz des feindlichen Umfeldes in Treue zum Studium der Torah zu stehen und gute Werke zu tun.

Eine dritte Besonderheit der "Akdamut" ist schließlich, dass alle 90 Verse gleichermaßen auf "t-a" enden, "tav-aleph" auf Hebräisch - den letzten und den ersten Buchstaben des hebräischen Alphabets. Damit wird angedeutet, dass das Torahstudium kein Ende hat, sondern stets wieder aufs Neue beginnt.

Und so wie schon zu seiner Entstehungszeit im 11. Jahrhundert nach der schrecklichen Erfahrung des Ersten Kreuzzuges, dem auch der Sohn von Rabbi Meir zum Opfer fiel, schöpfen Juden bis heute aus diesem besonderen Lied zu Schawuot Kraft und Zuversicht, den geistigen wie physischen Anfeindungen zu widerstehen. Da eine Übersetzung zwar den Inhalt, aber nie die ganzen verschlüsselten Botschaften der "Akdamut" wiedergeben könnte, wird sie traditionell bis heute auf Aramäisch vorgetragen. Darin und auch in der ganz speziellen Melodie besteht ihr besonderer Reiz.


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